Erlösendes Wissen

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14. Predigt, (Januar oder Februar 1835)

Montag in der Osterwoche

„Daraus ersehen wir, daß wir Ihn kennen, wenn wir Seine Gebote halten“ (1 Joh 2, 3).

Gott und Christus erkennen, scheint in der Sprache der Schrift zu bedeuten: in der Überzeugung leben, daß Er gegenwärtig ist, den unser leibliches Auge nicht sehen kann. Das will wirklich nichts anderes sagen als glauben, und glauben bedeutet nach der Beschreibung des heiligen Paulus: ein Festhalten und ein sicheres Überzeugtsein von dem, was man nicht sieht. Dieses Erkennen ist Glaube, aber kein solcher, den auch ein Heide haben könnte, sondern der Glaube des Evangeliums; denn nur im Evangelium hat Gott Sich so geoffenbart, daß jene Art von Glaube möglich ist, die in einer besonderen Weise Erkenntnis genannt werden kann. Der Glaube der Heiden war blind; er war mehr oder weniger ein Sichvorwärtsbewegen im Dunkel auf Händen und Füßen; – daher sagt der Apostel, „ob sie Ihn etwa ertasten möchten“ (Apg 17, 27). Das Evangelium ist ein Sichtbarmachen und daher an die Augen unseres Geistes gerichtet. Der Glaube bleibt das gleiche Prinzip wie zuvor, aber mit der Möglichkeit, mittels eines gewisseren und befriedigenderen Sinnes zu handeln. Wir erkennen die Gegenstände mit dem Auge sofort; aber nicht mit dem Tastsinn. Wir erkennen sie, wenn wir sie sehen, aber kaum vorher. Daher kommt es, daß das Neue Testament so viel von geistiger Erkenntnis spricht. So betet der heilige Paulus, daß die Epheser „den Geist der Weisheit und Offenbarung zur Erkenntnis Christi“ empfangen mögen, daß „die Augen ihres Geistes erleuchtet seien“ (Eph 1, 17. 18), und er sagt, daß die Kolosser „den neuen Menschen angezogen haben, der erneuert ist in der Erkenntnis nach dem Bild Dessen, der ihn geschaffen hat“ (Kol 3, 10). In ähnlicher Weise wendet sich der heilige Petrus an seine Brüder mit dem Gruß: „Gnade und Friede durch die Erkenntnis Gottes und Jesu, unseres Herrn“ (2 Petr 1, 2); in Übereinstimmung mit der Erklärung des Herrn Selbst: „Das ist das ewige Leben, Dich, den allein wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den Du gesandt hast“ (Joh 17, 3). Das ist natürlich nicht so gemeint, als ob der christliche Glaube nicht noch überreiche Betätigung auch für die anderen sogenannten Seelensinne ließe; sondern daß das Auge sein besonderer Sinn ist, wodurch er vom Glauben der Heiden, ja, ich kann hinzufügen, der Juden sich unterscheidet.

Es ist klar, welches der Gegenstand der übernatürlichen Schau ist, die uns im Evangelium gewährt wird, – „Gott geoffenbart im Fleische“ (1 Tim 3, 16). Er, der vorher unsichtbar war, hat Sich in Christus gezeigt; Er entfaltete nicht nur Seine Herrlichkeit, wie z. B. in einer sogenannten Vorsehung oder Heimsuchung oder in Wundern oder in den Taten und dem Charakter gotterfüllter Männer, sondern Er Selbst ist wirklich auf die Erde gekommen und ist von Menschen in Menschengestalt gesehen worden. In der gleichen Weise, in der wir sagen könnten, daß wir einen Seiner Diener, einen Apostel oder Propheten, sahen, obwohl wir seine Seele nicht zu sehen vermochten, so hat der Mensch den unsichtbaren Gott gesehen; und in den Evangelien haben wir den Bericht von Seinem Verweilen unter Seinen Geschöpfen.

