Die wahre Kirche. Zur Motivation der Konversion J. H. Newmans

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Von Leo Kardinal Scheffczyk

Die folgenden Überlegungen zur Motivation der Konversion J. H. Newmans dienen nicht einem dogmatisch-systematischen Anliegen, etwa der Darstellung der theologischen Lehre Newmans über die Kirche. Diese seine Lehre über die Kirche ist in vielfacher Weise erörtert und behandelt worden[1]. Das Ziel des folgenden Referates ist ein mehr geistliches und spirituelles. Es will nicht objektiv das Kirchenverständnis Newmans ausarbeiten, sondern es will den tiefen subjektiven Impuls im Leben Newmans ausfindig machen, der seinen Lebensweg bestimmte und ihn zum katholischen Glauben führte.

Dieser tiefste Impuls lag, wenn man die Zeugnisse sachgemäß auswertet, nicht etwa nur im Streben nach der einen gültigen Wahrheit, wie es einem Philosophen anstünde; er bestand auch nicht im Streben nach persönlich religiöser Erfüllung, wie sie jedem frommen Menschen zu eigen ist: Er bestand vielmehr in der Suche und in der Sehnsucht nach der wahren Kirche; denn Newman erkannte auf seinem Lebensweg immer deutlicher, was ihm schließlich zur innersten Überzeugung wurde: Alle die genannten geistigen Güter und Werte wie Wahrheit, religiöse Gewißheit und geistliche Erfüllung sind zuletzt nur zu gewinnen, wenn es die alles umfassende Wirklichkeit und den alles tragenden Wert der Kirche gibt. So geht es in diesen Überlegungen um die Kirche in ihrer Größe, Wahrheit und Schönheit als seelische Kraft im Lebensgang Newmans.

Unter diesem mehr subjektiven Aspekt der inneren Erfahrung der Kirche im Leben Newmans erscheint Newman weniger als Lehrer von der Kirche, sondern als von der Idee und von der Wirklichkeit der Kirche innerlich Ergriffener; es geht deshalb nicht um die Geschichte seiner Lehre von der Kirche, sondern es geht um die Geschichte seiner Seele, die sich von der geistigen Macht der Kirche angezogen fühlte und auf manchen verschlungenen Wegen zur Einheit mit der Kirche gelangte. Unter diesem Aspekt betrachten wir Newman nicht so sehr als Theologen der Kirche, denn als menschliches und christliches Vorbild für eine kirchliche Existenz.

Von dem großen Theologen der Alten Kirche, dem Alexandriner Origenes (+ 254), den Newman auch gut kannte[2], stammt das Wort, das jeder Christ eigentlich eine „anima ecclesiastica“ sein solle, eine von der Kirche durchdrungene Existenz. Diese Kennzeichnung des Charakters eines wahren Christen hat sich an Newman in seinem Lebensweg vollauf erfüllt. Er kann uns deshalb ein leuchtendes Beispiel sein für die Einheit von christlichem Leben und Kirche, ein Beispiel das uns heute besonders ansprechen muß in einer Zeit, da die Kirche, wenigstens in Europa, von den Menschen und selbst von den Christen immer weniger verstanden und geliebt wird. Newman suchte die Kirche zeit seines Lebens, aber am Anfang in mehr tastender, unbewußter Weise, so daß er noch keine Verpflichtung gegenüber dieser Gemeinschaft als einem höchsten Wert und einer unbedingten Notwendigkeit empfand. Deshalb läßt sich diese erste Phase umschreiben als die Zeit des unbewußten Sehnens nach der Kirche.

1) Das unbewußte Sehnen nach der „Bekehrung“

Man könnte gegen diese Aussage vom unbewußten Sehnen des jungen Newman nach der Kirche einwenden, daß er doch von Herkunft her Anglikaner war und in dieser Kirche lebte. Aber es ist etwas anderes, in einer Kirche zu leben oder ein volles Bewußtsein von ihrem Wert, ihrer Bedeutung und ihrer Notwendigkeit zu besitzen. Dieses Bewußtsein besaß der junge Newman tatsächlich nicht. Das bestätigt einer seiner Biographen mit der Feststellung: „Die kirchlichen und religiösen Einflüsse, denen Newman in seiner Jugend ausgesetzt war, waren nicht dazu angetan, ihm den Sinn und die Bedeutung der Kirche zum Bewußtsein zu bringen“[3].

