Sünden der Unwissenheit und Schwachheit

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7. Predigt vom 14. Oktober 1832

„Laßt uns darum hinzutreten mit aufrichtigem Herzen und mit der Fülle des Glaubens, unser Herz besprengt und gereinigt vom bösen Ge­wissen, unseren Leib gewaschen mit reinem Wasser“ (Hebr 10,22).

Unter den Gründen, die man für die Beobach­tung bestimmter Gebetszeiten anführen kann, gibt es einen, der sehr einleuchtend ist, aber vielleicht nicht so sorgsam bedacht und befolgt wird, wie es sein sollte. Ich meine die Notwendigkeit, der zufolge der Sünder sich von Zeit zu Zeit reinigen muß von der stets sich häufenden Schuld, die das Gewissen belastet. Wir sündigen immerfort und, obschon Christus ein für allemal gestorben ist, um uns aus unserer Sündenschuld zu erlösen, erlangen wir doch die Verzeihung nicht ein für allemal, sondern in dem Maße, wie und sooft wir um diese Gnade flehen. Durch das Gebet im Glauben wer­den wir ihrer teilhaftig, aber nur für bestimmte Zeit, nicht für immer. Eine neue Schuld entsteht und muß wieder bereut und weggewaschen wer­den. Wir können uns nicht für immer und in alle Zukunft durch einen einzigen Glaubensakt in der Gnade Gottes festigen. Es geht über Seinen Willen hinaus, wenn wir mit Ungeduld auf eine endgül­tige Begleichung harren, wo wir doch geheißen sind, nur um das tägliche Brot zu bitten. Hierin sind wir noch in der Lage der Israeliten: und obschon wir keine Opfer darbringen, noch die Waschungen nach dem Buchstaben des Gesetzes vornehmen, bedürfen wir doch der immer wieder­kehrenden Erneuerung jener Segnungen, die vor­mals durch die Mosaischen Riten zu ihrem Teil verliehen wurden. Und obwohl wir weit treff­lichere Gaben von Gott erhalten haben als die Juden, dazu in mehr geistigen Anordnungen, brauchen wir dennoch Mittel, uns ihnen zu nähern, ja andauernde Mittel, uns im Zustand der Recht­fertigung zu erhalten, in den uns erstmals die Taufe versetzt hat. Daran erinnert uns der Vor­spruch. Er wendet sich an Christen, an Wieder­geborene. Aber weit entfernt, daß die Wieder­geburt sie ein für allemal gereinigt hat, sie wer­den angehalten, ihre Gewissen immerfort mit dem Blute Christi zu besprengen, ihre Taufe gewisser­maßen zu erneuern und so fortwährend vor der Gegenwart Gottes des Allmächtigen zu erscheinen. Laßt uns nun versuchen, uns eine Wahrheit zu vergegenwärtigen, die in Worte zu kleiden we­nige von uns in der Lage sind.

1. Überdenkt zuerst unseren gegenwärtigen Zustand, wie die Heilige Schrift ihn beschreibt. Christus hat trotz Seines Sterbens nichts daran geändert. Wie es von Anfang war, so ist es geblieben; ich meine unseren tatsächlichen Zustand als Menschen. Wir haben die Natur Adams in dem gleichen Sinne, als wenn der Welt keine Erlösung geworden wäre. Gekommen ist sie zur ganzen Welt, aber die Welt ist durch sie nicht als ein Ganzes gewandelt wor­den; diese Wandlung ist nicht ein Werk, das mit Christus getan und abgeschlossen ist. Wir werden umgewandelt, ein jeder für sich. Das Menschen­geschlecht ist, was es immer war: in Schuld; – was es vor Christi Ankunft war; mit denselben üblen Leidenschaften, mit demselben sklavischen Willen. Soll die Geschichte der Erlösung wirksam sein, dann muß sie von Grund auf bei jedem Ein­zelnen von uns anheben und sich durch unser eigenes Leben hindurch ziehen. Es ist nicht ein Werk, das sich vollzogen hat Jahrhunderte vor unserer Geburt. Da wir nicht ohne unser Zutun gerettet werden sollen, kann uns das Werk eines Retters allein, und sei es auch der Gebenedeite Sohn Gottes, nichts nützen. Denn wir sind Träger verantwortlichen Handelns, wir haben einen eigenen Willen, und Christus muß in uns Gestalt gewinnen und uns aus der Dunkelheit zum Licht führen, soll Gottes huldvoller Plan, wie er sich am Kreuz erfüllte, in unserem eigenen Fall mehr sein als nur ein Name, ein mißbrauchtes, verschwen­detes Gnadengeschenk. So kann die Welt, mit den Augen Gottes betrachtet, niemals weiser oder er­leuchteter werden, als wie sie gewesen ist. Wir können nicht auf den Anstrengungen unserer Vor­fahren aufbauen. Wir haben dieselbe Natur, wie die Menschen sie immer hatten, und auch unser Anfang setzt genau dort an, wo die Menschen immer ansetzen, und wir haben unser Heil in der gleichen, langwierigen, ausdauernden Weise zu wirken.

