Jüdischer Eifer, ein Vorbild für Christen

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Blume Rose13. Predigt, am 8. Juni 1834

„Also müssen umkommen, Herr, alle Deine Feinde, aber die Dich lieben, müssen glänzen, wie die auf¬gehende Sonne glänzt in ihrer Pracht. Und das Land ruhte vierzig Jahre“ (Ri 5, 31, 32).

Welchen Gegensatz bilden diese Worte zu der Geschichte, die ihnen vorangeht! „Es geschah“ sagt der heilige Verfasser, „als Israel mächtig geworden war, machte es die Kanaaniter zinsbar, aber vertilgen wollte es sie nicht. Auch Ephraim vertilgte die Kanaaniter nicht, die zu Gazer wohnten … Zabulon vertilgte die Einwohner von Ketron nicht… Auch Äser vertilgte nicht die Einwohner von Akko … Auch Nephtali vertilgte die Einwohner von Bethsames nicht“ (Richt 1, 28—33). Was war die Folge? „Und die Söhne Israels taten Böses vor den Augen des Herrn und dienten den Baalen… Sie verließen den Herrn und dienten den Baalen und den Astarten. Und der Herr ergrimmte über Israel und gab sie in räuberische Hände, die sie ausraubten, und Er verkaufte sie an ihre Feinde ringsum… Wo sie hingingen, war die Hand des Herrn wider sie zu ihrem Unheil, wie der Herr gesprochen und ihnen geschworen hatte; und sie wurden hart bedrängt“ (Ri 2,11—15). Hier haben wir das Bild von Lässigkeit und Untreue, das zu Feigheit, Abfall und nationalem Niedergang führt.
Betrachtet anderseits im Gegensatz dazu die Erzählung in dem Kapitel, das mit dem Vorspruch schließt. Ephraim und Benjamin, Machir und Zabulon, Issacher und Nephtali erheben und vereinigen sich, greifen ihre Feinde an und besiegen sie; besiegen sie in der Kraft des Herrn. Ihre lange Ge¬fangenschaft blieb durch Gottes große Barmherzigkeit ohne weitere Wirkung, als sie sich zu Ihm bekehrten. Vergeblich hatten ihre Feinde sie zu Boden getreten; die Kirche Gottes hatte jene Kraft und Gnade in sich, daß sie jedesmal, wenn sie dazu überredet werden konnte, ihre Lässigkeit abzuschütteln und ihre Kräfte zu sammeln, so stark und wirksam dreinschlug, als wäre sie nie mit den grünen Weidenruten und den neuen Stricken der Phi¬lister gefesselt gewesen. So war es jetzt. “Auf, auf, Debora! Auf, auf, singe dein Lied! Erhebe dich, Barak, und mache dir Gefangene, du Sohn Abinoams“ (Ri 5, 12). Das war das begeisterte Kriegsgeschrei; und es wurde befolgt. Die Kanaaniter ließen sich dadurch verwirren und flohen; „und das Land ruhte vierzig Jahre“. Hier haben wir das Bild männlichen Gehorsams gegen Gottes Willen — eine kurze Prüfung in Drangsal und Leiden — und dann als Lohn: Friede.
Ich möchte nun an die in diesem Vorgang gegebene Lehre, die sich freilich auf einen größeren Teil des Alten Testamentes erstreckt, einige Ausführungen anknüpfen — an die Lehre, die sich an jeden von uns persönlich richtet; denn gewiß sollten wir jeden Teil der Schrift lesen unter dem Gesichtspunkt, daß er sich auf unsere eigenen, persönlichen Pflichten bezieht.
