Glaube ohne Schau

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Fest des heiligen Apostels Thomas

„Thomas, weil du Mich gesehen hast, hast du geglaubt; selig sind, die nicht sehen und doch glauben“ (Joh 20, 29).

Der heilige Thomas ist der Apostel, der an der Auferstehung unseres Herrn gezweifelt hat. Dieser Mangel an Glauben hat ihm – so urteilen viele – einen Charakterzug beigelegt, auf den das Tagesgebet Bezug nimmt. Doch wir dürfen nicht annehmen, daß er sich sehr von den anderen Aposteln unterschieden hat. Sie alle mißtrauten mehr oder weniger Christi Verheißung, als sie sahen, wie man Ihn zur Kreuzigung abführte. Als man Ihn begrub, wurden ihre Hoffnungen mit Ihm begraben, und als ihnen die Nachricht von Seiner Auferstehung gebracht wurde, da zweifelten sie alle daran. Wie Er ihnen erschien, „verwies Er ihnen ihren Unglauben und ihre Herzenshärte“ (Mk 16, 14). Da aber der heilige Thomas damals nicht dabei war und er nur von seinen Mitaposteln hörte, sie hätten den Herrn gesehen, dauerte bei ihm die Zeit der Verwirrung und der Dunkelheit länger als bei ihnen. Auf die Kunde von diesem großen Wunder drückte er seinen Entschluß aus, nicht zu glauben, wenn er nicht selbst Christus sehen und Ihn berühren dürfe. So steht Thomas durch einen offensichtlichen Nebenumstand vereinzelt und als ein Sonderfall des Unglaubens unter seinen Brüdern, die anfangs genau so wie er zweifelten. Keiner von ihnen glaubte, bis sie Christus sahen, mit Ausnahme des heiligen Johannes, und auch er zögerte zuerst. Thomas war der letzte, der sich überzeugen ließ, denn er sah Christus als letzter. Anderseits ist es gewiß, daß er kein kaltherziger Jünger seines Herrn war, wenn er auch der Freudenbotschaft von Christi Auferstehung zunächst nicht glaubte. Dies bestätigt uns zur Genüge sein Verhalten bei einer früheren Gelegenheit, da er das Verlangen ausdrückte, Gefahr und Leiden mit Ihm zu teilen. Als Christus nach Judäa aufbrach, um Lazarus vom Tode zu erwecken, sagten Seine Jünger: „Meister, eben wollten Dich die Juden steinigen, und Du gehst wieder hin?“ (Joh 11, 8). Als Er auf Seinem Entschluß beharrte, sagte Thomas zu den übrigen: „So wollen auch wir gehen, damit wir mit Ihm sterben“ (Joh 11, 16). Diese Reise endete, wie die Apostel ahnten, mit dem Tode ihres Herrn. Sie selbst entrannen zwar dem Tode, aber es war auf das Drängen des Thomas hin geschehen, daß sie mit Ihm ihr Leben aufs Spiel setzten.