(1.) Haben wir das vor Augen, wie bedeutungsvoll erscheint uns Christen dann das jüdische Gesetz, bedeutungsvoll in sich, ganz abgesehen von allen darin enthaltenen Beziehungen zu jenem Evan­gelium, dem es den Weg bereitete! Bis auf unsere Tage erfüllt es seinen ursprünglichen Zweck, dem Menschen das Bewußtsein seiner großen Schuld und Schwäche einzuprägen. All jene gesetzlichen, nunmehr abgeschafften Opfer und Reinigungen sind heute noch der Beweis für eine auch durch das Evangelium nicht aufgehobene Tatsache, un­sere Verderbtheit. Niemand gehe leicht über das Buch Leviticus hinweg und sage, es enthalte nur das Zeremoniell eines nationalen Gesetzes. Nie­mand studiere es lediglich mit dem Blick des Kri­tikers und begnüge sich damit, es in schön geord­netem System mit dem Evangelium in Zusammen­hang zu bringen, als ob es nur prophetisch wäre. Nein; es wendet sich an uns. Sind wir besser als die Juden? Ist unsere Natur weniger ungläubig, sinnlich oder stolz als die ihrige? Der Mensch ist doch zu allen Zeiten das gleiche Wesen, wie auch die Philosophen zugeben. Und ist dem so, dann halten uns diese peinlich genauen Gesetzeszeremonien das Bild unseres täglichen Lebens vor Augen. Es ist ein eindrucksvolles Zeugnis unserer unaufhörlichen Sündigkeit, indem es uns nahelegt, daß eine Entsühnung aller auch noch so unbedeu­tender Umstände unserer Lebensführung not­wendig ist; und daß wir unser Heil gefährden, wenn wir sorglos und gedankenlos in den Tag hineinleben und uns darauf verlassen, daß wir einmal erlöst worden sind – sei es in der Taufe – oder (wie wir meinen) zu einer bestimmten Periode der Bußfertigkeit, oder (wie wir uns wohl ein­bilden) gerade im Augenblick des Todes Christi (wie wenn damals das gesamte Menschengeschlecht in Wirklichkeit und ein für allemal begnadet und erhöht worden wäre), – oder (noch schlimmer) wenn wir freventlich daran zweifeln, daß der Mensch überhaupt dem Fluch verfallen war, und daß wir vergeblich auf die Barmherzigkeit Gottes uns verlassen, ohne Empfinden für das wahre Elend und die grenzenlose Gefahr der Sünde. Betrachtet die Zeremonie am großen Versöhnungs­tag, und ihr werdet das Maß der Sündhaftigkeit Israels und deshalb der ganzen Menschheit in den Augen Gottes erkennen. Im Hohenpriester sah man den heiligsten Menschen der ganzen Welt repräsentiert. Die Nation selber war heiliger als die übrigen Völker der Welt; aus dieser wurde ein heiliger Stamm auserwählt; aus dem heiligen Stamm eine heilige Familie und aus dieser Fa­milie eine heilige Person. Das war der Hohe­priester, der also ausgesondert wurde als der er­wählte Vertreter des ganzen Menschengeschlechtes; aber auch er durfte unter Todesgefahr dem Gnadenthron nur einmal im Jahre nahen; und auch dann nicht in seinen Prachtgewändern, und nicht ohne die Sühnopfer für sich und das Volk, deren Blut er in das Heiligtum trug. Oder betrachtet die im Gesetze vorgeschriebenen Opfer für die Sünden der Unwissenheit1 oder wegen bloßer Berührung von gesetzlich unreinen Dingen2 oder wegen leiblicher Krankheit3 und ersehet daraus, wie sündig unsere gewöhnlichen Gedanken und Werke sein müssen im Lichte die­ser äußerlichen, durch den Ritus bezeichneten Übertretungen. Nicht einmal das Dankopfer soll­ten die Israeliten ohne das reinigende Opferblut darbringen; denn unsere Verderbtheit liegt nicht bloß in dieser oder jener Handlung, sondern in unserer Natur.