Was das Alte Testament uns besonders lehrt, ist folgendes: — Eifer ist ebenso wesentlich eine Pflicht aller vernünftigen Geschöpfe Gottes wie Gebet und Lobpreis, Glaube und Unterwerfung; und wenn dem so ist, dann besonders Pflicht der Sünder, die Er erlöst hat. Eifer besteht in einer genauen Befolgung Seiner Gebote — er besteht in Gewissenhaftigkeit, Wachsamkeit, Ernsthaftigkeit und Pünktlichkeit, die kein Rechten oder Zweifeln duldet —, er besteht in heißem Durst nach der Mehrung Sei¬ner Herrlichkeit — in Abkehr von der Befleckung mit Sünde und Sündern — in Entrüstung, ja in Ungeduld, wenn wir sehen müssen, wie Seine Ehre verhöhnt wird, — in raschem Aufhorchen, wenn Sein Name genannt wird, und in eifersüchtigem Prüfen, wie Er genannt wird — in einer hohen Zielsetzung und in einer heldenhaften Entschiedenheit, Ihm zu dienen, mag das Opfer der persönlichen Neigung noch so groß sein — in tatkräftigem Entschluß, durch alle Schwierigkeiten durchzustoßen, wären sie auch wie Berge, sobald Sein Auge oder Seine Hand uns nur den Wink gibt — in Nichtbeachtung der Verleumdung oder des Tadels oder der Verfolgung in Verzicht auf Freund und Sippe, ja (sozusagen) in Haß gegen all das, was uns von Natur teuer ist, wenn Er sagt: „Folge Mir.“ Dies sind einige Kennzeichen des Eifers. So war die Gesinnung des Moses, Phinees, Samuel, David und Elias; es ist die Gesinnung, die allen Israeliten zur Pflicht gemacht war, besonders in ihrem Verhalten gegen die gottverlassenen Völker Kanaans. Der Vor-spruch drückt diese Gesinnung in den Worten Deboras aus: „Also müssen umkommen, Herr, alle Deine Feinde; aber die Dich lieben, müssen glänzen, wie die aufgehende Sonne glänzt in ihrer Pracht.“
Man hat nun manchmal gesagt, daß die Gebote, die den Israeliten einen mühevollen und strengen Dienst auferlegten, — z.B. jene über die Einnahme und den Besitz des Gelobten Landes — nicht für uns Christen gelten. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß es nicht unsere Pflicht ist, das Schwert zu zücken und die Feinde Gottes zu töten, wie den Juden befohlen wurde. „Stecke dein Schwert an seinen Ort“ (Mt 26, 52), sagt unser Heiland zu St. Petrus. Soweit also, wenn man das mit den Wor¬ten meint, diese Gebote seien nicht für uns, soweit ist es zweifellos klar, daß sie nicht für uns gelten. Aber daraus folgt nicht, daß die Gesinnung, die sie voraussetzen und nähren, von uns nicht gefordert würde; sonst wäre wohl die jüdische Geschichte nicht mehr nützlich zur Belehrung, zur Unterweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit. Der heilige Petrus wurde nicht wegen seines Eifers getadelt, sondern weil er das Schwert zog.
Die Pflicht des Menschen, seine Vollendung und sein Glück waren sich immer gleich, er ist jetzt in seinem Wesen nicht anders, als wie er immer war; es waren ihm immer die gleichen Pflichten auf¬erlegt. Worin die Heiligkeit eines Israeliten bestand, darin besteht noch immer die Heiligkeit eines Christen, obwohl der Christ weit höhere Gnaden und Hilfsmittel zur Vollkommenheit besitzt. Die Heiligen Gottes lebten immer aus dem Glauben und wandelten auf dem Weg der Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Wahrhaftigkeit, der Selbstbeherrschung und Liebe. Es ist also unmöglich, daß alle den Israeliten auferlegten Pflichten, ihre Feinde zu vertreiben und das verheißene Land einzunehmen und zu besitzen, nicht im einen oder anderen Sinn für uns gelten sollten; denn es ist klar, daß es sich in ihrem Fall nicht um rein zufällige Werke des Gehorsams handelt, sondern daß sie darauf angelegt gewesen sind, eine gewisse innere Haltung heranzubilden. Und so ist es auch klar, daß unser Herz sein muß wie das des Moses oder David, wenn wir durch Christus gerettet werden wollen.