Der heilige Thomas liebte also seinen Meister, wie es sich für einen Apostel geziemte, und war Seinem Dienst ergeben. Als er Ihn aber am Kreuz hängen sah, versagte sein Glaube wie der der übrigen eine Zeitlang. Wir brauchen auch nicht zu leugnen, daß seine besonderen Zweifel an Christi Auferstehung nicht gänzlich durch die Umstände verursacht waren, sondern teilweise von einer fehlerhaften Geisteshaltung herrührten. Die Erzählung des heiligen Johannes und die Worte, die unser Heiland an ihn richtete, erwecken den Eindruck, daß er mehr zu tadeln war als die anderen. Seine Absonderung nicht nur von einem einzelnen Zeugen, sondern von seinen zehn Mitaposteln sowie von Maria Magdalena und den übrigen Frauen ist ein klarer Beweis dafür; ebenso seine überaus harten Worte, „wenn ich nicht an Seinen Händen das Mal der Nägel sehe und wenn ich nicht meinen Finger in das Mal der Nägel lege und meine Hand in Seine Seite lege, glaube ich nicht“ (Joh 20, 25). So wenig wir auch vom heiligen Thomas wissen, es ist doch bemerkenswert, daß nach dem Bericht der Schrift die einzige Äußerung aus seinem Munde (vor der Kreuzigung Christi) bis zu einem gewissen Grad die gleiche unsichere, verwirrte Geisteshaltung verrät. Als Christus sagte, Er gehe zu Seinem Vater, und zwar auf einem Weg, den sie alle wüßten, da brachte Thomas das Bedenken vor: „Herr, wir wissen nicht, wohin Du gehst, wie können wir den Weg wissen?“ (Joh 14, 5), d. h. wir sehen den Himmel nicht, noch den Gott des Himmels, wie können wir den Weg dorthin wissen? Er scheint einen Blick mit dem leiblichen Auge in das Unsichtbare gefordert zu haben, irgendein untrügliches Zeichen vom Himmel, eine Engelsleiter wie die Jakobs; einen Blick, der ihm die Besorgnis dadurch beseitigen sollte, daß er ihm schon beim Antritt der Reise das Endziel zeigte. Etwas von dieser geheimen Sehnsucht nach Gewißheit beseelte ihn. Ein ähnliches Verlangen stieg bei der Kunde von Christi Auferstehung in ihm auf. Schwach im Glauben, enthielt er sich jeden Urteils und schien entschlossen, nichts zu glauben, bis ihm alles geoffenbart wäre. Als unser Heiland daher acht Tage nach Seiner Erscheinung vor den übrigen Aposteln dem Thomas erschien, gewährte Er ihm seinen Wunsch und gab seinen Sinnen die Gewißheit, daß Er in Wahrheit lebe, aber Er verband die Erfüllung seines Wunsches mit einem Tadel. Er gab ihm zu verstehen, daß Er durch die Nachgiebigkeit gegen seine Schwäche ihm etwas entzöge, was eine wirkliche Seligkeit ist. „Lege deinen Finger hierher, und sieh Meine Hände; reiche her deine Hand und lege sie in Meine Seite: und sei nicht ungläubig, sondern gläubig. Und Thomas antwortete Ihm und sagte: Mein Herr und mein Gott. Jesus sprach zu ihm: Thomas, weil du Mich gesehen hast, hast du geglaubt; selig sind, die nicht sehen und doch glauben“ (Joh 20, 27-29).

Im übrigen jedoch gelten unsere Überlegungen nicht so sehr der natürlichen Veranlagung und der Haltung des heiligen Apostels, dessen Fest wir heute feiern, sondern vielmehr dem besonderen Umstand, an den sein Name geknüpft ist, und der Erklärung, die unser Heiland dazu gab. Alle Seine Jünger dienen Ihm; auch dadurch, daß sie Gelegenheit bieten für Worte der Gnade, die aus Seinem Munde kommen. Sie dienen Ihm sogar mit ihren Schwächen, die die Schrift oft ans Licht bringt, ohne sie zuzudecken, wie christliche Freunde aus Pietät sie zudecken würden, – damit Er sie auf diese Weise in Belehrung und Trost für Seine Kirche wandle. So hat Marthas Übereifer in den häuslichen Pflichten Ihn zu einer Gutheißung eines Lebens in Beschauung und Gebet veranlaßt; so hat in unserer Geschichte die übergroße Vorsicht des heiligen Thomas uns die Verheißung Seines besonderen Segens für alle die eingebracht, die glauben, ohne gesehen zu haben. Im folgenden will ich einige Ausführungen machen über die Art dieser gläubigen Haltung und über den Grund ihrer Seligpreisung.

Es bedarf kaum der Betonung, daß der Inhalt alles dessen, was unser Erlöser so klar und eindrucksvoll zu Thomas gesprochen hat, nämlich: wie selig ein Herz ist, das bereitwillig glaubt, auf diese und jene Art für Seine ganze Wirksamkeit gegolten hat; die Art nämlich, wie Er den Glauben forderte und prüfte bei denen, die Seiner wunderbaren Hilfe wegen kamen, Sein Lob, wo Er ihn fand, Seine Betrübnis, wo er fehlte, Seine Warnung vor Herzenshärte, alle diese Dinge sind Beweis dafür. „Wahrlich, Ich sage euch, so großen Glauben habe Ich in Israel nicht gefunden“ (Mt 8, 10). „Tochter, sei getrost; dein Glaube hat dich gesund gemacht“ (Mt 9, 22). „Dein Glaube hat dir geholfen; gehe hin in Frieden“ (Lk 7,50). „Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht sucht nach einem Zeichen“ (Mt 12,39). „Ihr Unverständigen und von langsamer Fassungskraft, um alles zu glauben, was die Propheten gesprochen haben“ (Lk 24, 25). Diese Worte erinnern uns an eine Menge ähnlicher Stellen, in denen der Glaube besonders gelobt wird. Der heilige Paulus schreitet in seiner Lehre auf dem von Seinem Herrn eingeschlagenen Pfad fort. In drei Briefen zeigt er die Sonderstellung, die der Glaube unter den Erweisen eines religiösen Geistes einnimmt. Jedesmal verweist er auf eine Stelle bei den Propheten, um zu zeigen daß er keine neue Lehre bringe, sondern nur das lehre, was von Anbeginn verkündet worden war. Folglich sagen wir für gewöhnlich, daß Religion auf den Glauben gebaut ist, nicht auf die Vernunft; anderseits bringen ebenso gewöhnlich jene, die über die Religion spotten, gerade diese Lehre gegen uns vor, wie wenn wir mit dieser Aussage fast zugegeben hätten, daß das Christentum nicht wahr sei. Wir wollen nun zusehen, wie der Fall liegt.