In der liberalen Bildungswelt von Newmans Schule und Elternhaus existierte diese Kirche nicht als geistige Kraft und als religiöse Größe. Die ihn als Schüler beeindruckenden Kräfte waren die klassische Bildung, die Musik und die zeitgenössischen Dichter wie der Romantiker Walter Scott (+ 1832)[4]. Allerdings entwickelte er auch eine Vorliebe für das Bibellesen, an dem sich freilich mehr seine Phantasie erfreute als sein Geist innerlich nährte[5].

Trotzdem ereignete sich in dieser Zeit bei dem fünfzehnjährigen Schüler ein religiöses Erwachen, das von Rev. Walter Mayer angeregt war, welcher sich einen Fundus von kalvinistischen Überzeugungen mitten in der liberalistischen Dürre der anglikanischen Kirche bewahrt hatte. Es war gewiß ein Zeichen für das sich hier schon meldende Wahrheitsstreben, wenn der junge Newman von seinem Lehrer damals die Überzeugung annahm, daß es im religiösen Leben ein festes Bekenntnis und ein Dogma geben müsse[6], was man als das erste Aufleuchten eines katholischen Grundgedankens ansprechen könnte. Dieser Grundgedanke hatte aber nur eine sehr schmale Basis. Er bestand in der Gewißheit von „Himmel und Hölle, von Gottes Huld und Gottes Zorn, vom gerechtfertigten und nicht gerechtfertigten Menschen“[7]. Im zweiten Teil des Jahres 1816 spielte sich dann die Entwicklung ab, die er später als seine „Bekehrung“ bezeichnete, die Verwandlung zu einem inneren Leben in geistiger Distanz von der Welt und im Streben nach Heiligung des Lebens[8]. In diesem Umschwung seines Geistes erfuhr er auch die Berufung zu einem zölibatären Leben, dem er sich von nun an zeitlebens verpflichtet fühlte.

Man könnte nun meinen, daß diese Ereignisse: die Erkenntnis von feststehender Wahrheit, die den Christen heute z.B. weithin abhanden gekommen ist, ferner der Glaube an die Existenz eines Dogmas und die Verpflichtung zu einem ehelosen Leben doch schon deutliche Marksteine auf dem Weg zum Katholizismus gewesen wären. Das kann man im Nachhinein, beim Rückblick auf die Geschichte dieses Lebens sagen. Aber der Betroffene selbst, der junge Newman, konnte dies so nicht sehen und verstehen. Er wußte nur, daß er noch nicht am Ziele war und daß er, wie er später einmal bekannte, wie die Israeliten hinter einer Wolke einherging, die „ihm voranging und ihn führte“[9]. So sammelte er auf seinem Wege mit seinen geistlichen Erfahrungen zwar gewisse Elemente, die zum Wesen der Kirche gehören, aber die bei weitem noch nicht das Ganze bilden. So könnte man bezüglich der Anfänge der Entwicklung Newmans zur Kirche hin das Goethewort verwenden: „Die Teile halt ich in der Hand, allein es fehlt das geistige Band“. Er hatte gleichsam einen Zipfel der Wahrheit ergriffen, an dem er sich in der Folgezeit in bewundernswerter Beharrlichkeit emporzog. Aber er wußte nicht, zu welchem Ziel es ihn weiterdrängte. Es war nur der Drang zu einer Ganzheit und zu einer Totalität der Wahrheit, deren Fehlen ihm schmerzlich bewußt war.