Das wird ganz eindeutig, wenn wir aufmerksam die jüdische Geschichte prüfen und die göttlichen Gebote, die ihr zugrunde lagen. Denn diese Gebote, die nach der Behauptung mancher Leute nicht für uns gelten, waren so zahlreich und vielfältig und wurden so oft und in so verschiedenen Zeiten wiederholt, daß sie sicher eine besondere Haltung im Herzen des gehorsamen Israeliten geformt haben mußten und daher viel mehr waren als eine äußere Form und eine Art zeremonieller Dienst. Sie sind in einer solchen Überfülle im ganzen Alten Testament vorhanden, daß es schwierig ist, zu sehen, worin ihr unmittelbarer Nutzen als Gebot heute besteht, wenn sie nicht irgendwie für uns gelten; und das ist gerade der Schluß, den diese Leute oft daraus ziehen. Sie möchten sich vom Alten Testament losmachen und behaupten, es gehe die Christen nichts an und die Juden seien beinahe Barbaren gewesen. Dagegen sagt uns der heilige Paulus, daß die jüdische Geschichte „zu unserer Warnung und Belehrung geschrieben“ ist (1 Kor 10,11; Röm 15, 4).
Betrachten wir einige der angedeuteten Gebote und die Worte, mit denen sie vermittelt wurden; z. B. den Befehl zur Ausrottung der zum Untergang verurteilten Völker im Lande Kanaan. „Wenn dich der Herr, dein Gott, in das Land bringt, in das du ziehen sollst, es zu besitzen, … dann sollst du die Völker, die es besitzen, schlagen bis zur Vernichtung; du sollst keinen Bund mit ihnen eingehen, noch dich ihrer erbarmen, noch Heiraten mit ihnen schließen … Ihre Altäre sollt ihr zerstören und ihre Statuen zerbrechen, ihre Haine umhauen und ihre Bilder verbrennen… Du sollst alle Völker vertilgen, die der Herr, dein Gott, dir geben wird; dein Auge schone ihrer nicht“ (Dt 7,1—5.16).
Beachtet weiter: diese erbarmungslose Haltung, wie Weltmenschen sie nennen würden, dieser heilige Eifer, wie wohlunterrichtete Christen sagen, wurde ihnen noch unter weit peinlicheren Umständen auf-erlegt, nämlich bei Verfehlungen ihrer eigenen Verwandten und Freunde. „Wenn dein Bruder, der Sohn deiner Mutter oder dein Sohn oder deine Tochter oder das Weib in deinen Armen oder der Freund, den du liebst wie deine Seele, heimlich dir zuredet: Laß uns hingehen und anderen Göttern dienen, … so willige nicht ein und gehorche ihm nicht, und dein Auge schone seiner nicht, daß du dich erbarmest und ihn verbergest, sondern töte ihn alsbald. Deine Hand sei zuerst wider ihn, ihn zu töten, und dann die Hand des ganzen Volkes“ (Dt 13, 6—9). Zweifellos sollen wir heutzutage nie¬manden wegen Götzendienst töten; aber ebenso steht außer Zweifel, dieselbe geistige Haltung, die die Erfüllung dieses Gebotes bei den Juden voraussetzte, muß im wesentlichen unsere geistige Hal¬tung sein, was immer sie auch sonst noch sein mag; denn Gott kann nicht zweierlei Gesetze geben, Er kann nicht zweierlei Haltungen lieben — gut ist gut und schlecht ist schlecht, und das Gesetz, das Er den Juden gab, war in seinem Wesen „vollkommen und bekehrte die Seelen; das Zeugnis des Herrn ist getreu und gibt Weisheit den Kleinen; die Rechte des Herrn sind gerade und erfreuen das Herz; das Gebot des Herrn ist hell und erleuchtet die Augen; … wünschenswerter sind sie als Gold und viel Edelgestein; süßer als Honig und Honigseim. Außerdem“, fährt der Psalmist fort, „Dein Knecht wird durch sie belehrt und in ihrer Beobachtung ist vielfache Vergeltung“ (Ps 18, 8. 9.11.12).
Ein zuchtvoller, furchtloser Gehorsam war ein wei¬terer Bestandteil dieser nämlichen religiösen Gesinnung, die den Juden auferlegt war und immer noch, so möchte ich behaupten, uns Christen obliegt. „Seid sehr mutig, um alles zu halten und zu tun, was geschrieben ist im Buche des Gesetzes Moses“ (Jos 23, 6). Es bedurfte von Seiten der Juden eines außerordentlichen moralischen Mutes, der sie befähigte, ihren Weg geradeaus zu gehen, ohne von ihren Gefühlen oder ihrer Vernunft sich verleiten zu lassen.