Gott erkennen ist ewiges Leben, und an das Evangelium als an die Offenbarung über Ihn glauben, heißt Ihn erkennen; aber wie sollen wir „wissen, daß wir Ihn erkennen?“ Wie sollen wir sicher sein, daß wir nicht einen unserer eigenen Träume mit echter und klarer Schau verwechseln? Wie können wir sagen, daß wir nicht Beobachtern gleichen, die ein fernes Objekt durch eine trübe Atmosphäre hindurch sehen und einen Gegenstand fälschlich für einen anderen halten? Der Vorspruch antwortet uns klar und verständlich; obwohl manche Christen zu anderen Beweisen ihre Zuflucht nehmen oder nicht die Geduld aufbringen, sich diese Frage vorzulegen. Sie sagen, sie seien ganz sicher, daß sie echten Glauben haben; denn der Glaube trage seinen eigenen Beweis in sich selbst und lasse keine Verwechslung zu, da die echte übernatürliche Überzeugung allen anderen unähnlich sei. Anderseits sagt der heilige Johannes: „Daraus ersehen wir, daß wir Ihn erkennen, wenn wir Seine Gebote halten.“ Der Gehorsam ist der Prüfstein des Glaubens.

So ist die ganze Pflicht und Arbeit eines Christen auf diesen beiden Teilen aufgebaut, auf Glaube und Gehorsam; „er sieht auf Jesus“ (Hebr 2, 9), den göttlichen Gegenstand wie auch den Begründer unseres Glaubens, und handelt nach Seinem Willen. Nicht als ob eine gewisse Geisteshaltung, gewisse Begriffe, Empfindungen, Gefühle und Gemütsstimmungen nicht eine notwendige Bedingung eines Heilszustandes wären. Aber der Apostel besteht tatsächlich nicht auf diesen, als ob sie sicher folgten; es genügt, wenn nur unsere Herzen wachsen in diesen zwei Hauptstücken, nämlich Gott in Christus zu sehen und sorgfältig danach zu streben, Ihm in unserer Lebensführung zu gehorchen.

Wir sind, scheint mir, heute in der Gefahr, auf keines von beiden Gewicht zu legen, wie wir sollten. Wir sehen alle wahre und sorgfältige Betrachtung des Glaubensinhaltes als unfruchtbare Orthodoxie, technische Spitzfindigkeit und dergleichen und den ganzen wahren Ernst hinsichtlich der guten Werke als eine bloß kalte und steife Sittlichkeit an. Infolgedessen lassen wir Religion oder vielmehr (denn das ist hier der springende Punkt) den Beweis unserer Frömmigkeit in dem Besitz eines sogenannten geistlichen Gemütszustandes bestehen und vernachlässigen im Verhältnis dazu den Gegenstand, aus dem die Religion entspringen muß, und die Werke, die daraus hervorgehen sollten. In dieser Festzeit, da wir besonders damit beschäftigt sind, den vollen Triumph und die volle Offenbarung unseres Herrn und Heilandes zu betrachten, da Er „erklärt wurde als der Sohn Gottes in Kraft durch die Auferstehung von den Toten“ (Röm 1, 4), scheint es angebracht, auf einen Irrtum hinzuweisen, der uns der Wohltat Seiner Herablassung weitgehend beraubt.