(2.) Sodann kann man, wenn wir nun das jüdische Gesetz verlassen, die Beobachtung machen, dass Gott uns in der Geschichte von Adams Sündenfall ausdrücklich sagt, was mit den gesetzlichen Vor­schriften gemeint war: daß es unsere Natur selbst ist, an der die Sünde haftet. Hierin liegt die Be­deutsamkeit der Lehre von der Erbsünde. Das ist sehr demütigend und gerade deswegen die einzig wahre Einleitung zur Verkündigung des Evange­liums. Man kann die Menschen mühelos dahin bringen, einzugestehen, daß sie sündigen, d. h. daß sie Sünden begehen. Sie wissen es schon, daß sie nicht vollkommen sind, ja, daß sie nichts auf voll­endete Art tun. Aber sie wollen es sich nicht sagen lassen, daß das Geschlecht, aus dem sie stammen, verderbt ist. Selbst die Gleichgültigen zeigen hierin noch ihren Stolz. Sie glauben ihre Pflicht erfüllen zu können, nur daß sie sich dazu nicht entschließen wollen. Sie gefallen sich in dem Glauben (obschon befremdend genug, denn sie sprechen in diesem Glauben das Urteil über sich selbst), sie gefallen sich in dem Glauben, keiner Hilfe zu bedürfen. Ein Mensch muß sich schon sehr tief erniedrigt haben und hat selbst jene falsche Freiheit des Geistes verloren, die so oft, weil sie zur Tat an­treibt, der Ersatz für wahre Religiosität ist, wenn er, in Sünde lebend, ständig und hartnäckig die Auffassung vertritt, daß er eben für die Sünde geboren ist. Und viel mehr noch sind es die Be­triebsamen und Aktiven, die es gar nicht gerne sehen, wenn man ihnen einprägt, daß sie in all ihren Handlungen und Vorstellungen, mögen sie tun, was sie wollen, die Makel der Verderbtheit an sich tragen. Wir wissen, wie Menschen sich niederer Herkunft oder unehrenhafter Verwandt­schaft schämen. Diese Art von Scham ist es, die wie ein Zwang auf jedem Adamskind lastet. „Dein Urvater hat gesündigt“, dies ist die Inschrift an unserer Stirn, die selbst das Zeichen des Kreu­zes nicht so vollständig ausgewischt hat, daß keine Spur davon bliebe. Das ist unsere Schande. Aber ich will es hier anführen nicht so sehr als demü­tigenden Gedanken, sondern in der Absicht, eurem Gewissen die Notwendigkeit einzuprägen, daß ihr zu bestimmten Zeiten vor Gott erscheinet, um die ständig sich erneuernde Schuld eurer Natur zu tilgen. Wer wollte es wagen, einen Tag nach dem anderen zu verbringen ohne ernsthaftes Gebet und ohne die heilige Kommunion, wo doch jeder Tag seine eigene furchtbare Last mit sich bringt, die wie von selber mitten aus unserer Natur wächst, aber nicht abgelegt werden kann ohne überlegte und direkte Akte des Glaubens an das große Opfer, das zu ihrer Tilgung bestimmt ist?

