Geistige Enge im Religiösen

Veröffentlicht in: Predigten | 0
"Ein gutes Gedächtnis offenbart noch kein Genie, so wie ein Wörterbuch keine Literatur ist." Sel. John Henry Newman
„Ein gutes Gedächtnis offenbart noch kein Genie, so wie ein Wörterbuch keine Literatur ist.“ Sel. John Henry Newman

8. Predigt vom 4. Dezember 1831

„Siehe, ich diene dir so viele Jahre und habe nie­mals dein Gebot übertreten; aber nie hast du mir ein Zicklein gegeben, daß ich mit meinen Freun­den hätte ein Freudenmahl halten können“ (Lk 15, 29).

 

Im Allgemeinen herrscht Übereinstimmung zwischen diesem Gleichnis und jenem von den zwei Söhnen im Matthäusevangelium, die ihr Vater zur Arbeit in seinen Weinberg sandte; aber sie unter­scheiden sich in der Haltung, die der nach außen hin gehorsame Sohn zeigt. Beim heiligen Matthäus sagt dieser: „Ich gehe, Herr, ging aber nicht“ (Mt 21.30); im vorliegenden Gleichnis gehört er einer ganz anderen Klasse von Christen an, wenngleich auch er seine Fehler hat. Nichts beweist, daß er in seinen Worten unaufrichtig ist, obwohl er im Vor­spruch sich in einer sehr unschicklichen und törich­ten Weise beklagt. Er gleicht beträchtlich den Arbeitern im Weinberg, die sich über ihren Herrn beklagten, obschon jene mit größerer Strenge be­handelt werden. Der ältere Bruder des verlorenen Sohnes beklagte sich über die Güte seines Vaters gegen den reuigen Büßer; die Arbeiter im Wein­berg murrten über den gütigen Hausvater, weil er jene einstellte und ebenso freigebig wie sie selbst entlohnte, obwohl sie erst spät in seinen Dienst getreten waren. Sie indessen redeten in Selbstsucht und Anmaßung; er jedoch, wie es scheinen möchte, in Bestürzung und in seelischer Betrübnis. Daher wurde er von seinem Vater getröstet, der ihn liebe­voll über den Grund seiner Handlungsweise auf­klärte. „Mein Sohn, du bist immer bei mir“, sagt er, „und all das Meinige ist dein. Aber ein Freuden­mahl mußte gehalten werden, denn dieser dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wieder gefunden worden“.

Versuchen wir nun die Gefühle des älteren Bruders zu verstehen und das Bild auf die Umstände anzu­wenden, in denen wir uns gegenwärtig selbst be­finden.