Der heilige Johannes spricht vom Erkennen Christi und der Beobachtung Seiner Gebote als den beiden großen Gebieten religiöser Pflicht und Begnadung. Christus erkennen heißt (wie ich gesagt habe), in Ihm den Vater des Alls erkennen, wie Er Sich geoffenbart hat durch Seinen eingeborenen, fleischgewordenen Sohn. In der natürlichen Welt haben wir häufige und überraschende Lichtblicke Seiner wunderbaren Eigenschaften, Seiner Macht, Weisheit und Güte, Seiner Heiligkeit, Seiner furchtbaren Gerichte, Seiner langdauernden Ahndung des Bösen, Seiner Langmut mit den Sündern und Seiner ungeahnt allumfassenden Barmherzigkeit, zu Zeiten, da wir sie am wenigsten erwarten. Für uns Sterbliche aber, die wir nur einen Tag leben und eine Armeslänge weit sehen, sind solche Enthüllungen wie der Widerschein einer Gegend in einem zerbrochenen Spiegel; sie befähigen uns nicht in irgendeinem befriedigenden Sinn, Gott zu erkennen. Sie sind derart, daß der Glaube sie zwar gebrauchen, kaum aber sich ihrer erfreuen kann. Das nun war eine der Wohltaten von Christi Ankunft, daß der unsichtbare Gott damals in der Gestalt und Geschichte der Menschen geoffenbart wurde, geoffenbart nach der Seite hin, wo die Sünder Seiner Erkenntnis am meisten bedurften, und wo die Natur am wenigsten deutlich von Ihm sprach, geoffenbart nämlich als ein heiliger, jedoch barmherziger Lenker Seiner Geschöpfe. Und daher sind die Evangelien, die das Gedenken dieser wunderbaren Gnade enthalten, unsere vorzüglichsten Schätze. Man kann sie den eigentlichen Text der Offenbarung nennen, während die Briefe, besonders die des heiligen Paulus wie eine Erläuterung dazu sind, die jene in ihren verschiedenen Teilen entfalten und beleuchten, Geschichte zur Lehre erheben, Riten zu Sakramenten, kurze Aussprüche oder einzelne Handlungen zu Lehrsätzen und so überall pflichtgetreu Seine Person, Sein Werk und Seinen Willen predigen. Der heilige Johannes ist Prophet und Evangelist zugleich; er berichtet und erklärt das öffentliche Wirken des Herrn. Auf jeden Fall ist Christus aber der eigentliche Prophet der Kirche, und Seine Apostel erklären nur Seine Worte und Taten und das gemäß Seinen eigenen Worten über die ihnen verheißene Führung, die Ihn „verherrlichen“ sollte. Den gleichen Dienst leisten Ihm die Glaubensbekenntnisse und die lehrhaften Ausführungen der Frühkirche, die wir in unseren Gottesdiensten beibehalten. Sie sprechen von keinem Idealwesen, das die Einbildung allein vor sich sieht, sondern vom wahren Gottessohn, dessen Leben in den Evangelien berichtet wird. So zielt jeder Teil des Heilswerkes auf die Offenbarung Dessen hin, der sein Mittelpunkt ist.

Wenden wir den Blick von Ihm zu uns hin, so finden wir eine kurze Regel, die uns in den Worten gegeben ist: „Wenn ihr Mich liebet, so haltet Meine Gebote“ (Joh 14, 15). „Wer sagt, daß er in Ihm bleibe, der muß auch so wandeln, wie Er gewandelt ist“ (1 Joh 2, 6). „Wenn ihr nun mit Christus auferstanden seid, so suchet, was droben ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt“ (Kol 3, 1). Das ist alles, was uns auferlegt wird, zwar schwierig auszuführen, aber leicht zu verstehen; alles, was uns auferlegt wird, – und zwar aus dem einfachen Grund, weil Christus alles andere getan hat. Er hat uns frei erwählt, ist für uns gestorben, hat uns wiedergeboren und lebt jetzt immerdar für uns; was bleibt noch übrig? Einfach, daß wir tun sollen, was Er für uns getan hat, nämlich Seine Herrlichkeit durch gute Werke offenbaren. So besteht die ganze Pflicht des Menschen in einem richtigen, (oder wie wir gewöhnlich uns ausdrücken) in einem orthodoxen Glauben und in einem gehorsamen Leben. Und ganz sicher ist dies immer so angesehen worden. Tut einen Blick in die Geschichte der Frühkirche oder in die Schriften unserer eigenen verehrten Bischöfe und Lehrer und seht, ob das nicht der gesamte Inhalt der Religion ist gemäß ihren Glaubensregeln, in denen die Kinder unterrichtet werden, nämlich dem Glaubensbekenntnis, dem Herrengebet und den zehn Geboten.