Zudem waren diese Teile auch in sich selbst noch nicht gänzlich solide und innerlich gefestigt. Das zeigte sich nachfolgend in seiner Studienzeit in Oxford, wo er kurzfristig dem Liberalismus nahestand, dann aber unter den Einfluß der im Anglikanismus auch noch vorherrschenden evangelikalen Richtung geriet[10]. Die in ihr vorherrschenden Grundsätze wie die grundlegende ethische Ausrichtung, die individualistische Erlebnisfrömmigkeit und die eigenpersönliche Auslegung der Heiligen Schrift konnten die Bindung an eine objektive, hierarchische, von einem Christusamt geleitete Kirche nicht fördern.

Bezeichnenderweise brachte Newman in dieser seiner Oxforder Studienzeit (1816?1824), wie er anläßlich eines Gespräches aus dem Jahre 1823 berichtet, der Lehre von der Apostolischen Sukzession, die einen Grundpfeiler des katholischen Kirchenglaubens darstellt, keinerlei Verständnis entgegen[11]. Dasselbe betrifft seine Stellung zur römischen Kirche, von der er noch bis ans Ende der zwanziger Jahre meinte, daß sie im Dienste des Antichristen stehe[12]. Das Desinteresse an der Kirche im ganzen war so stark, daß er sich im Jahre 1825, wenn auch nur kurz, mit der Absicht trug, die anglikanische Kirche zu verlassen[13]. Ihm war zu dieser Zeit offenbar an einem frommen christlichen Leben gelegen, nicht aber an einer christlichen Kirche. Diese Konstellation von positiver Christlichkeit und Desinteresse an einer sichtbaren, rechtlich verfaßten Kirche findet sich in der Geschichte immer wieder. Um ein zeitnahes Beispiel dafür zu benennen, kann man auf den schwedischen Generalsekretär der UNO, auf Dag Hammarskjöld verweisen, der zwar eine mystische Christlichkeit lebte, aber keinerlei Kirchenbindung besaß.

Aber Newman fand offenbar in der zwiespältigen Haltung zwischen einem spirituellen Christsein und der objektiven Größe der Kirche keine Ruhe. Es ist biographisch nicht genau festzustellen, was ihn etwa seit der Mitte der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts aus dieser schiefen Stellung befreite und einen zweiten Abschnitt seines Weges zur wahren Kirche einleitete. Man darf sie bezeichnen als

2) Phase des bewußten Strebens nach der Kirche in Konfrontation mit dem „Romanismus“

Mögen die Motive der Annäherung an die anglikanische Kirche, der Newman seit dem Jahre 1828 als Vikar von St. Mary bis 1843 diente, verschieden sein – eine gewichtige Rolle spielte die persönliche Bekanntschaft mit Richard Froude und John Keble -, so waren wohl entscheidend sein ausgeprägter Wirklichkeitssinn und sein historisches Interesse an den Kirchenvätern, die ihm die Kirche als für den Christen notwendige Realität nahebrachten. Damit verband sich aber auch die aktuelle Überzeugung, daß das Christentum im Kampf gegen den religiösen Liberalismus und den Relativismus nur wird bestehen können in Verbindung mit einer in sich gefestigten, geeinten Kirche.

Das war natürlich zunächst die anglikanische Kirche, die ihm auf diese Weise nahekam und für die er nun arbeitete. Aber das Merkwürdige an diesem seinem neuen Engagement für die Kirche war darin gelegen, daß es ihm im Grunde nicht um die gegenwärtige, weiterhin in der liberalistischen Agonie befindliche anglikanische Kirche ging, sondern um eine erst zu schaffende, innerlich erneuerte Kirche, die ihm gleichsam nur als Zukunftsziel vorschwebte. Als realistischer Gläubiger, der sich immer mehr an der Heiligen Schrift und an den Kirchenvätern nährte, wurde ihm freilich immer deutlicher, daß die Reform der existierenden Kirche nicht an einem Nullpunkt beginnen könne, wie man das heute in Kreisen der Kirchenreformer meint, sondern daß dies nur im Rückgang auf die Quellen und auf die Ursprungszeit geschehen könne. So kam es zu dem charakteristischen Ausspruch: „Mein Bollwerk war das Altertum“[14].