(3.) Schauet weiterhin, meine Brüder, in eure eigene Seele und sehet zu, ob ihr nicht etwas von der in der Heiligen Schrift verkündeten Wahrheit zu erkennen vermöget, wie ich sie darzustellen versucht habe. Erinnert euch an die bösen Gedan­ken verschiedenster Art, die gleich Pfeilen in euren Geist eindringen: denn diese sind euch ein Beweis für die Befleckung und Häßlichkeit eurer Natur. Gewiß, sie gehen aus von eurem Widersacher, dem Teufel; und der Umstand allein, daß ihr sie erleiden müßt, ist in sich noch kein Beweis für eure Sündhaftigkeit, denn selbst der Sohn Gottes, euer Erlöser, hat diese Versuchungen erlitten. Aber ihr werdet es kaum leugnen können, wie willig und bereiten Herzens ihr sie annehmet; daraus ist ersichtlich, daß der Satan euch versucht durch eure Natur, nicht gegen sie. Und wiederum, mögen sie anfänglich noch so von außen kommen, macht ihr sie euch nicht zu eigen? Haltet ihr sie nicht fest? Oder schüttelt ihr sie etwa mit Unge­duld und Unwillen ab? Aber wenn ihr sie aber schlagt, antworten sie nicht doch auf das Ansinnen des Teufels, da sie für den Augenblick euer Herz entzünden und damit bezeugen, daß dessen Grund­elemente verderbt sind? Haltet ihr euch z. B. nicht im Gedanken an Reichtum und Glanz so lange auf, bis ihr schließlich nach diesen zeitlichen Din­gen Begierde traget? Laßt ihr es nicht, wenigstens für Augenblicke, geschehen, daß ihr neidig oder unzufrieden oder zornig oder eitel oder unrein oder stolz seid? Ach, wer kann also die Verun­reinigung und Häßlichkeit auch nur eines einzigen Tages abschätzen? Eine Verunreinigung, die aus der bloßen Berührung mit dem toten Leib der Sünde kommt, den wir ja in der Taufe abgetan haben, an den wir aber unser Lebtag lang gekettet sind und der für den Feind der Ansatzpunkt ist für seinen Angriff auf uns? Auf uns liegt die Fäulnis des Todes, und wahrlich, wir werden er­stickt von dem uns umhüllenden Pesthauch, wenn Gott uns nicht tagtäglich in Seiner Gnade reinigt.

2. Denket ferner nach über die Gewohnheit zur Sünde, die wir, ehe wir uns Gott zuwandten, noch zu unserer verderbten Natur hinzufügten. Hier liegt eine weitere Quelle beständiger Verunreini­gung. Anstatt unseren verdorbenen Neigungen zu widerstehen, haben wir sie vielleicht jahrelang ge­währen lassen; und fürwahr, sie haben ihre Todes­frucht gezeitigt. Da steigerte sich die Adamssünde und vermehrte sich in uns; es gab eine Wandlung, aber zum Bösen, nicht zum Guten; und die neugewonnene Natur wurde, weit entfernt davon, geistig zu sein, zwiefach mehr das Kind der Hölle, als jene, die wir von Geburt aus haben. Und als wir uns dann endlich zu einer besseren Lebens­führung zurückfanden, welch eine verworrene Aufgabe lag vor uns, andere Menschen aus uns zu machen! Und haben wir uns darum auch noch so lange gemüht, wie viel unbewußtes, unvermeid­bares Sündigen – Frucht vergangener Fehltritte – treibt aus unseren Herzen Tag für Tag empor, unter dem Druck unseres Denkens und Handelns! So wirkt sich in uns als Folge der Jugendsünden die Macht des Fleisches gegen uns aus gleichsam als ein zweites schöpferisches Prinzip des Bösen, das der List des Teufels zu Hilfe kommt; der Teufel von außen und unser Herz von innen, nicht rein passiv und durch Versuchung entzündet, son­dern Böses sinnend und mit vernehmbarer Stimme Böses gegen Gott redend, ob wir wollen oder nicht. So erheben sich die vergangenen Jahre gegen uns in den gegenwärtigen Verfehlungen; grobe Widersprüche offenbaren sich in unserem Charakter. Wir haben es sehr nötig, Gott ständig um Verzeihung zu bitten wegen unserer vergan­genen Sünden, die trotz unserer Reue weiterleben und sich mit Heftigkeit auswirken gegen unser besseres Erkennen, das nur schwach unterstützt wird durch das neuere Prinzip des Glaubens, mit dessen Hilfe wir gegen sie kämpfen.