Indessen wird der Einwand gemacht, daß eine solche Betrachtungsweise der religiösen Pflicht die Selbsttäuschung begünstige; daß ein Mann, der nicht mehr tue als recht glauben und Gottes Gebote halten, ein sogenannter Formalist sei; daß sein Herz an der Sache keinen Anteil nehme, seine Neigungen unerneuert blieben; und daß, solange nicht eine Veränderung stattfinde, aller Glaube und aller Gehorsam, die der Geist sich aussinnen kann, nur äußerlich seien und nichts frommten; daß wir daher an sein Herz uns wenden müßten, daß wir ihm zureden müßten, sich selbst zu erforschen, seine Beweggründe zu prüfen, genau aufzupassen, daß er sich nicht auf sich selbst verläßt, und sicher zu sein, daß seine Gefühle und Gedanken fromm sind, noch ehe er irgendeinen Trost für sich daraus schöpft. Der Wert dieser Betrachtungsweise der Religion soll nachher erwogen werden; jetzt wollen wir sie nur im Licht eines Einwandes gegen obige Darlegung sehen. Ich stelle die Gegenfrage, wie soll jemand wissen, daß seine Beweggründe und Neigungen echt sind, außer durch ihre Früchte? Können sie vielleicht ihr eigener Beweis sein? Sind sie wie Farben, die einer sofort ohne Prüfung oder Berechnung kennt? Entspricht nicht jedes Empfinden und jede Meinung von dieser oder jener Färbung, angenehm oder unangenehm, je nach dem Urteil eines jeden, dem inneren Licht, das in seiner Seele leuchtet? Ist nicht das Licht, das im Menschen wohnt, bisweilen sogar Dunkelheit, bisweilen Zwielicht und bisweilen von dieser oder jener Tönung, indem es jeden Teil seines Selbst mit der ihm besonderen Eigenheit färbt? Wie ist es also möglich, daß jemand wirklich seine Gefühle und Neigungen durch das innere Licht prüfen kann? Wie kann er genau über ihren Charakter entscheiden, ob sie christlich sind oder nicht? Es ist also vonnöten, daß er aus sich selbst heraustritt, um das Wesen der ihn leitenden Grundsätze zu prüfen und zu ermitteln; d. h. er muß sich zu seinen Werken wenden und sie mit der Schrift vergleichen als dem einzigen Beweis für ihn, ob sein Herz vollkommen vor Gott ist oder nicht. Es scheint daher, daß die vorgeschlagene Erforschung des geistigen Schaffens überhaupt nichts bedeutet, zu keinem Ergebnis kommt und uns da verläßt, wo sie uns fand, sofern wir nicht die Vorstellung uns zu eigen machen (die indessen selten offen bekannt wird), daß religiöser Glaube sein eigener Beweis ist.