Ähnlich wie kurz vorher in Deutschland die Vertreter der katholischen Tübinger Schule die Erneuerung der Kirche aufgrund des Traditionsprinzips und nach einem klassizistischen Kanon zu verwirklichen suchten[15], so ging es auch Newman um die „Rettung des anglikanischen Kirchenbildes“[16] aus den ewigen, gültigen Kräften und Wahrheiten der Ursprungszeit. Was er über die Kirche des Ursprungs als bleibendes Vorbild jedweder Reform dachte, findet sich schon in einer Predigt des Jahres 1829 ausgeführt, in der es heißt: „Ihr wißt, es gab eine Zeit, da nur Ein großer Leib von Christen über die Welt hin war, die Kirche genannt. Sie fand sich in jedem Land, wo der Name Christi genannt wurde; sie stammte überall durch die Reihe dieser Bischöfe von den Aposteln ab, und sie war überall in vollem Frieden und geschlossener Einheit, Zweig mit Zweig, über die ganze Welt hin“. Zum Schluß dieses Lobpreises auf die ursprüngliche Kirche aber findet sich die uns auf dieser Tagung besonders berührende Aussage: „So erfüllte sie die Weissagung: ‘Jerusalem ist gebaut als eine Stadt, in eins gefügt'“[17].

Es mag sein, daß der an dieser Stelle offenbar auch in religiöser Begeisterung und in gläubiger Ergriffenheit vor dem Bild der Kirche stehende Prediger den ursprünglichen Stand der Kirche idealisierte und verschönte. Aber man kann nicht sagen, daß er ihn verfälschte, sondern im Wesentlichen das Richtige traf, vor allem im Verhältnis zum damaligen Zustand der anglikanischen Kirche. Von diesem Glauben an die wahre, ursprüngliche Kirche Jesu Christi in ihrer Einheit, Heiligkeit, in ihrer Reinheit der Lehre und ihrer Kraft des Martyriums waren die Bemühungen des Presbyters der anglikanischen Kirche bestimmt, der in den dreißiger Jahren seine Tracts for the Times[18] verfaßte, welche zusammen mit seinen Predigten zur treibenden Kraft der Oxford-Bewegung (Oxford Movement) wurden[19]. Man findet darin zu Herzen gehende Sehnsuchtsrufe nach der wahren Kirche, so wie sie von Christus selbst in den Aposteln gegründet worden war.

Es ist begreiflich, daß sich bei diesem Befassen mit der Alten Kirche auch die Realität der existierenden römisch-katholischen Kirche anmeldete, die Newman immer mehr zur Kenntnis nehmen mußte, ohne sie, wie besonders die Romreise vom Jahre 1833 beweist, wirklich schätzen zu lernen. Am Kanon der Alten Kirche gemessen, kam er bezüglich der Kirche Roms zu dem negativen Urteil, daß sie durch viele unbegründete Zutaten die Ursprünge verfälscht habe, ein Vorwurf, der vielfach durch die Geschichte geht und auch heute noch erhoben wird. Newman konnte zur damaligen Zeit die römische Kirche sogar der „praktischen Abgötterei“ bezichtigen[20]. Das Ideal der Alten Kirche vor Augen, konnte er vorerst „Rom“ das wahre Kirchesein nicht zuerkennen. Aus Gründen der Redlichkeit und der Wahrheitsliebe, die sein Sehnen immer auch antrieb, konnte er aber die geschichtliche Größe der römischen Kirche auch nicht gänzlich leugnen, vor allem nicht im Hinblick auf die ihm ebenso wenig ideal erscheinende anglikanische Kirche. Als geistiger Ausweg aus diesem Dilemma erschien ihm die Annahme einer „via media“ zwischen dem sog. „Romanismus“ und „dem vulgären Protestantismus“, auf welchem Weg er grundsätzlich die anglikanische Kirche stehen sah.