Zunächst schien das Verhalten des Vaters auf den ersten Blick ein offensichtliches Abweichen von den Regeln der Billigkeit und Gerechtigkeit zu sein. Hier wurde ein verkommener Sohn bei den ersten Anzeichen der Reue in seine Gunst aufgenommen. Was nützte es, ihm pflichtgetreu zu dienen, wenn es am Ende keinen Unterschied zwischen den Ge­rechten und Ungerechten gab? Das ist es, was wir fühlen und wonach wir im Leben beständig han­deln. Bei der Unterstützung der Armen ist z. B. ein Hauptziel, zur Tugend des Fleißes und der Sparsamkeit anzuspornen; und es ist klar, wir wür­den die Besseren verletzen und enttäuschen und würden unser Ziel verfehlen, wenn wir schließlich die Verschiedenheit ihres Verhaltens nicht in Be­tracht zögen, sondern gegen alle Abmachung denen, die weder arbeiten noch sparen, die gleichen Wohl­taten erwiesen wie denen, die dies tun. Der Fall des älteren Bruders lag schwierig, auch wenn man nicht annimmt, er sei eifersüchtig oder er habe unpassende Vorstellungen von seiner eigenen Wichtigkeit und Nützlichkeit. Wendet das auf die Religion an, und es gilt auch da noch. Auf den ersten Blick scheint die Aufnahme des reuigen Sünders mit der Belohnung des treuen Knechtes Gottes nicht vereinbar zu sein. Gerade wie die Bösen die Verheißung der Verzeihung mißbrau­chen, um sich zur Fortsetzung ihres Sündenlebens zu ermutigen, damit die Gnade überreich sein könne, so verstehen anderseits die Guten sie falsch und lassen sich entmutigen. Denn worin be­steht unser großer Halt und Trost inmitten der Wirrnisse dieser Welt? In der Wahrheit und Ge­rechtigkeit Gottes. Das ist unser einziges Licht in­mitten der Finsternis. „Er liebt die Gerechtigkeit und hasset das Unrecht“ (Ps 44,8); „gerecht und gerade ist Er“ (Dt 32,4). Wo anders sollten wir auf der ganzen Welt Ruhe finden für unseren Fuß? Beachtet, wie geheimnisvoll alle Dinge liegen; die Bösen sind die ersten an Macht und Namen, und die Gerechten sind körperlichem Schmerz und seeli­schem Leiden unterworfen, als dienten sie Gott nicht. Welch eine Versuchung für den Unglauben! Der Psalmist fühlte es, als er vom Wohlergehen der Bösen sprach. „Siehe, sie sind Sünder und ha­ben doch Überfluß in der Welt; sie nehmen zu an Reichtum. Wahrhaftig, ich habe umsonst gerecht gemacht mein Herz und meine Hände in Unschuld gewaschen“ (Ps 72,12.13). Um dieser Schwierig­keit zu begegnen, hat Gott Sich immer wieder ge­würdigt, die unerschütterliche Regel Seiner Welt­regierung zu erklären — Gnade dem Gehorsamen, Strafe dem Sünder; daß es „bei Ihm kein Ansehen der Person gibt“ (Rom 2,11); daß „die Gerechtigkeit des Gerechten auf ihm bleibt und die Missetat des Gottlosen auf ihm bleibt“ (Ez 18,20). Bedenkt, wie oft das im Buch der Psalmen ausgesprochen wird. „Der Herr kennt den Weg der Gerechten; aber der Wandel der Gottlosen führt zum Ver­derben“ (Ps 1,6). „Der gerechte Herr liebt die Ge­rechtigkeit; Sein Angesicht schaut auf Billigkeit“ (Ps 10,8). „Mit dem Barmherzigen wirst Du barm­herzig sein; mit dem Gerechten wirst Du gerecht sein. Mit dem Reinen wirst du rein sein und mit dem Verkehrten verkehrt. Denn dem demütigen Volk wirst Du helfen; die stolzen Augen aber wirst Du demütigen“ (Ps 17,25—28). „Viele Geißeln kommen über den Sünder; wer aber auf den Herrn vertraut, den wird Barmherzigkeit umfangen“ (Ps31,10). „Tu Gutes, Herr, den Guten“ (Ps 124,4). Diese Aussprüche und zahllose ähnliche sind uns allen vertraut; und warum sind sie, wie ich betonen möchte, so zahlreich, wenn nicht darum, daß uns jener eine, feste Grund gezeigt würde, auf dem der Glaube ruhen kann, während alles rings um uns sich ändert und uns enttäuscht, d. h. daß wir des Friedens am Ende ganz sicher seien, so schlimm es jetzt auch ausschauen mag, wenn wir nur der Richt­schnur des Gewissens folgen, die Sünde meiden und Gott gehorchen? Deshalb sagt uns der heilige Pau­lus, daß „der, welcher zu Gott kommen will, glau­ben muß, daß Er der Belohner derer ist, die ge­wissenhaft nach Ihm suchen“ (Hebr 11 6). Wenn wir daher die Ungleichheiten der gegenwärtigen Welt beobachten, trösten wir uns mit dem Gedan­ken, daß sie in einer anderen ausgeglichen werden. Die Wiederbelebung des Sünders scheint dieses Vertrauen zu durchkreuzen; sie scheint auf den ersten Blick Böse und Gute auf eine Ebene zu stellen. Und das Gefühl, das sie im Geist auslöst, wird in dem Gleichnis mit den Worten des Vor­spruchs ausgedrückt: „Ich diene Dir so viele Jahre und habe niemals Dein Gebot übertreten“, ich bin jedoch nie mit jener besonderen Freude eingeladen und geehrt worden, die Du gegen den reuigen Sün­der zeigst. Dies ist der Ausdruck eines erregten Gemütes, das fürchtet, in die weite Welt zurückgestoßen zu werden, um im Dunkeln umherzutasten, ohne Gottes Führung und Ermutigung auf seinem Pfad.