Dagegen sind Gehorsamstaten ein vernünftiger Beweis, ja der einzig mögliche Beweis, und im großen ganzen ein befriedigender Beweis für die Echtheit unseres Glaubens. Ich behaupte damit nicht, daß dieses oder jenes gute Werk etwas besagt; aber ein stetiger Gehorsam sagt viel. Mannigfache Handlungen, ausgeführt in verschiedenen Pflichtenkreisen, stützen und bezeugen sich gegenseitig. Spielte ein Mann nur die Rolle des Kühnen und Starken, so hätte er Ursache, sich zu sagen, „vielleicht ist all dies nur Stolz und Eigensinn“. Wäre er nur nachgiebig und verzeihend – so könnte es sein, daß er sich nur einer natürlichen Geistesträgheit überließe. Wäre er nur strebsam, so könnte dies zusammen gehen mit Launenhaftigkeit oder Selbstsucht. Würde er nur die Pflichten seines zeitlichen Berufes erfüllen, so hätte er keinen Beweis dafür, daß er überhaupt sein Herz Gott geschenkt hat. Es genügt nicht, daß einer nur regelmäßig in der Kirche und bei der heiligen Kommunion ist, – mancher tut das, der ein laxes Gewissen hat, der durchaus nicht ehrlich oder der tadelsüchtig oder knauserig ist. Ist er das, was man einen häuslichen Charakter nennt, freundlich, liebenswürdig, seiner Familie ergeben? Dann soll er sich davor hüten, daß er Weib und Kinder an Stelle Gottes setzt, der sie ihm gab. Ist er etwa nur mäßig, nüchtern, keusch oder einwandfrei im Reden? Das kann von bloßer Schwerfälligkeit oder Unempfindlichkeit herrühren oder kann zusammen mit geistigem Stolz bestehen. Ist er fröhlich und verbindlich? Das kann von jugendlicher Lebhaftigkeit und von Unkenntnis der Welt herkommen. Wählt er seine Freunde nach einem streng geltenden Maßstab, so kann er hart und lieblos sein, oder wenn er eifrig und willig in der Verteidigung der Wahrheit ist, so kann er doch unfähig sein, sich zu Menschen des niederen Standes herabzulassen, sich zu freuen mit denen, die sich freuen, und zu weinen mit denen, die weinen. Keiner ist ohne die eine oder andere gute Eigenschaft. Balaam fürchtete, Gottes Botschaft falsch darzustellen, Saul war tapfer, Joab war anhänglich, die Propheten von Bethel ehrten Gottes Diener, die Hexe von Endor war gastfreundlich; und daher ist natürlich keine einzelne gute Tat oder Neigung das Kriterium einer geistlichen Gesinnung. Doch hat anderseits jede gute Tat gewisse Eigenschaften, die einen geeigneten äußeren Beweis in sich tragen; und in dem Maße wie diese äußeren Handlungen sich vermehren und vervielfältigen, gewinnt der Beweis dafür an Stärke und Trost. Gewissenhaftigkeit in allem ist die einzig mögliche Sicherheit, daß wir sie haben; und darauf müssen wir hinzielen und dazu müssen wir uns entschließen, Gott beharrlich zu gehorchen, mit eifriger Sorgfalt in allen Dingen, den kleinen und großen. Das heißt in der Sprache der Schrift, „Gott mit einem vollkommenen Herzen dienen“ (Jos 24, 14); wie ihr sofort sehen werdet, wenn ihr die jeweiligen Reformen des Jehu und des Josias vergleicht. Soweit also ein Mann mit Grund hoffen kann, daß er beharrlich ist, soweit kann er demütig vertrauen, daß er echten Glauben hat. Beharrlich zu sein, „in allen Vorschriften des Herrn untadelig zu wandeln“ (Lk 1, 6), ist sein eigenes Anliegen; doch während der ganzen Zeit schaut er ehrfürchtig auf den großen Inhalt des Glaubens, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, die drei Personen, den einen Gott, und auf den um unseres Heiles willen fleischgewordenen Sohn. Sicher wird ihm das genügen, seinen Lebensweg zu lenken, mit Gott vor Augen und mit seiner Arbeit in Händen, wenngleich er neugierige Experimente mit seinen Empfindungen und Gefühlen meiden soll; falls jedoch eingeworfen wird, daß ein Beweis aus den Werken nur einen kalten Trost bildet, da er im besten Fall nur schwach und unvollständig ist, so antworte ich, daß es schließlich mehr ist als Sünder billigerweise verlangen dürfen, – daß er, mag er anfangs klein sein, mit unserem Wachstum in der Gnade wächst – und außerdem, daß ein solcher Beweis, mehr als jeder andere, uns im Glauben auf die Liebe und Güte und auf die verdienstvollen Leiden unseres Heilandes hindrängt. Es ist wahr, selbst unsere besten Taten haben jenen Makel von Sündhaftigkeit an sich, der uns beim Anblick derselben stets dorthin verweist, wo unsere wahre Hoffnung liegt. Die Menschen sind mit sich zufrieden, nicht wenn sie die Einzelheiten einer Pflicht zu erfüllen suchen, sondern wenn sie diese vernachlässigen. Ungehorsam blendet das Gewissen; Gehorsam macht es scharfsichtig und feinfühlig. Je mehr wir selbst handeln, um so mehr werden wir auf Christus vertrauen; und das ist sicher keine verdrießliche Lehre, die uns zuerst einige Sicherheit unserer Rettung gibt, soweit sie gegeben werden kann, und uns dann dazu führt, unsere selbstsüchtige Rastlosigkeit zu beschwichtigen und unsere Furcht bei dem Anblick des fleischgewordenen Gottessohnes zu vergessen.