Auch war die strenge Einstellung, mit der wir es zu tun haben, nicht bloß eine Pflicht in den frühen Zeiten des Judentums. Das Buch der Psalmen wurde zu verschiedenen Zeiten geschrieben, zwischen der Zeit Davids und der Gefangenschaft, doch es atmet offensichtlich den gleichen Haß gegen die Sünde und den gleichen Widerstand gegen die Sünder. Ich will nur eine Stelle aus dem hundertachtunddreißigsten Psalm anführen. „Sollt ich nicht hassen, Herr, die Dich hassen, und über Deine Feinde mich nicht grämen? Mit vollkommenem Hasse hasse ich sie; und Feinde sind sie mir.“ Und dann fährt der inspirierte Verfasser fort, seine Seele vor Gott bloßzulegen, als ob er sich bewußt wäre, daß er nur Gefühle ausdrückte, die Gott billigen würde. „Prüfe mich, Gott, und erkenne mein Herz; erforsche mich und erkenne meine Gedanken und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Pfad“ (Ps 138,21—24).
Weiter, nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft, nachdem die Propheten den Kreis der göttlichen Offenbarung geweitet und die religiöse Erkenntnis geläutert und erhöht hatten, wurde immer noch dieser starre und strenge Eifer in all seiner alten Stärke von Esdras auferlegt und durchgesetzt. Die Juden begannen eine Reform; und was war ihre hervorstechendste Handlung? Wir wollen die Worte des Esdras hören: „Die Fürsten traten zu mir und sprachen: Das Volk Israel, die Priester und Leviten sind nicht gesondert von den Völkern der Lande; denn für sich und ihre Söhne haben sie von deren Töchtern genommen und den heiligen Samen mit den Völkern der Lande vermischt; auch sind die Fürsten und Vorsteher in dieser Übertretung zuerst bei der Hand gewesen“ (Esr 9,1. 2). Ich darf hier innehalten und fragen, wie sich heute sehr wahrscheinlich ein Christ benähme, der den Mantel nach dem Wind trägt, wäre er in jener Zeit an der Stelle des Esdras gestanden? Er hätte zweifellos gesagt, daß solche Heiraten sicher in keiner Weise verantwortet werden könnten, aber jetzt, da sie geschlossen seien, sei nichts zu machen; daß sie in Zukunft verhindert werden müßten; aber in den vorliegenden Fällen könne das Böse, das geschehen sei, nicht ungeschehen gemacht werden; und außerdem, daß hervorragende Männer sich in die Sünde verstrickt hätten, mit denen in die Quere zu kommen unmöglich sei. Dies hätte er, glaube ich, gesagt, obwohl das Gebot des Moses solche Heiraten offenbar von Anfang an für null und nichtig erklärte. Ich behaupte nun nicht, daß jeder hätte tun müssen, was Esdras tat, denn er wurde übernatürlich geleitet; aber hätte der Weg, den er einschlug, in das Denken der heutigen Menschen je Eingang gefunden oder könnten sie ihn auch nur verstehen oder sich damit abfinden, jetzt, da sie ihn kennen? Denn was tat er? „Da ich diese Dinge gehört“, sagt er, „zerriß ich mein Gewand und meinen Mantel und raufte die Haare meines Hauptes und meines Bartes aus und saß in Trauer. Es kamen aber zu mir alle zusammen, die das Wort des Gottes Israels fürchteten, wegen der Übertretung derer, die aus der Gefangenschaft gekommen, und ich saß traurig bis zum Abendopfer.“ Dann gab er ein Schuldbekenntnis ab und legte für das Volk Fürsprache ein; hierauf endlich trafen er und das Volk eine Entscheidung. Es war keine andere als die, daß er allen, die fremde Frauen geheiratet hatten, den Befehl gab, sie zu entfernen. Er schaffte das Böse weg und verhinderte es auch in Zukunft. Welch eine Tat selbstlosen Eifers war dies von einer so großen Zahl von Männern!