Jeder religiöse Geist wird, wo immer er dem Walten der göttlichen Vorsehung begegnet, Ausschau zu halten pflegen und über sich selbst hinausblicken in allen Fragen, die sein höchstes Gut betreffen. Ein religiöser Geist ist, wer auf die Richtschnur des Gewissens achtet, das mit ihm geboren ist, das er sich nicht selbst geschaffen hat und dem er sich zu schuldiger Unterwerfung verpflichtet fühlt. Das Gewissen aber leitet unmittelbar seine Gedanken auf ein Wesen hin, das außer seinem Selbst liegt, dessen Geber ist und offensichtlich über ihm steht. Denn ein Gesetz bedingt einen Gesetzgeber und ein Gebot einen Herrn. So wird der Mensch gerade durch die Stimme, die in ihm spricht, zugleich über sich hinausverwiesen. Doch während er sein Herz und seine äußere Lebensführung vermöge seines inneren Sinnes von Recht und Unrecht, nicht vermöge der Grundsätze der äußeren Welt leitet, erlaubt ihm dieser innere Sinn nicht, in sich selbst zu ruhen, sondern schickt ihn wieder aus dem Innern fort, um draußen nach Dem zu suchen, der Sein Wort in ihn gelegt hat. Er blickt in die Welt hinein, um Den zu suchen, der nicht von der Welt ist, um Den hinter den Schatten und Täuschungen der veränderlichen Bilder von Zeit und Sinnenwelt zu finden, dessen Wort ewig und dessen Gegenwart geistig ist. Er schaut aus sich hinaus nach diesem Lebendigen Wort, dem er zu verdanken hat, was sein Herz an Widerhall empfand; und da er sicher ist, daß es irgendwo gefunden werden kann, hat er damit die nötige Voraussetzung, es zu finden. Oft glaubt er, es gefunden zu haben, auch wenn es nicht zutrifft. Wenn daher die Wahrheit nicht auf der Hand liegt, so ist er geneigt, Irrtum für Wahrheit zu halten, etwas als Gegenwart Gottes und als Sein besonderes Werk anzusehen, was es nicht ist. Da er glaubt, alles sei dem Skeptizismus vorzuziehen, wird er (was ihm manchmal zum Vorwurf gemacht wird) abergläubisch. Das ist, darf man annehmen, die Haltung der Menschen von besserer Sinnesart in einem heidnischen Land. Sie werden nicht der zuverlässigeren Zeichen der Macht und des Willens Gottes gewürdigt, die wir besitzen. So folgen sie ihrer Phantasie, wo sie nichts finden können, und, obgleich ihr Gewissen schärfer ist als Vernunftkraft, verdrehen und mißbrauchen sie sogar jene Spuren Gottes, die in der Natur für sie vorgezeichnet sind. Das ist einer der Gründe für die Erfindung falscher Gottheiten im heidnischen Kult. Sie sind Zeichen der Schuld für ihre Anbeter, nicht weil sie es nicht besser wissen konnten (wie wir annehmen), sondern weil sie sich abwandten vom Licht und „es verschmähten, Gott in ihrer Erkenntnis festzuhalten“ (Röm 1, 28). Ist das die Haltung eines religiösen Geistes, selbst wenn er nicht mit der Kunde der göttlichen Wahrheit beglückt ist, dann wird er die Hand Gottes noch mehr begrüßen und sich ihr freudig überlassen, wenn er sie im Evangelium erkennen darf. Diese Art von Glauben findet sich in der Menge der Gläubigen. Er hat seine Quelle in dem Erspüren der Gegenwart Gottes, ihnen ursprünglich verbürgt durch die innere Stimme des Gewissens.