Die herablassende Antwort des Vaters in dem Gleichnis ist sehr lehrreich. Sie bestätigt die große Wahrheit, die in Gefahr zu sein schien, nämlich: daß es letztlich nicht dasselbe ist, zu gehorchen oder nicht zu gehorchen; sie sagt uns ausdrücklich, daß der reuige Christ nicht auf eine Stufe mit denen gestellt wird, die von Anfang an beharrlich Gott gedient haben. „Mein Sohn, du bist immer bei Mir, und all das Meinige ist dein“; d. h. warum diese plötzliche Furcht und dieses Mißtrauen? Kann es irgendein Mißverständnis deinerseits geben, weil ich deinen Bruder willkommen heiße? Verstehst du Mich noch nicht? Sicher kennst du Mich zu lange, als daß du annehmen könntest, du würdest durch seinen Gewinn verlieren. Du hast Mein Vertrauen. Ich stelle die Güte gegen dich in keiner Weise zur Schau; denn das ist eine Selbstverständlichkeit. Wir spenden Lob und machen Versicherungen Frem­den, nicht Freunden. Du bist Mein Erbe, all das Meinige ist dein. „Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?“ (Mt 14,31). Wer hätte gedacht, daß man dir Wahrheiten sagen müßte, die du dein ganzes Leben lang gehört hast? Du bist immer bei Mir; kannst du es Mir wirklich verübeln, daß Ich durch eine einzige Tat der Freude Meine Befriedi­gung über die Wiedergewinnung des Sünders zeige und mit dem Versprechen gnädigen Erbarmens den tröste, der unter der Furcht der verdienten Strafe zusammenbrach, noch ehe er davon hörte? „Ein Freudenmahl mußte gehalten werden“, von dir ebenso wie von deinem Vater. — Das ist die Ant­wort unseres barmherzigen Gottes an Seine arg­wöhnischen Diener, die meinen, Er könne dem Sün­der nicht verzeihen, ohne Seine Huld ihnen selbst zu entziehen; und sie enthält sowohl eine Aufmun­terung für den verwirrten Gläubigen, Ihm nicht zu mißtrauen, wie auch die Warnung an den Unge­horsamen, anzunehmen, daß Reue alles gerade und eben mache und den Menschen an den gleichen Platz stelle, so als wäre er nie von der verliehenen Gnade abgewichen.

Aber wir wollen nun die unwürdige Denkweise beachten, die im Benehmen des älteren Bruders zum Vorschein kommt. „Er war zornig und wollte nicht“ in das Haus „hineingehen“. Wie kann das bei uns zutreffen?

Es steckt ein gutes Stück Schwachheit und Torheit selbst in dem besseren Teil der Menschen. Dies darf uns nicht wundernehmen, angesichts des ur­sprünglich verderbten Zustandes ihrer Natur, wie sehr man ihn auch beklagen, bereuen und verbes­sern muß. Die Guten sind wie Elias „von Eifer entbrannt für den Herrn, den Gott der Heerscha­ren“ (3 Kg 19,10), und recht bemüht, Seine Zeichen ringsum zu sehen, die Unterpfänder Seiner unver­änderlichen gerechten Weltregierung; aber dann vermengen sie mit solch guten Gefühlen ungebühr­liche Vorstellungen von der eigenen Wichtigkeit, ohne sich dessen bewußt zu sein. Dies war anscheinend die Geisteshaltung, von der die Klage des älteren Bruders diktiert war.