Diese Position versuchte er in dem Buche über „Das prophetische Amt der Kirche“ (1837) denkerisch zu begründen. Hier vollzog sich das heftigste Ringen mit der katholischen Kirche, bei dem er doch aber zugleich auch von dieser Kirche ergriffen wurde, vor allem wegen des in ihr erhaltenen apostolischen Prinzips und der Tradition. Dabei stellte er zugleich auch fest, daß die gegenwärtige anglikanische Kirche diesen Prinzipien nicht entsprach, weshalb er an ihrer Reform immer mehr zweifelte. Er mußte sich nun noch klarer machen, daß die in der Geschichte vor sich gegangenen Änderungen keine Verirrungen und kein Abfall vom Ursprung waren, sondern organische Entwicklungen der fundamentalen Wahrheit. Diese Erkenntnis arbeitete er in dem Werk „Über die Entwicklung des Glaubenslehre“ vom Jahre 1845 tiefgründig aus und stand so vor dem Ziel seines Sehnens: vor der wahren Kirche Jesu Christi, der una, sancta, catholica und apostolica ecclesia.

Später hat Newman einmal formuliert, welches Ziel ihm bei seiner drei Jahrzehnte währenden Suche vor Augen geschwebt hatte: Es war die „Tiefe und Macht in der katholischen Religion, eine Fülle der Befriedigung in ihrem Bekenntnis, ihrer Theologie, ihren Riten, ihren Sakramenten, ihrer Disziplin, die Freiheit und Stütze zugleich ist“. Es war das „Geheimnis der Kraft der Kirche, das Prinzip ihrer Unaufhörlichkeit und das Band ihrer unauflöslichen Einheit“[21]. Will man das, was er suchte und in der katholischen Kirche fand, auf eine begriffliche Formel bringen, so darf man zu einer Formulierung aus dem Buch „Über die Entwicklung der christlichen Lehre“ greifen, die besagt: … ich würde „die Menschwerdung Gottes als den Zentralaspekt nennen, aus dem heraus die drei Hauptaspekte [der] Lehre hervorgehen: der sakramentale, der hierarchische und der aszetische“ Aspekt[22].

Wenn man diesen langen, wechselvollen Weg zur Erfüllung der Sehnsucht nach der wahren Kirche verfolgt hat, stößt man auf die Frage, wie Newman sich nach Erreichen dieses Zieles verhielt, ob er sich etwa geistig an diesem Ziel zur Ruhe setzte oder ob er den Weg nicht in gewisser Weise fortsetzte und ob ihn seine Sehnsucht nicht auch innerhalb der Kirche auf andere, neue Weise weiter trieb. Tatsächlich wirkte diese Sehnsucht weiter, aber nicht mehr in Richtung auf etwas noch nicht Erreichtes, sondern in Richtung auf die Verlebendigung dieses Erreichten bei sich selbst wie bei den Glaubensbrüdern. Es war die Sehnsucht nach dem Leben aus der katholischen Fülle.

3) Die Sehnsucht nach dem Leben aus der Fülle

Zunächst darf man nicht daran zweifeln, daß Newman mit seiner Konversion zur katholischen Kirche eine tiefe geistige Erfüllung und eine seelische Beglückung erlebte. Er sagt darüber in der Apologie: „Ich habe in vollkommenem Frieden und in ungestörter innerer Ruhe gelebt, ohne je von einem einzigen Zweifel heimgesucht zu werden“[23]. Er wiederholte dieses Bekenntnis später angesichts der in den sechziger Jahren ausgestreuten Berichte, daß er wieder zur anglikanischen Kirche zurückkehren wolle[24]. Aber er fügte zu dem zitierten Wort sofort auch hinzu: „Damit will ich nicht sagen, daß mein Geist müßig gewesen sei, oder daß ich aufgehört hätte, über theologische Fragen nachzudenken“[25].