3. Gedenket ferner, wieviel Sünden selbst unser Gehorsam mit sich bringt, ich möchte sagen, mit Naturnotwendigkeit, darin nämlich, weil uns der höhere Grad eines kraftvollen und hellsichtigen Glaubens fehlt, durch den wir den Weg des Le­bens sorgfältig zu unterscheiden und genau zu be­folgen vermöchten. Das Beispiel des Judenvolkes soll meinen Gedanken veranschaulichen. Es gab gewisse Dinge in dem vollkommenen Gesetze Got­tes, die ihnen zur Annahme nicht aufgezwungen wurden, da vorauszusehen war, daß sie gar nicht in der Lage wären, sie so aufzunehmen, wie sie wirklich hätten aufgenommen werden sollen, noch sie praktisch sich zum Bewußtsein zu bringen und sie dann in aller Einfachheit und Wahrheit zu befolgen. Wir Christen mit dem gleichen verkehr­ten Herzen wie die Juden und größtenteils gleich ungelenk im heiligen Dienst sind trotzdem im Be­sitze eines vollkommenen Gesetzes. Wir sind ge­halten, alle die Vorschriften des Neuen Testa­mentes anzunehmen und zu befolgen, obschon selbstverständlich viele davon in der Tat weit über das Begreifen der meisten von uns hinaus­gehen. Ich spreche jetzt von der Tatsache, wie sie liegt, ohne abzuschweifen und zu fragen, warum und unter welchen Umständen Gott sein Ver­fahren mit den Menschen zu ändern geruhte. Aber so ist es; der Diener Christi muß seinem sündigen Volke die Lehre des vollkommenen Gehorsams vortragen und weiß nicht, was er beginnen und wie er auf jeglicher Vorschrift bestehen soll, um sie gegen Mißverständnis und Mißbrauch zu sichern. Er sieht, wie manche aus niedrigen Be­weggründen und Gesichtspunkten handeln, und findet es unmöglich, ihren Geist sofort emporzu­heben, auch wenn er die Wahrheit noch so klar dartut. Er merkt, daß ihre guten Handlungen auf viel bessere Art vollbracht werden könnten. Zahl­lose kleine Umstände ihrer Handlungsweise miß­fallen ihm, da sie Glaubensarmut, Aberglauben und erworbene fleischliche Auffassung verraten. Er muß sie sich selbst überlassen in der Hoffnung, daß sie sich im allgemeinen bessern und ihrer gegenwärtigen Schwäche entwachsen werden, und ist oft in Verlegenheit, ob er sie loben oder tadeln soll. So steht es mit uns allen: Dienern wie Volk. So steht es mit den vollkommensten Christen, so­lange sie im Leibe leben, und Gott weiß darum. Welche Quelle beständiger Befleckung zeigt sich hier, nicht nur die Unterlassung «iner zusätzlichen Gehorsamstat, sondern die Ursache einer direkten Beleidigung in den Augen der Ewigen Vollkom­menheit. Wem mißfällt es nicht, daß ein Mensch ein Werk beginnen soll, das über seine Kräfte geht? Aber kann sich einer für die Erbärmlichkeit seiner Verrichtung entschuldigen, darum, daß das Werk über seine Kräfte hinausgeht? In dieser Lage befinden wir uns; wir sind verpflichtet, Gott mit einem vollkommenen Herzen zu dienen; ein erhabenes Werk! Ein Werk jedoch, zu dem uns die Sünden unfähig machen. Und versuchen wir es – ein notwendiger Versuch -, wie kläglich muß es in den Augen der Engel erscheinen! Wie erbärmlich unsere Selbstenthüllung! Und dazu, wie sündhaft – denn, hätten wir Gott geliebt aus ganzem Herzen und Ihm von Jugend auf gedient, es stünde um uns nicht so, wie es wirklich ist. So wird gerade unsere Berufung als Geschöpfe und wiederum als auserwählte Kinder Gottes und als Vollbürger des Evangeliums durch unsere Sündig­keit uns zur Schmach, denn jene stellt uns vor Pflichten und heißt uns Vorrechte gebrauchen, die zu hoch für uns sind. Wir versuchen große Dinge mit der Sicherheit, daß wir versagen, und doch mit der Notwendigkeit, sie zu wagen. So geschieht es, daß wir, indem wir den Versuch machen, be­ständig Verzeihung brauchen infolge des Ver­sagens beim Versuch. Wir stehen vor Gott, wie die Israeliten beim Passah des Ezechias, der Gott nach dem Gesetze zu dienen verlangte, aber in­folge Mangels an Erkenntnis es nicht genau zu tun vermochte; auch wir können, wie Ezechias es an deren Stelle tat, durch unseren Hohenpriester das Opfer unserer Aufrichtigkeit und Ernsthaftig­keit darbringen an Stelle eines gewissenhaften Gehorsams. „Der gute Herr wird gnädig sein allen, die von ganzem Herzen den Herrn, den Gott ihrer Väter suchen, darum, daß sie nicht genug sich geheiligt haben nach der Reinigungsordnung des Heiligtums“ (2 Chr 30, 18. 19), näm­lich nicht die volle Pflicht ihrer Berufung erfüllt haben.