Anderseits verlieren jene, die diese Welt der inwendigen Führung des göttlichen Geistes vorziehen, bald die Fähigkeit, letztere wahrzunehmen, und stützen sich auf die Welt wie auf einen Gott. Sie haben keine Ahnung von einem unsichtbaren Führer, der ein Anrecht auf Gehorsam in sittlichen Dingen hat. Sie sind der Ansicht, daß nichts Wirklichkeit besitzt außer dem, worauf ihre Sinne stoßen. Daher geben sie sich damit zufrieden und entnehmen daraus ihre Lebensnorm. Sie sind freilich nicht in der Gefahr, abergläubisch oder leichtgläubig zu sein; denn es treibt sie von vornherein weder ein Verlangen noch eine Überzeugung, daß Gott in der Welt Sich geoffenbart haben könnte. Wenn sie aber von übernatürlichen Ereignissen hören, treten sie an deren Prüfung so ruhig und leidenschaftslos heran, wie wenn sie Richter an einem Gerichtshof wären oder wissenschaftlichen Fragen nachgingen. Sie bezeugen kein besonderes Interesse für die vorliegende Frage. Sie finden keine Schwierigkeit darin, ihren Verstand dabei so starr anzuwenden, als wäre er nur ein unlenkbares äußeres Werkzeug. Hier sehen wir zwei entgegengesetzte Geisteshaltungen, die erstere leichtgläubig (wie man sie gemeinhin nennen möchte), die letztere aufrichtig, mit abgemessenem Urteil und scharfsinnig. Es ist klar, daß die erste dieser beiden Haltungen eher von einem religiösen Naturell zeugt als letztere. In dieser Weise also, wenn in keiner anderen, bilden Glaube und Vernunft Gegensätze. Viel zu glauben ist seliger als wenig zu glauben.

Aber das ist nicht alles. Jeder, der Gottes Willen zu tun versucht, wird sicher entdecken, daß er ihn nicht vollkommen erfüllen kann. Er wird das Gefühl haben, voll von Unvollkommenheit und Sünde zu sein. Je mehr er die Herrschaft über sein Herz gewinnt, desto mehr wird er die in ihm wurzelnde Bosheit und Schuld feststellen. Hier ist ein weiterer Grund, weshalb ein religiöser Mensch über sich hinausschaut. Er kennt die Verderbtheit seiner Natur und ahnt als deren Folge den Zorn Gottes. Wenn er um sich blickt, sieht er ihn als Spiegelbild seines Innern auf dem Antlitz der Erde. Er gerät in Furcht, und infolgedessen sucht er nach Mitteln, seinen Schöpfer zu versöhnen, sucht nach einem etwaigen Zeichen der Besänftigung Gottes. Er kann nicht daheim bleiben; er kann in sich selbst keine Ruhe finden; er wandert aus lauter Angst umher; er braucht einen, der seiner Seele Frieden zuspricht. Sollte jemand zu ihm kommen, der sich als Bote des Himmels ausgibt, so steht er alsbald still und horcht. Ob nun ein solches Vorgeben tatsächlich wahr oder falsch ist, so ist es doch sein erster Wunsch, es möchte wahr sein. Im Gegensatz dazu können jene, die dieses Sündenbewußtsein nicht haben, die erste Botschaft von Gottes Wort an die Menschen ertragen, ohne überrascht zu sein. Sie können geduldig warten, bis die Fülle des Beweises ihnen vorgelegt wird, um ihn dann anzunehmen oder zu verwerfen, wie die Vernunft für sie entscheiden mag.