Wenn man versucht, die zweite Hälfte des Lebens Newmans, die Zeit nach seiner Konversion vom Jahre 1845, zu charakterisieren, so darf man wohl zu folgender Erklärung greifen. Man darf sagen: Er hatte nach dem biblischen Bild vom Schatz im Acker (Mt 13,44?46) den ersehnten Reichtum der Wahrheit in der Kirche gefunden. Nun aber bemühte er sich, von diesem Reichtum mitzuteilen, das schwere Gold in kleine Münzen umzusetzen und sie an die Bedürftigen zu verschenken. Dabei trat auch das ganz natürliche Streben in Erscheinung, die Erfahrungen seines geistlichen Lebens, das sichtlich von der Gnade Gottes geführt war, zur Bestärkung und Bereicherung des Lebens der katholischen Kirche in England zu vermitteln. Er wollte aus der Fülle der gewonnenen Wahrheit über die Kirche schöpfen und diese wieder zu einem Leben aus dieser Fülle anregen.

Dabei versuchte er zunächst für sich selbst und für seine englischen Gefährten, die mit ihm das Ziel der Konversion erreicht hatten, eine Form für ein Leben in der Wahrheit und in der Heiligung zu finden. Diese Möglichkeit ergriff er schließlich nach seiner Priesterweihe in dem von ihm begründeten Oratorium nach der Regel des hl. Philipp Neri[26]. Aber mit dem Streben nach Selbstheiligung verband sich bei ihm, der immer von der Vorstellung einer Einheit zwischen mystischer Innerlichkeit und aktivem äußeren Tun belebt war, der Drang zur pastoralen, seelsorglichen Tätigkeit. Das bezeugte schon seine Predigt zur Eröffnung des Londoner Hauses des Oratoriums im Mai 1849. In ihr sprach er von der Verantwortung, aber auch von der Schwierigkeit einer kleinen, einflußlosen Gemeinschaft, in einer dem Evangelium weithin abgewandten Stadt, die Wahrheit und das Gesetz Christi zur Geltung zu bringen. Dabei verglich er, was seinem Lieblingsgedanken entsprach, die gegenwärtige Situation dieser kleinen Gemeinde mit der Kirche der Urzeit und ihren Schwierigkeiten, wobei er auch hervorhob, daß der äußere Erfolg nicht der Maßstab apostolischen Wirkens sein dürfe[27].

Die Grundgedanken dieser Predigt kristallisierten sich mit der Zeit zu einem umfassenden Programm heraus, das letztlich darauf ausgerichtet war, die kleine katholische Kirche Englands, die nicht zuletzt durch seine Konversion einen Auftrieb erfahren hatte, aus den Kräften des Ursprungs, wie Newman sie an sich erfahren hatte und in sich fühlte, neu zu beleben. Er war mit vielen seiner Weggenossen, zu denen im weiteren Sinn auch der spätere Kardinal Wiseman gehörte, der Überzeugung, daß die kleine katholische Kirche Englands, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jh.s auf keinem hohen Stand befand, am Anfang eines „zweiten Frühlings“ stand[28].

Der genannte Kardinal Wiseman, der den Weg Newmans schon lange vor dessen Konversion aufmerksam verfolgt hatte, sprach schon im Jahre 1841 in einer frappanten Zukunftsschau bezüglich der katholischen Kirche Englands die optimistische Überzeugung von einem epochalen Aufbruch aus. Er sagte: „Wir brauchen die Zuführung neuen Blutes. Gebt uns nur eine kleine Zahl von Männern, wie sie an den Traktaten arbeiten, so durchtränkt mit dem Geist der alten Kirche, so voll Verlangen, das Bild der alten Väter neu zu beleben, Männer, die im Lehren bei St. Augustinus, im Predigen bei St. Chrysostomus und im Empfinden bei St. Bernhard in die Schule gegangen sind. Laßt uns nur ein paar solcher Männer in den Geist der katholischen Religion eindringen und wir werden bald wieder in Form gebracht und England schnell bekehrt sein“[29].