Das sind einige der vielen Beispiele, die aus der jüdischen Geschichte angeführt werden könnten, um die Verpflichtung zur genauen und strengen Treue gegen Gott und Seinen heiligen Willen zu beweisen; und ich führe sie hier an, einmal, um zu zeigen, daß die Befehle, die ihnen erteilt wurden, sich nicht auf einen rein äußeren und formelhaften Gehorsam bezogen haben konnten (ihre Zahl und ihre Mannigfaltigkeit sind so groß), sondern in den Juden eine gewisse Geisteshaltung geschaffen haben mußten, die Gott wohlgefällig war und deren Besitz daher auch für uns notwendig ist. Weiterhin leite ich aus dem gleichen Umstand ihrer Zahl und Mannigfaltigkeit ab, daß sie für uns verpflichtend sein müssen, sonst wäre das Alte Testament für den Christen nur ein Schatten der Offenbarung oder des Gesetzes.
Ich möchte mich auf die Lehre beschränken, die lediglich durch das Alte Testament geboten ist, und will die Betrachtung der apostolischen Lehre, die ganz mit jener in Einklang steht, nicht zum Beweis heranziehen. Doch mag es berechtigt sein, kurz auf das sündenlose Beispiel unseres Herrn zu verweisen und auf das, was uns über die heiligen Bewoh¬ner des Himmels berichtet wird, um zu zeigen, daß die den Juden auferlegte Geisteshaltung ebenso denen eigen ist, die sich in einem höheren Seinszustand als wir befinden, wie auch denen, die unter einer mangelhaften und vorübergehenden Heilsvermittlung lebten. Und von unserem Herrn heißt es bei einer Gelegenheit ausdrücklich, Er habe den Eifer, der David verzehrte, angenommen. „Jesus zog hinauf nach Jerusalem und Er fand im Tempel die Leute, welche Ochsen, Schafe und Tauben verkauften, und die Wechsler, die dasaßen: und als Er eine Geißel aus Stricken gemacht hatte, trieb Er sie alle zum Tempel hinaus, auch die Schafe und Ochsen, verstreute das Geld der Wechsler und stieß die Tische um“ (Joh 2,13—15) . Gewiß, wenn wir nicht diesen Bericht von einem inspirierten Verfasser besäßen, wir hätten es nicht geglaubt! Unter dem Eindruck unserer eigenen erdachten Vorstellungen hätten wir gesagt, diese eifernde Tat un¬seres Herrn sei mit Seiner barmherzigen, sanftmütigen und (wie man es nennen möchte) Seiner hoheitsvollen und gelassenen Geisteshaltung ganz unvereinbar. Von der Höflichkeit abzuweichen, auf den Dienst Seiner begleitenden Engel zu verzichten, zu handeln, bevor Er Sein Mißfallen ausgedrückt hatte, Seine eigene Hand zu gebrauchen, hin und her zu eilen, wie ein Knecht das Werk der Reinigung zu vollziehen, das alles muß sicher einem uns Sündern unverständlichen Feuer des Unwillens entsprungen sein, darüber, daß Er Seines Vaters Haus beschimpft sah. Auf jeden Fall war das nichts anderes als die Vollendung jener Gesinnung, die, wie wir gesehen haben, in der jüdischen Kirche gefördert und veranschaulicht wurde. Jene Tatkraft, Entschlossenheit und Strenge, die Moses seinem Volk gebot, offenbarte sich in Christus Selbst und ist daher unleugbar eine Pflicht des Menschen überhaupt, welches auch sein Ort oder seine Errungenschaft auf der Stufenleiter der menschlichen Natur sein mag.
Das ist das Beispiel, das der Herr uns gibt; füget hinzu das Beispiel der Engel, die Ihn umgeben. Sicher „paart sich in Ihm Güte mit Strenge“; von dieser liebenden und strengen Art sind daher alle heiligen Geschöpfe. Wir lesen von ihren Gedanken und Wünschen in der Geheimen Offenbarung: „Fürchtet den Herrn und gebt Ihm die Ehre; denn die Stunde Seines Gerichtes ist gekommen“ (Offb 14, 7). Ferner: „Du bist gerecht, Herr! Der Du bist und warst und sein wirst, daß Du so gerichtet hast. Denn das Blut der Heiligen und Propheten haben sie vergossen, und Blut hast Du ihnen zu trinken gegeben, ja, sie haben es verdient.“ Und wiederum: „Ja, Herr, allmächtiger Gott! Wahr und gerecht sind Deine Gerichte“ (Offb 16,5—7). Nochmals: „Ihre Sünden sind bis an den Himmel gekommen, und Gott hat gedacht ihrer Ungerechtigkeiten. Ver¬geltet ihr, wie auch sie euch vergolten hat und gebt ihr das Doppelte nach ihren Werken“ (Offb 18, 5. 6); — alle diese Stellen schließen eine tiefe und feierliche Ergebung in Gottes Gerichte in sich.