Besonders kommt dies bei denen vor, die die bevor­zugtesten Stellungen in der Kirche innehaben. Jede Stellung hat ihre eigene Versuchung. Ruhe und Friede, diese überaus großen Segnungen, bilden die Prüfung der Christen, die sie genießen. In die Welt geworfen werden und das Leben sehen (wie man sagt) ist eine Eitelkeit und „stürzt“ den Un­beständigen „in Untergang und Verderben“ (1Tim 6,9); aber während einerseits ein religiöser Mensch selbst in dem Pesthauch der Welt und bei ungesun­der Nahrung gedeihen kann, so kann er anderseits, wenn er sich nicht davor in acht nimmt, krank werden gerade wegen der Überfülle der Vorteile, die ihm in friedlichen Verhältnissen gewährt wer­den. Der ältere Bruder hatte immer zu Hause ge­lebt; er hatte gesehen, wie gleichmäßig die Dinge dahingingen, und gleichmäßig verlief, was nur na­türlich und recht war, auch sein Leben, das an ihnen hing. Aber dann konnte er nicht begreifen, daß sie möglicherweise eine andere Richtung einschlagen könnten; er meinte, die Wege und Grundsätze sei­nes Vaters viel besser zu verstehen, als es der Fall war, und da ein Ereignis eintrat in einer Gestalt, die ihm seither noch nicht begegnet war, verlor er sich selbst; er wurde plötzlich aus dem engen Kreis hinausgestoßen, in dem er bisher gewandelt war. Er war außer Fassung gebracht und erzürnt über seinen Vater. Darum müssen wir auf dem Gebiet der Religion uns bewahren vor jener Geistesenge, zu der wir durch die Gleichmäßigkeit und Stetig­keit der göttlichen Vorsehung versucht werden. Wir sollten uns vor der Annahme hüten, eine solch klare Erkenntnis der Wege Gottes zu haben, daß wir uns unbedingt auf unsere eigenen Vorstellungen und Gefühle verlassen können. Manche Menschen legen diesem oder jenem Punkt in den überkommenen Ansichten und Übungen eine ungebührliche Be­deutung bei und können nicht verstehen, daß Got­tes Segen einer Handlungsweise zuteil werden kann, die ihnen selbst fremd ist. So glaubten die Juden, die Religion würde untergehen, wenn der Tempel zerstört wäre, und doch hat sie sich in Wirklichkeit weithin verbreitet und ist wunder­barer aufgeblüht als je zuvor. In dieser geistigen Unsicherheit ist die katholische Kirche unser gott­gewollter Wegweiser, der uns von einer engen Auslegung der Schrift, von örtlich bedingten Vor­urteilen und von den Aufregungen des Tages fern­hält. Durch ihre klarsehende und tröstliche Beleh­rung verscheucht sie jene beängstigenden, von uns selbst geformten Schreckgesichte. Ich habe aber noch nicht den äußersten Krankheits­zustand beschrieben, zu dem der Segen des Friedens unbedachtsame Christen führt. Sie werden nicht nur allzu sicher wegen ihrer Kenntnis der Wege Gottes, sondern rechthaberisch in ihrer allzu großen Sicherheit. Sie dulden keinen Widerspruch gegen ihre Ansichten und klammern sich im allgemeinen fest gerade an die Punkte, die ganz besonders von ihnen selbst erdacht sind. Sie vergessen, daß alle Menschen bestenfalls Lehrlinge in der Schule der göttlichen Wahrheit sind, daß sie selbst immer Ler­nende sein sollten und daß sie von der Wahrheit ihres Bekenntnisses überzeugt sein könnten, ohne darum in den Einzelheiten religiöser Ansichten eine ähnliche Sicherheit zu haben. Sie sehen es als einen viel bequemeren Standpunkt, als viel ange­nehmer für die Trägheit der menschlichen Natur an, das Suchen aufzugeben und zu glauben, sie hätten nichts mehr zu finden. Ein echter Glaube ist immer rege und wach, mit offenen Augen und Ohren für die Winke des göttlichen Willens, mag Er durch die Natur oder die Gnade sprechen. „Auf meine Warte will ich