Diese visionäre Aussage paßte genau auf das Programm des Konvertiten Newman, den die Ergriffenheit von der wahren Kirche dazu trieb, das originale Bild dieser Kirche in seinem geistlichen Reichtum, in seiner Kraft, aber auch in seiner Schönheit der ganzen katholischen Kirche in England aufzuprägen. Seine dahin gehende Sehnsucht stand dabei immer auch unter dem endzeitlichen Eindruck, daß ein entscheidender Kampf mit dem Liberalismus angebrochen sei, der nur von einer lebendigen und innerlich gefestigten Kirche bestanden werden könne, zu der es keine Alternative gab. Aus dieser Gesinnung erklärt sich auch das entschiedene Wort Newmans aus dieser Zeit: „Es gibt keine andere Alternative als Katholizismus oder Unglaube“, es gibt kein „Mittelding zwischen Atheismus und Katholizismus“[30].

Schaut man in einem kursorischen Blick auf die Ausführung dieses Programms zur Verlebendigung der Kirche, dann wird man über die Vielfalt der Aktivitäten und ihre Intensität erstaunt sein. Sie erstreckten sich auf alle Bereiche des kirchlichen Lebens: auf die Theologie, die er mit einem neuen klassischen Glaubensbuch bereicherte, der „Grammar of Assent“ von 1870, auf die Pastoral mit dem Schwerpunkt der Beteiligung der Laien am kirchlichen Leben der Kirche[31], auf die allgemeine religiöse Bildung und ihre Erhöhung vor allem unter den Studierenden. Allein auf dem letztgenannten Gebiet entwickelte Newman beachtliche Initiativen: so die Mitbegründung der katholischen Universität Dublin, die Inangriffnahme eines neuen Werkes über die Heiligen, das Projekt einer neuen Bibelübersetzung, die Übernahme einer theologischen Zeitschrift.

Aber das Merkwürdige und für uns heute schwer Begreifliche an diesen aus dem glühenden Herzen und dem exakten Wirklichkeitssinn kommenden Initiativen dieses von der Macht der einzigen wahren Offenbarungsreligion überzeugten Mannes tritt in dem Umstand zutage, daß die meisten dieser Unternehmungen zur Verlebendigung der englischen Kirche auf halbem Wege stecken blieben oder gar vollends scheiterten. Ja, die ungewohnte Forschheit dieser Projekte, die aus dem Zentrum des übernatürlichen Glaubens kamen, aber zugleich auch den weltzugewandten missionarischen Geist einer universalen Kirchlichkeit atmeten, erregten bei vielen Vertretern des traditionellen englischen Katholizismus Anstoß. Sie wurden teilweise mißverstanden, teilweise auch als für den sich seit der Mitte des Jahrhunderts in einer festen kirchlichen Organisation zusammenschließenden Katholizismus als gefährlich und auflösend betrachtet. So verwandelte sich mit einem Male die Wolke der Wahrheit, die Newman bislang geführt hatte, in eine Wolke der Verdächtigungen[32]. So bezeichnete er die vier Jahre zwischen 1860?1863 als „dunkle Nacht“, in der er durch seine Vorgesetzten zur weitgehenden Untätigkeit verurteilt war[33].

Ihm wurde nachgesagt, daß er eigentlich durch eine falsche Tür in die Kirche eingetreten sei, daß sein Glaubensbegriff, der auf der Objektivität und Realität der Offenbarung und auf der Gewissenswirklichkeit basierte, modernistisch angehaucht sei, daß seine starke Heranziehung der Laien gegen die kirchliche Autorität gerichtet sei. So konnte es soweit kommen, daß er im Januar 1863 in sein Tagebuch notierte: „Wofür lebe ich dann? Was tue ich eigentlich für irgendein religiöses Ziel?“ Und danach der erschütternde Satz: „Als Protestant empfand ich meine Religion kümmerlich, aber nicht mein Leben, und nun, als Katholik, ist mein Leben kümmerlich, aber nicht meine Religion“[34].

Diese Aussage ist insofern interessant und für den religiösen Charakter Newmans kennzeichnend, als sie zweierlei erkennen läßt: sein Leiden um der Kirche willen und zugleich seine Überzeugung, daß man an der Kirche selbst nicht zweifeln kann. Zwar hellte sich in den nächsten Jahren aufgrund seiner literarischen Arbeiten und Erfolge die Situation für ihn wieder auf, und die bis nach Rom hin gelangten Verdächtigungen wurden 1879 durch die Verleihung des Kardinalats endgültig zerstreut.