So ist ein gewisser Feuereifer eine Pflicht, der alle Geschöpfe Gottes unterstehen, eine Pflicht der Christen inmitten all jener ausnehmenden, überreichen Liebe, die die höchste Gnade des Evangeliums und die Erfüllung der zweiten Gesetzestafel ist. Dieser Eifer zeigt sich nicht in Gewalt und Blut, obwohl er so wirklich und bestimmt ist, als ob er es täte; er durschneidet alle natürlichen Gefühle, stellt das eigene Ich zurück, zieht Gottes Ehre allen Dingen vor, widersteht standhaft der Sünde, erhebt Einspruch gegen die Sünder und hat beständig ihre Strafe vor Augen.
Dies ist in Wahrheit auch immer die Haltung der christlichen Kirche gewesen; zum Beweis dafür brauche ich mich nur auf die eindrucksvolle Tatsache zu berufen, daß der jüdische Psalter das klassische Buch der christlichen Frömmigkeit von den ersten Anfängen bis heute gewesen ist. Ich wünschte, wir dächten mehr daran. Angenommen, jenes ehrwürdige Handbuch des Glaubens und der Liebe wäre nie bei uns im Gebrauch gewesen, könnte dann jemand daran zweifeln, daß große Scharen des gegenwärtigen Geschlechtes es als ungeeignet verschrien hätten, christliche Gefühle auszudrücken, als ungenügend im Ausdruck von Liebe und Güte? Ja, wissen wir nicht, daß es so ist, — manch einen ernst¬gesinnten Christen, glaube ich, mag es bestürzen, davon zu hören —, daß es gegenwärtig Leute gibt, die (lieber wollte ich es nicht erwähnen) Teile der Psalmen aus dem Gottesdienst als roh und hart ausgemerzt wissen möchten? Ach, daß heutige Men¬schen ihr eigenes Urteil gegen das aller Heiligen aller Zeiten seit der Ankunft Christi voreilig in die Waagschale werfen — daß sie wirklich sagen: „Entweder haben sie Unrecht gehabt oder wir“ und so uns zwingen, zwischen den beiden zu ent¬scheiden! Wie schade, daß sie es wagen, die inspirierten Worte zu bekritteln! Ach, daß sie den Spu¬ren der feigen Israeliten folgen und davor zurückschrecken, für die Wahrheit in ihrem Kampf gegen die Welt Partei zu ergreifen, anstatt mit Debora zu sagen: „Also müssen umkommen, Herr, alle Deine Feinde!“
Ich will nun ein paar abschließende Ausführungen machen, um zu zeigen, wie Sanftmut und Liebe mit dieser strengen und tapferen Haltung des christ¬lichen Soldaten sich vertragen.
1. Natürlich ist es völlig sündhaft, irgendwelche persönlichen Feindschaften zu haben. Nicht die bittersten Angriffe auf uns persönlich sollten uns dazu verleiten, sie zu vergelten. Wir müssen Gutes statt Böses tun, „die lieben, welche uns hassen, die segnen, welche uns fluchen, und für die beten, welche uns verleumden“ (Lk 6,27. 28). Nur in dem Fall, wo es unmöglich ist, gütig gegen sie zu sein und zu¬gleich Gott die Ehre zu geben, können wir davon ablassen, gütig gegen sie aufzutreten. Wenn David vom Haß gegen Gottes Feinde spricht, war es unter Umständen, da Freundschaft mit ihnen Abfall von der Wahrheit bedeutet hätte. Der heilige Jakobus sagt: „Wisset ihr nicht, daß die Freundschaft mit dieser Welt Feindschaft mit Gott ist?“ (Jak 4,4); und so ist anderseits Hingabe an Gottes Sache Feindschaft mit der Welt. Aber es darf in keinem Fall ein persönliches Gefühl sich eindrängen. Unser Haß gegen die Sünder besteht darin, daß wir sie uns aus den Augen räumen, als ob sie nicht wären, daß wir sie aus unserem Herzen tilgen. Und das müssen wir selbst unseren Freunden und Verwand¬ten gegenüber tun, wenn Gott es fordert. Niemals aber dürfen wir uns der Abneigung oder dem Übelwollen überlassen.