Und wenn das die Unvollkommenheiten selbst des gefestigten Christen in seinem gewöhnlichen Zu­stand sind, wie groß müssen erst die eines reuigen Sünders sein, der den Dienst Gottes erst seit kur­zem begonnen hat! Oder Jugendlicher, die noch unter dem Einfluß ungezügelter Phantasie oder sonst übermächtiger Leidenschaft stehen? Oder eines schwerbedrückten Geistes, den Satan mit den Banden körperlichen Leidens bindet oder in dem Gewirr von Zweifel und Unentschiedenheit hin-und herwirft. Ach, wie ist deren Gewissen befleckt mit den Gedanken, ja mit den Worten einer jeden Stunde? Und wie unsagbar not tut es ihnen, von der üblen Last auf ihrem Herzen befreit zu wer­den, indem sie in voller Glaubenszuversicht näher zu Gott gehen und ihre Sünden wegwaschen in der Versöhnung, wie Er sie bestimmt hat! Das Gesagte, meine Brüder, ist ein Anruf an euch zuallererst zum täglichen Privatgebet. Sodann ist es ein Anruf an euch zur Teilnahme an den öffent­lichen Gottesdiensten der Kirche, nicht nur einmal in der Woche, sondern so oft ihr die Möglichkeit dazu habt; ihr wisset ja wohl, daß euer Erlöser besonders dort zugegen ist, wo zwei oder drei bei­sammen sind. Und ferner ist es ein besonderer Anruf an euch, an der Feier des Herrenmahles teilzunehmen, dem heiligen Ritus, in dem wir in Wirklichkeit und Wahrheit jenes geistliche Leben empfangen, um das wir täglich beten. Der Leib und das Blut Christi verleihen unserem täglichen Glauben und unserer Reue Kraft und Wirksam­keit. Betrachtet das Mahl des Herrn von diesem Standpunkt aus als das gegebene Mittel, die großen Segnungen zu erlangen, derer ihr bedürfet. Das tägliche Gebet des Christen hat ja seinen Ursprung und sein Endziel gerade in der Teil­nahme daran. Christus ist einmal gestorben, vor langer Zeit; aber durch den Empfang Seines Sa­kramentes erneuert ihr den Tod des Herrn; mitten in euch hinein stellt ihr jenes Opfer, das die Sün­den der Welt hinwegnahm. Seine Segnungen wer­den dadurch euer, daß ihr es unter den Gestalten von Brot und Wein genießet. Diese äußeren Zei­chen sind nur die Träger einer unsichtbaren Gnade. Ohne Nahrung erwartet ihr nie, euer leibliches Leben aufrecht erhalten zu können; seid ebenso vernünftig im geistlichen, wie ihr es im zeitlichen seid. Betrachtet die konsekrierten Gestalten als unentbehrlich, um euch mit Gottes Hilfe ständig zu heiligen. Tretet hinzu als zum Heilmittel eurer Seelen. Warum sollte es befremdender sein, daß Gott sich derselben Hilfsmittel bediente für das Wohl der Seele, derer Er sich für die Erhaltung des leiblichen Lebens bediente? – und das hat Er sicher getan. Unglaube ist es, zu denken, es sei für das Seelenheil gleichgültig, ob einer kommuniziert oder nicht. Und es ist schlimmer als Unglaube, es ist äußerste Stumpfheit und Verstocktheit, den Todeszustand und die Verderbtheit nicht zu er­kennen, in die ihr ständig zurückfallet, sofern ihr euch selbst überlassen seid. Danket vielmehr Gott, denn Er hat euch, obschon ihr Sünder seid, nicht bloß ein allgemeines und an alle Welt gerichtetes Versprechen hinterlassen, euch durch Seinen Sohn das Leben zu geben, sondern Er hat jedem ein­zelnen aus euch dieses Versprechen persönlich entgegenzunehmen gestattet und so hat Er euch die demütige Hoffnung gegeben, daß Er euch aus dieser Welt auserwählt hat für das ewige Heil. Zum Schluß: mit dem bisher Gesagten habe ich mich an echte Christen gewandt, die den engen Weg gehen und die Hoffnung auf den Himmel haben. Dies aber sind die „wenigen“. Gibt es hier wohl keine von den „vielen“, die den breiten Weg gehen und ihre von der Taufe an begangenen Sünden alle auf ihrem Haupte lasten haben? Ist es vielmehr nicht wahrscheinlich, daß in der Zu­hörerschaft hier Leute sind, die, obgleich sie unter dem Volke Gottes stehen, noch keine Verzeihung erlangt haben und – sollten sie jetzt sterben, in ihren Sünden sterben würden? Es sollen zu aller­erst jene, welche die heilige Kommunion unter­lassen, sich fragen, ob das nicht auf sie zutrifft; sie mögen überlegen, ob es unter den Zeichen, die uns Gewißheit über unseren Zustand zu geben vermögen, für einen Menschen in seinem Gewissen ein furchtbareres gibt als dieses, daß er das unter­läßt, was als gewöhnliches Mittel zu unserem Heil bestimmt ist. Das ist ein einfaches Kennzeichen, über das sich niemand einer Täuschung hingeben kann. Dann aber nehme er das Mittel einer genaueren Gewissenserforschung zu Hilfe und frage sich, ob er (wie der Vorspruch will), sich „mit einem aufrichtigen Herzen Gott nähert“, nämlich, ob nicht in ihm trotz seiner Gebete und religiösen Übungen irgendwelche versteckte, unbekämpfte Gelüste sind, die seine Frömmigkeit zu einem Hohn in den Augen Gottes machen und ihn in seiner Sünde belassen. Ob er nicht in Wahrheit gedankenlos ist und nur insoweit religiös, als er es im Urteil seiner Freunde zu sein scheint – oder gar leichtfertig und seicht in seiner Religion – ohne Wissen um die Tiefe seiner Schuld und vermessentlich auf seine Unschuld (wie er sich ein­bildet) und auf Gottes Barmherzigkeit trauend, – ob er nicht gewinnsüchtig ist und Gott nur inso­weit gehorcht, als der Dienst gegen Ihn nicht seinen Mammonsdienst stört – ob er nicht hart und übler Laune – unversöhnlich, unbarmherzig oder hochmütig-selbstsicher und vertrauensselig ist, ob er nicht das vergängliche Getriebe der Welt liebt, Verlangen trägt nach der Freundschaft der Großen und nach der Teilnahme an der vorneh­men Lebensart der Gesellschaft – oder ob er nicht einer Beschäftigung sich hingibt, die seine Kräfte bindet und ihn für den Gedanken an Gott und an einen Retter unfähig macht.