Schließlich kann man einwenden, daß wir, um Taten des Gehorsams gut auszuführen, notgedrungen unsere Gefühle prüfen müssen, weil viele von ihnen selbst geistige Akte sind; daß wir z. B. nicht beten können, ohne bei den Gebetsworten über uns selbst nachzudenken und ohne unsere Gedanken auf Gott zu richten; daß wir Ärger oder Ungeduld nicht unterdrücken oder liebende und verstehende Gedanken hegen können, ohne uns selbst zu erforschen und zu beobachten. Aber ein solches Argument beruht auf einem Mißverständnis dessen, was ich gesagt habe. Ich möchte nur behaupten, daß unsere Pflicht in Handlungen besteht, – natürlich Handlungen jeder Art, Handlungen des Geistes so gut wie der Zunge oder der Hand; aber auf jeden Fall besteht sie hauptsächlich aus Handlungen; sie besteht nicht unmittelbar in Stimmungen und Gefühlen. Wer danach strebt, gut zu beten, aufrichtig zu lieben, ruhig zu disputieren, wie die jeweiligen Verpflichtungen sich ergeben, ist weise und religiös; aber wer unbestimmt und allgemein auf eine religiöse Seelenhaltung hinzielt, umgarnt sich mit irreführenden Worten, deren wirkliche Bedeutung darin liegt, daß sie schädlich sind. Unsere Pflicht erfüllen, wie sie uns begegnet, das ist das Geheimnis echten Glaubens und Friedens. Wir haben mit Gottes Gnade Gewalt über unsere Taten, aber wir haben keine unmittelbare Gewalt über unsere Tugenden. Sichern wir uns nur unsere Handlungen, wie Gott sie haben möchte, und unsere Tugenden werden folgen. Nehmt z. B. an, ein gewissenhafter Mann befindet sich in der Gesellschaft von Fremden; er nimmt die Dinge wie sie kommen, bespricht sie natürlich, gibt sachlich seine Meinung ab und tut Gutes, wenn die Gelegenheit sich dazu bietet. Sein Herz ist in seiner Tat und seine Gedanken ruhen mühelos in seinem Gott und Heiland. Das ist Christenart: er überläßt es den Schlechtunterrichteten, inmitten des unruhigen Lebens einer (sogenannten) religiösen Seelenhaltung nachzujagen, die in nichts anderem besteht als in eitlem Gemächtel und Gerede. Wahre religiöse Gesinnung ist für den Menschen unsichtbar wie die Seele selbst, der sie anhaftet, und wie die Seele an ihren Wirkungen erkenntlich ist, so ist sie erkenntlich an ihren Früchten.

Ich will noch hinzufügen, daß die Aufgabe der Selbstprüfung mehr darin besteht, das Schlechte in uns zu entdecken, als das Gute in uns festzustellen. Kein Schaden kann uns aus der Betrachtung unserer Sünden entstehen, solange wir uns Christus vor Augen halten und versuchen, sie zu überwinden; eine solche Selbstbeschauung führt nur zu Reue und Glaube. Und während sie das tut, wird sie zweifellos unsere Herzen in einen höheren und himmlischeren Zustand umformen; – jedoch nur mittelbar ;- gerade so wie im Handeln oder in der Kunst das rechte Maß erreicht wird, nicht indem man es unmittelbar betrachtet und darauf hinzielt, sondern negativ, indem man die Extreme meidet.

Zum Schluß: Das Wesen des Glaubens besteht darin, über uns selbst hinauszuschauen; stellt euch also vor, was das für ein Glaubender ist, der sich in seine eigenen Gedanken einsperrt und sich auf die Tätigkeit seines eigenen Geistes verläßt und an seinen Heiland als an ein Gebilde seiner Vorstellung denkt, anstatt sich selbst auszuschalten und aus Dem zu leben, der in den Evangelien spricht.

So viel also, um euch eine Sicht religiösen Glaubens nahezulegen, die in der katholischen Kirche immer vertreten wurde und die zweifellos heilbringend ist. Morgen will ich mehr im einzelnen von jenem anderen System sprechen, das die neueren Zeiten erzeugt haben.

aus: Deutsche Predigten (DP), Bd II, Schwabenverlag 1950, pp. 172-184.