2. Sodann ist es mit dem heiligsten Eifer durchaus vereinbar, den Feinden Gottes Liebesdienste anzubieten, wenn sie in Not sind. Ich will damit nicht behaupten, daß ein Abschlagen dieser Dienste nicht regelrecht eine Pflicht sein kann; denn es ist unsere Pflicht, wie der heilige Johannes uns in seinem zweiten Brief sagt, sie nicht einmal in unser Haus aufzunehmen. Aber der Fall liegt ganz anders dort, wo Menschen in äußerste Not geraten sind. Gott „läßt Seine Sonne über Gute und Böse aufgehen und Er sendet Seinen Regen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5, 45). Wir müssen nach dem Beispiel des barmherzigen Samariters hingehen und desgleichen tun; und wie er des Rassenunterschiedes nicht achtete, als ein Jude in Not war, so dürfen wir unter derartigen Umständen die freiwillige Häresie oder die Gottlosigkeit nicht in Betracht ziehen.
3. Ferner hält sich der Christ von Sündern fern, um ihnen damit Gutes zu tun. Er handelt so in wahrster und innigster Liebe. Kurzsichtiges und schwa¬ches Mitgefühl wäre es, hier einem Menschen zu Gefallen zu sein und dadurch seine Seele zu ge¬fährden. Ein treuer Freund ist jener, der sein Mißfallen gerade ausspricht, und wenn einer sündigt, ihm sein Mißfallen an der Sünde zeigt. Wer gegen die Sünde seines Freundes nicht Einspruch erhebt, ist „teilhaftig seiner bösen Werke“ (2 Joh 11). Der Psalmist spricht in diesem Geist, wenn er an die Bitte, Gott möge die Gottlosen „mit Seinem Sturm verfolgen“, anfügt: „Laß sie schamrot werden, daß sie Deinen Namen suchen, o Herr“ (Ps 82,16.17). Je eifriger dementsprechend ein Christ ist, um so gütiger ist er. Als die Israeliten Kanaan betraten, wurde ihnen befohlen, weder alt noch jung zu schonen; die Schwachen und Gebrechlichen sollten keine Ausnahme bilden in der Liste der Opfer, deren Blut vergossen werden sollte. „Von den Städten dieser Völker, die der Herr, dein Gott, dir zum Erbe gibt, sollst du nichts am Leben lassen, das atmet“ (Dt 20, 16). Als das Volk gegen Sihon kämpfte, „nahmen“ sie demgemäß „alle seine Städte zur selben Zeit ein, erschlugen die Männer, Weiber und Kinder jeder Stadt, sie ließen nichts darin übrig“ (Dt 2, 34). Und als Jericho eingenommen wurde, „töteten sie alles, was in der Stadt war, Mann und Weib, Kind und Greis, Ochsen, Schafe und Esel mit der Schärfe des Schwertes“ (Jos 6, 21). Was für ein schreckliches Amt war das, was für eine unsägliche Aufgabe, herzzerreißend genug, um einen Menschen wahnsinnig zu machen, es sei denn, er ist von der Macht Dessen gestützt, der den Befehl dazu gab! Und doch war Moses, so streng darauf bedacht, Gottes Willen zu tun, der sanftmütigste der Menschen. Auch Samuel, der den Saul aussandte, in Amalek „Mann und Weib, Kind und Säugling, Ochs und Schaf, Kamel und Esel“ zu töten (1 Sam 15, 3), war von Jugend auf der weise und himmlisch gesinnte Führer und Prophet Israels. David, der einen so glühenden Eifer hatte, daß er ihn ganz verzehrte, war (wie wir aus seinen Psalmen sehen) sehr zart und sanft in Herz und Sinn. Während die Diener Gottes Seine Gerichte vollstreckten, konnten sie sich doch zweifellos in Erbarmen und in Hoffnung zu den Kindern und den Greisen neigen, die sie mit dem Schwert erschlugen, barmherzig inmitten ihrer Strenge. Das war gewiß eine unaussprechliche Prüfung des Glaubens und der Selbstbeherrschung, und es bedurfte eines hochstehenden und edlen Geistes, um sie erfolgreich zu bestehen. Wenn sie jene erschlugen, die für die Sünden ihrer Väter litten, kehrten ihre Gedanken zweifellos zu dem Fall Adams zurück, dann zu jenem verborgenen Zustand, in dem alle Ungleichheit ausgeglichen wird, und sie überließen sich dem Herrn als Werkzeuge, die geheimnisvoll Gutes durch Böses wirkten.