Wir wollen uns daher insgesamt Gott nahen mit dem Bekenntnis, daß wir uns selbst nicht kennen; daß unsere Schuld größer ist, als wir verstehen können, und daß wir nicht selbstvertrauend fest­stellen, vielmehr nur zaghaft hoffen können, den »rechten Glauben zu haben. Es möge uns der Um­stand trösten, daß wir immer noch im Zustand der Begnadigung sind, obgleich wir kein sicheres Unterpfand unseres Heiles haben. Laßt uns zu Ihm flehen, Er möge uns erleuchten und trösten; Er möge uns all unsere Sünden verzeihen, indem Er uns lehrt, die verborgenen zu erkennen und uns die Kraft gibt, sie zu besiegen!

Jede einzelne bewußte sündhafte Gewohnheit macht den Menschen unfähig, die Gaben des Evangeliums zu empfangen. Jeder Geisteszustand dieser Art ist ein erschreckendes Zeichen für das Vorhandensein einer ähnlich gearteten freiwilligen Sünde im Herzen; und in dem Maße, wie wir diese Symptome in unserem Leben ausfindig machen, besteht die Furcht, wir könnten verworfen werden.

John Henry Newman, Deutsche Predigten (vol 1, 7), Schwabenverlag Stuttgart 1948, pp. 94-109.