Trotzdem stellt sich in bezug auf das von vielen Schwierigkeiten umstellte Leben und Wirken Newmans in der katholischen Kirche die kritische Frage, ob seine letzte Sehnsucht nach der Entbergung der von ihm erfahrenen Fülle Christi für die englische Kirche etwa unerfüllt geblieben sei und ob sie vielleicht letztlich ins Leere gegangen sei. Für eine solche Vermutung gibt es in den Selbstzeugnissen Newmans keinerlei Anhalt. Bei allen Enttäuschungen, die er erfuhr, wußte er zwischen der übernatürlich-mystischen Wirklichkeit der Kirche und ihrer äußeren menschlichen Gestalt zu unterscheiden. Zugleich erschien ihm die innere Herrlichkeit der Kirche so groß, daß er sich nicht anmaßte, diese Größe einfach in die irdische Gestalt der Kirche einfassen zu können und eine Kirche sine macula et ruga heraufführen zu können. Seine Sehnsucht war größer als die begrenzte irdische Wirklichkeit der Kirche. Daß er aber nicht nachließ, das Ideal der Kirche innerhalb der irdischen Schwächen und Grenzen zu verwirklichen, macht das Format eines wirklichen Kirchenmannes aus, einer anima ecclesiastica, die uns auch in der gegenwärtigen Situation der Kirche Vorbild sein kann.


[1] Vgl. dazu u.a.: W. Becker, Newman und die Kirche: Newman Studien 1 (1948) 236?250, 335?338; Ph. Boyce, Die eine und die sichtbare Kirche im Leben und Denken Newmans, in: Christliche Innerlichkeit 24 (1989) 88?98; Y. Congar, Die Lehre von der Kirche. Vom abendländischen Schisma bis zur Gegenwart: Hdb. d. Dogmengeschichte III/3d (hrsg. von M. Schmaus – A. Grillmeier – L. Scheffczyk), Freiburg 1971, 96?98.

[2] Vgl. J. H. Newman, Apologia pro vita sua. Geschichte meiner religiösen Überzeugungen, Mainz 1951, 46.

[3] W. H. van de Pol, Die Kirche im Leben und Denken Newmans, Salzburg 1937, 81.

[4] Vgl. O. Karrer, Kardinal J. H. Newman, Die Kirche I, Einsiedeln 1945, 36f.

[5] W. H. van de Pol, 82.

[6] W. H. van de Pol, 83.

[7] O. Karrer I, 39.

[8] J. H. Newman, Apologia, 225.

[9] W. H. van de Pol, 43.

[10] Vgl. dazu J. E. Linnan, c.s.v., The evangelical Background of John Henry Newman, 2 Bd.e, Louvain 1965.

[11] W. H. van de Pol, 87.

[12] Ebda., 98.

[13] Ebda., 90.

[14] O. Karrer I, 72.

[15] Vgl. J. R. Geiselmann, Die katholische Tübinger Schule. Ihre theologische Eigenart, Freiburg 1964, 162 u.ö.

[16] O. Karrer I, 78.

[17] O. Karrer I, 45.

[18] Vgl. G. Biemer, John Henry Newman. 1801-1890. Leben und Werk, 38-42.

[19] Ph. Boyce, a.a.O., 92f.

[20] W. H. van de Pol, 178.

[21] W. H. van de Pol, 325.

[22] Ebda., 37.

[23] Ebda., 275.

[24] W. H. van de Pol, 323.

[25] J. H. Newman, Apologia, 275.

[26] G. Biemer, 85ff.

[27] Ebda., 88.

[28] W. H. van de Pol, 313.

[29] Ebda., 314.

[30] Ebda., 318.

[31] Vgl. u.a. J. H. Newman, On Consulting the Faithful in Matters of Doctrine, 1859.

[32] G. Biemer, 118.

[33] Ebda., 122.

[34] Ebda., 122f.