Sollen wir wegen unserer weit kleineren Prüfungen verzagen, wo sie die größeren trugen? Sollen wir wie Feiglinge davor zurückschrecken, unsere leichteren Bürden zu tragen, die der Herr uns auferlegt und für die Er uns das Beispiel gibt, wir, denen die drückende Notwendigkeit erspart ist, den Speer des Phinees zu gebrauchen oder Agag in Gilgal nieder¬zuschlagen — wir, die wir doch anstatt Leiden zuzufügen, sie ertragen und, statt unterschiedslose Strenge zu üben, „einen Unterschied machen“ dür¬fen? Sollen wir uns in verkehrter Weise zu einem Schein von Liebenswürdigkeit oder Güte überreden lassen jenen gegenüber, von denen wir uns auf Gottes Geheiß wegen ihrer Häresie oder ihres schändlichen Wandels oder ihres Kampfes gegen die Kirche absondern müssen? Josef konnte als Fremder mit seinen Brüdern sprechen und sie als Spione behandeln, einen von ihnen ins Gefängnis werfen und einen anderen von Kanaan anfordern, obwohl er dabei sich kaum beherrschen konnte und sein Innerstes sich nach ihnen sehnte; und abwech-selnd strafte er sie und weinte er ihretwegen. O daß auch in uns diese edle Haltung der Strenge mit Liebe gepaart wäre! Wir begreifen kaum die Strenge und die Güte in sich; wer aber will sie gar zusammenreimen? Und doch glauben wir, daß wir nicht gütig sein dürfen, ohne aufzuhören, strenge zu sein. Aber wo ist der Mann, der durch die Welt geht und nach der Vorschrift des Eifers verwundet und freigebig in der Fülle der Liebe zugleich Balsam ausstreut; der schlägt aus Pflicht und heilt, weil es sein Vorrecht ist; der am meisten liebt, wenn er offenbar am strengsten ist, und jene am innigsten umarmt, die er offenbar hart behandelt? Wo befinden wir uns, wenn einer, der die offenen Drohungen unseres Herrn und Seiner Apostel gegen die Sünder wiederholt, oder es wagt, die Strafurteile Seiner Kirche zu verteidigen, eher für gefühllos als barmherzig gehalten wird; wenn jene, die sich von der gottlosen Welt trennen, als wunderlich und überspannt getadelt werden, und wenn jene, die die Wahrheit bekennen, wie sie in Jesus ist, bitter, hitzköpfig und unbeherrscht genannt werden? Doch wenn wir die Geschichte des Alten Testamentes vor Augen haben und die furchtbare Vergeltung, die zu unserer Warnung über die feigen Israeliten kam, dürfen wir, die Diener Christi, inmitten dieses großen Irrtums uns mit Gottes Hilfe nicht in Schweigen hüllen. Um Christi, unseres Heilandes und Herrn willen, der Sein kostbares Leben für uns hingab und uns jetzt mit Seinem eigenen Blut nährt, um der Seelen willen, die Er erlöst hat und die die Welt durch eine falsche und grausame Liebe in Unwissenheit und Sünde halten möchte, dürfen wir uns nicht zurückhalten; und wenn sein Heiliger Geist mit uns ist, wie wir hoffen, wollen wir, was uns auch bevorstehen oder über dieses Land kommen mag, die Wahrheit sagen, und wir müssen siegen durch unser Wort; denn Er hat uns befähigt zu diesem Sieg!

Newman John Henry, Pfarr- und Volkspredigten, DP III, 13, Schwabenverlag, Stuttgart 1951, 191-207.