mich stellen, und meinen Fuß auf die Feste setzen; ich will umschauen, um zu sehen, was Er mir sagen wird und was ich antwor­ten soll, wenn ich getadelt werde“ (Hab 2,1). Dies ist jener Glaube, aus dem (wie der Prophet fort­fährt) „der Gerechte leben wird“. Auch der Psalmist drückt diese harrende Haltung aus. „Zu Dir erhebe ich meine Augen, der Du wohnst im Himmel. Siehe, wie der Knechte Augen auf ihrer Herren Hände und wie die Augen der Magd auf ihrer Gebieterin Hände schauen“ (Ps 122,1.2). Aber jene, die lange sich der Huld Gottes ohne Wolken oder Sturm er­freut haben, werden tatsächlich sicher. Sie empfin­den nicht die Größe der Gabe. Sie werden gern anmaßend und dadurch ehrfurchtslos. Der ältere Bruder benahm sich zu frei gegen seinen Vater. Unehrerbietigkeit ist die dem Glauben gerade ent­gegengesetzte Haltung. „Mein Sohn, du bist immer bei mir und all das Meinige ist dein.“ Diese über­aus huldvolle Wahrheit war die eigentliche Ursache seines Murrens. Wenn die Christen nur wenig haben, sind sie dankbar; sie sammeln freudig die Brosamen unter dem Tisch. Gibt man ihnen viel, vergessen sie bald, daß es viel ist; und wenn sie sehen, daß es nicht alles ist und daß Gott auch für andere, sogar für reuige Sünder noch etwas Gutes bereit hält, sind sie sofort beleidigt. Ohne in Wor­ten ihre eigene natürliche Unwürdigkeit zu leugnen und obwohl sie immer noch bis zu einem gewissen Punkt wirklich von ihr überzeugt sind, steckt nichts destoweniger irgendeine gewisse geheime Überheb­lichkeit in ihnen; wenigstens handeln sie, als glaub­ten sie, daß die christlichen Vorrechte auf Grund einer Art Billigkeit ihnen in höherem Maße als den anderen gehörten. Sie lieben es, von seiten der Welt Achtung zu genießen, und sind eifersüchtig auf alles, was voraussichtlich die Fortdauer ihres Ansehens und ihres Einflusses durchkreuzt. Vielleicht haben sie sich auch gewissen überkommenen Ansichten verpfändet, und das ist ein weiterer Grund für ihren Argwohn gegen alles, was ihnen neu ist. Da­her sind solche Leute am wenigsten geeignet, in schwierigen Zeiten sich zurechtzufinden. Gott wirkt auf wunderbare Weise in der Welt; und zu gewis­sen Zeiten nimmt Seine Vorsehung eine neue Ge­stalt an. Die Religion scheint zu versagen, während sie nur ihre Form ändert. Gott scheint für einen Augenblick Seine eigenen erwählten Werkzeuge aufzugeben und die Ehre solchen zukommen zu las­sen, die in offenem Ungehorsam gegen Seine Ge­bote stehen. Er wirkt z. B. bisweilen Gutes durch Böse, oder scheint die Anstrengungen derer mehr zu segnen, die sich von Seiner heiligen Kirche ge­trennt haben, als die Seiner treuen Arbeiter. Darin besteht für den Christen die Prüfung seines Glau­bens. Wenn der Sachverhalt so liegt, darf ihm der Christ nicht Widerstand leisten, damit er nicht etwa als Anführer gegen Gott erfunden werde, noch darf er sich darüber beklagen wie der ältere Bruder. Im Gegenteil, er muß alles als Gabe Gottes hin­nehmen, an seinen Grundsätzen festhalten und darf sie nicht aufgeben, weil der  äußere Schein im Augenblick gegen sie spricht, sondern muß glauben, daß schließlich alle Dinge wieder ins Geleise kom­men. Anderseits darf er nicht aufhören, Gott zu bitten und sich selbst zu bemühen: um die Gesin­nung eines klar denkenden Geistes, um die Fähig­keit, die Wahrheit vom Irrtum zu scheiden und die Geister zu prüfen, um die Neigung, sich Gottes Weisung zu unterwerfen, und um die Weisheit zu handeln, wie es der mannigfache Lauf der Dinge erfordert; mit einem Wort, um einen Anteil an jenem Geist, der auf dem großen Apostel Paulus ruhte.