Noch mehr! Wir wollen uns zwei Personen mit scharfem Verstand vorstellen, nicht leicht erregbar, gesund im Urteil und vorsichtig; sie sollen in dieser Hinsicht gleich an Begabung sein. Da besteht nun ein weiterer Grund, weshalb von diesen beiden der religiöse mehr glaubt und weniger kritisch verfährt als der unreligiöse: d. h. wenn das Handeln eines Menschen nach einer Botschaft der Maßstab seines Glaubens daran ist, wie das allgemeine Urteil der Welt lautet. Denn in einer so bedeutungsvollen und praktischen Frage wie der nach dem Heil der Seele wird der Weise mit seinem Handeln nicht warten, bis er die vollste Sicherheit gewonnen hat. Er wird seine Vorsicht nicht dadurch zeigen, daß er unbeeindruckt bleibt durch das umlaufende Gerücht von einer göttlichen Botschaft, sondern dadurch, daß er ihr gehorcht, selbst wenn sie klarer bezeugt werden könnte. Auch wenn es nur ziemlich wahrscheinlich wäre, daß die Verwerfung des Evangeliums seinen ewigen Untergang zur Folge haben kann, dann ist es am sichersten und weisesten, so zu handeln, wie wenn es gewiß wäre. Wenn ein Mensch anderseits die Wahrheit des Christentums nicht zu einer praktischen Angelegenheit macht, sondern zu einen bloßen Gegenstand einer philosophischen oder historischen Untersuchung, so wird er sich die Freiheit nehmen (und zwar vernünftigerweise auf seine eigenen Gründe hin), an der Beweiskraft etwas auszusetzen. Wenn wir eine geschichtliche Frage erforschen oder einer wissenschaftlichen Ansicht nachspüren, verlangen wir durchschlagende Beweiskraft. Bevor wir uns entscheiden, gestatten wir uns zu warten, bis sich Sicherheit ergibt, mit einem Wort: skeptisch zu sein. Wäre das Endziel der Religion nicht das praktische Handeln, dann würde Billigkeit und philosophisches Denken uns gestatten, Skeptiker zu sein. Gewiß könnte uns ein höhere und vollere Sicherheit über ihre Wahrheit gegeben werden. Schließlich gibt es auch eine Anzahl von tiefen Fragen über die Gesetze der Natur, die Beschaffenheit des menschlichen Geistes und ähnliche Dinge, die erst gelöst sein müssen, bevor wir das Gefühl einer vollkommenen Befriedigung haben können. Solche, deren Herzen nicht „zartfühlend“ sind (4 Kg 22, 19), wie die Schrift es ausdrückt – d. h. die in sich keine lebendige Wahrnehmung der göttlichen Stimme und der Notwendigkeit des Daseins Gottes, von dem sie stammt, besitzen – diese empfinden das Christentum nicht als eine praktische Angelegenheit und lassen es folglich an sich vorübergehen. Sie sagen gewöhnlich, daß der Tod bald über sie kommen und das große Geheimnis ihnen mühelos entschleiern werde, – d. h. sie warten auf die Schau. So verstehen sie nicht und können auch nicht zu der Erkenntnis gebracht werden, daß die Lösung dieses großen Problems ohne Schau gerade das Ziel und die Aufgabe ihres sterblichen Lebens ist. Nach der Definition des heiligen Paulus ist der Glaube „die Grundlage“ oder das Innewerden dessen, „was man hofft“, „ein Überzeugtsein“, ein Erproben, Tun und Fürwahrhalten von „Dingen, die man nicht sieht“ (Hebr 11, 1). Was der Apostel von Abraham sagt, ist eine Beschreibung jedes echten Glaubens. Dieser Glaube zieht des Weges, ohne zu wissen wohin. Er verlangt nicht danach noch feilscht er darum, das Ziel der Reise zu sehen; er macht keinen Einwand wie der heilige Thomas in den Tagen seiner Unwissenheit, „wir wissen nicht wohin, und wie können wir den Weg wissen?“ Er ist überzeugt, daß ihm daraus genug Licht fließt für seinen Weg, weit mehr als ein sündiger Mensch zu erwarten das Recht hat, wenn er nur einen Schritt vorwärts sieht. Alle Kenntnis der Landschaft, über die der Glaube hinschreitet, überläßt er Dem, der ihn aufruft.

Diese glückliche Geistesverfassung, die religiöse Menschen in der noch größeren Angelegenheit, sich für oder gegen das Evangelium zu entscheiden, beeinflußt, dehnt sich auch auf die Annahme in allen seinen Teilen aus. Und wie der Glaube für den Anfang seines Weges sich mit ein wenig Licht bescheidet und er es dadurch vermehrt, daß er danach handelt, so liest er auch sozusagen bei Zwielicht die Botschaft der Wahrheit in ihren verschiedenen Einzelheiten. Er besteht nicht darauf, daß der Text der Schrift eine scharfe und sorgsame Prüfung seiner Lehren gewähre. Er besitzt die praktische Weisheit zu bedenken, daß das Wort Gottes vorwiegend einen und nur einen Sinn haben muß, und zu versuchen, nach bestem Können ausfindig zu machen, welches dieser Sinn ist, mag die augenscheinliche Gewißheit groß oder klein sein, und nicht zu hadern, wenn sie nicht überwältigend ist. Er hält sich beständig vor Augen, daß Christus in der Schrift spricht und nimmt Seine Worte auf, wie wenn er sie hörte, gerade wie wenn ein Vorgesetzter oder Freund sie spräche, einer, dem er zu gefallen wünscht; nicht wie wenn er mit dem toten Buchstaben eines Dokumentes beschäftigt wäre, das grobe Behandlung, Kritik und Einwand gestattet. Er schaut von sich weg auf Christus hin. Anstatt ungeduldig nach persönlicher Sicherheit zu suchen, läßt er sich vom Gehorsam lenken und spricht: „Hier bin ich; sende mich“ (Js 6, 8). In gleicher Weise handelt er gegenüber jeder Einrichtung Christi, gegen Seine Kirche, Seine Sakramente und Seine Diener nicht wie ein Forscher dieser Welt, sondern als Jünger Dessen, der sie bestellt hat. Endlich gibt er sich zufrieden mit der ihm gewährten Offenbarung. Er hat den „Messias gefunden“ (Joh 1, 41) und das genügt. Gerade die Triebfeder seiner früheren Unruhe bewahrt nun den Glauben vor unstetem Wandern. Nachdem „der Sohn Gottes gekommen ist und uns die Einsicht gegeben hat, den wahren Gott zu erkennen“ (1 Joh 5, 20), sind Unschlüssigkeit, Angst, abergläubisches Vertrauen auf die Kreatur und Trachten nach Neuheiten nicht Zeichen des Glaubens, sondern des Unglaubens.

Zum Schluß ließe sich noch vieles sagen, wollte man das Gesagte anwenden auf den Geist unserer Tage, in denen die Menschen unserer Umgebung geneigt sind, sich beinahe zu rühmen, daß „ihre Religion eine Vernunftreligion ist“. Ohne Zweifel, das ist gerade der Fall; aber es ist kein notwendiges Zeichen einer wahren Religion, daß sie vernünftig ist im gewöhnlichen Sinn des Wortes, noch gereicht es einem Menschen zur Ehre, wenn er sich entschlossen hat, nur anzunehmen, was er als vernünftig ansieht. Die wahre Religion übersteigt zum Teil völlig die Vernunft, wie z. B. in ihren Mysterien. Sie hätte auch den Weg in die Welt nehmen können ohne diese sogenannte Kette von Beweisen, die abzuleiten unserer Vernunft liegt und Freude macht. Und doch wäre sie darum nicht weniger wahr gewesen. Soweit sie über der Vernunft steht, soweit sie sich in manchen Ländern ohne hinreichenden Beweis ihrer Göttlichkeit ausgedehnt hat, soweit kann sie auch nicht als rational bezeichnet werden. Daß sie zwar in allem der Vernunft angemessen ist, ist mehr eine von Gott bewilligte Zugabe als etwas, worauf der Mensch bestehen könnte. Wenn wir sie nicht als ein unverdientes Gut annehmen, kann sie uns zum Schaden werden. Ist diese Feststellung in irgendeinem Grad wahr, so wissen wir, was wir zu denken haben von einer Beweisführung gegen die Lehren des Evangeliums, als ob sie unvernünftig wären, oder von dem Versuch, den Glauben anderer zu widerlegen, indem man seine Artikel als unerklärbar und absurd verlacht, oder von der Auffassung, daß abergläubische Menschen der Wahrheit einen Schritt näher kämen, wenn sie sich in den Unglauben stürzten, oder von der Meinung, die es als falsch betrachtet, Kinder im katholischen Glauben zu erziehen, aus Furcht, sie hätten nicht die Möglichkeit in späteren Jahren, sich die Religion selbst zu wählen. Solche Gedanken wollen wir uns aus dem Kopf schlagen und wollen eher zufrieden sein mit den Worten des Apostels. „Die Predigt vom Kreuz“, sagt er, „ist denen, die verlorengehen, Torheit; uns aber, die wir gerettet werden, ist sie Kraft Gottes. Denn es steht geschrieben, Ich will die Weisheit der Weisen vernichten und die Klugheit der Klugen zuschanden machen. Wo ist ein Weiser? Wo ist ein Schriftgelehrter? Wo ein Forscher dieser Welt? Hat Gott nicht die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht? Denn weil die Welt mit ihrer Weisheit Gott in Seiner Weisheit nicht erkannte, hat es Gott gefallen, durch die Torheit der Predigt jene zu retten, die da glauben“ (1 Kor 1, 18-21).

Selige John Henry Newman, Deutsche Predigten Schwabenverlag, Stuttgart 1950, Band II, 2, 22-35.