Ich habe es für recht erachtet, mich über das Ver­halten des älteren Bruders in dem Gleichnis zu ver­breiten, weil etwas von seinem Charakter vielleicht auch bei uns anzutreffen ist. Wir haben lange die unschätzbaren Segnungen des Friedens und der Ruhe genossen. Wir verdienen nicht den geringsten göttlichen Hulderweis, noch viel weniger den größ­ten. Aber in der Segnung ist auch die Versuchung enthalten. Hüten wir uns also davor, unser glück­liches Los zu mißbrauchen, solange wir es haben, sonst könnten wir es verlieren, weil wir es miß­brauchten. Nehmen wir uns in acht vor Unzu­friedenheit in irgendeiner Form; und da wir hören müssen, was in der Welt vor sich geht, wollen wir uns dabei vor allen unbeherrschten, lieblosen Ge­fühlen gegen jene hüten, die anders denken oder uns widerstehen. Beten wir für unsere Feinde; ver­suchen wir, die Menschen für so gut zu halten, als man sie mit Fug und Sicherheit ansehen kann; freuen wir uns über alle Anzeichen der Reue oder alle Merkmale guter Grundsätze bei denen, die auf der Seite des Irrtums sind. Seien wir versöhnlich. Streben wir danach, sehr demütig zu sein, unsere Unwissenheit einzusehen und beständig uns auf die erleuchtende Gnade unseres großen Meisters zu verlassen. Seien wir „langsam zum Reden, langsam zum Zorn“ (Jak 1,19); — wir wollen nicht unsere Grundsätze aufgeben oder davor zurück­schrecken, sie zu bekennen, wenn es angebracht ist, oder auf die Seite des Irrtums treten oder die Fol­gen fürchten, sondern immer aus Pflichtgefühl han­deln, nicht aus Leidenschaft, Stolz, Eifersucht oder einer ungläubigen Furcht vor der Zukunft; wir wol­len feinfühlig sein, auch wenn wir Grund haben, mit Strenge zu handeln. „Mein Sohn, du bist immer bei Mir, und all das Meinige ist dein.“ Welch eine gnädige Verheißung, wenn wir sie nur ganz begrei­fen könnten! Und wie tröstlich, sofern wir Grund haben zu der Hoffnung, weiterhin Gottes Willen kennenzulernen, und sofern wir in Seinem Glauben und in Seiner Furcht leben! Was soll jene beun­ruhigen, die Christi Kraft haben, oder jene neidisch machen, die Christi Fülle besitzen? Wie gelassen sollten wir daher zusehen und wie entschlossen die kleinlichen Bemühungen einer bösen Welt ertragen und dabei ernstlich an nichts anderes denken als an die Seelen derer, die in ihr zugrunde gehen!

„Ich, Ich selbst will euch trösten“, sagt Gott; „wer bist du, daß du dich fürchtest vor sterblichen Men­schen, vor Menschenkindern, die wie Gras verdor­ren; daß du vergissest des Herrn, deines Schöpfers; daß du dich fürchtest stets den ganzen Tag vor der Wut deines Peinigers, der bereit ist, dich zu ver­derben? Und wo ist nun die Wut deines Peinigers? Ich bin der Herr, dein Gott; Ich lege Meine Worte in deinen Mund und mit dem Schatten Meiner Hände bedecke Ich dich, auf daß Ich die Himmel pflanzen kann und die Erde gründen und zu Sion sagen: Mein Volk bist du“ (Is 51,12.13.15.16).

 Newman John Henry, Pfarr- und Volkspredigten, DP III, 8, Schwabenverlag, Stuttgart 1951, 115-126.