Die christlichen Geheimnisse

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16. Predigt vom 14. Juni 1829

„Wie kann dies geschehen?“ (Joh 3,9).

Der Umstand, daß das Fest der allerheiligsten Dreifaltigkeit unmittelbar dem Pfingstfest folgt, will uns etwas Bedeutsames lehren. An letztge­nanntem Festtag begehen wir das Gedächtnis der Herabkunft des Gottesgeistes, der uns als die Quelle aller geistlichen Erkenntnis und Unter­scheidung verheißen ist. Damit wir aber nicht die Art jener Erleuchtung, die er vermittelt, über­sehen, folgt der Dreifaltigkeitssonntag, um uns zu sagen, was sie nicht ist. Sie ist kein der Vernunft gewährtes Licht im Sinn von natürlichen Gaben des Verstandes, denn das Evangelium hat immer noch seine Geheimnisse, seine Schwierigkeiten und verborgenen Dinge, die der Heilige Geist nicht wegräumt.

Die verheißene Gnade ist uns nicht so sehr ge­geben, damit wir mehr wissen, sondern besser handeln könnten. Sie ist geschenkt, uns zu beein­flussen, zu führen und zu stärken in der Ausübung unserer Pflicht gegen Gott und Mensch. Sie ist uns gegeben als Geschöpfen, als Sündern, als Men­schen, als unsterblichen Wesen, nicht als bloßen Denkern, Wortfechtern oder philosophischen Forschern. Sie lehrt uns, was wir sind, wohin wir gehen, was wir tun müssen und wie wir es tun müssen. Und diese Gnade befähigt uns, unsere gefallene Natur vom Bösen zum Guten zu wan­deln, „uns ein neues Herz und einen neuen Geist zu schaffen“ (Ps 50,12). Jedoch sagt sie uns nichts, nur um einer zwecklosen Mitteilung willen. Weder in Seinem heiligen Wort noch durch unser Ge­wissen hält es der Heilige Geist für angebracht, so zu handeln. Nicht daß der Wunsch nach dem Wissen heiliger Dinge um des Wissens willen tadelnswert wäre. Wie die Kenntnis der Erde, des Himmels und des Meeres und der Wunder, die sie enthalten, in sich wertvoll ist und am rechten Platz wünschenswert, so liegt zweifellos nichts Sündhaftes in dem sehnsuchtsvollen Bestaunen der wunderbaren Pläne Gottes, wie Er die sittliche Ordnung aufrecht erhält, und in dem Wunsch, sie zu verstehen. Nun hat aber Gott eine solche Erkennt­nis in der Bibel uns nicht vermittelt. Und daher ist es ein gefährlicher Irrtum und (vielleicht) eine Sünde, in der Bibel nach solcher Erkenntnis zu suchen oder sie irgendwie von der inneren Be­lehrung des Heiligen Geistes zu erwarten. Da nun die Menschen gern Wissen höher als Heiligkeit schätzen, ist es sehr passend angeordnet, daß der Dreifaltigkeitssonntag dem Pfingstsonntag folgt, um uns warnend zu belehren, daß die uns in Gna­den gewährte Erleuchtung nicht ein Verstehen „aller Geheimnisse und aller Erkenntnis“ (1 Kor 13, 2) ist, sondern jene Liebe oder „Caritas“, welche „die Erfüllung des Gesetzes ist“ (Rm 13, 10).

Tatsächlich hat es nun sehr schwere Irrtümer über das Wesen christlicher Erkenntnis gegeben. Zuallen Zeiten fanden sich Menschen, die den Sinn des Kommens Christi so wenig kannten, daß sie Geheimnisse als unvereinbar mit dem Licht des Evangeliums betrachteten. Sie haben geglaubt, die Finsternis des Judentums, von der die Schrift spricht, sei ein Zustand geistiger Unwissenheit und das Christentum sei, wie sie es nennen, eine „Ver­nunftreligion“. Daher haben sie den Einwurf ge­macht, daß keine geheimnisvolle Lehre, d. h. zu tief für menschliche Vernunft oder unvereinbar mit ihren selbsterdachten Begriffen, in der Schrift enthalten sein könnte; als ob es Christus ehren hieße, wenn man behauptet, er könnte mit Seinen Worten nicht gemeint haben, was Er sagte, weil sie selbst es nicht gesagt hätten. Nikodemus, zwar ein aufrichtig forschender Mann und (wie der Aus­gang zeigt) ein wahrer Anhänger Christi, war doch im ersten Augenblick über die Geheimnisse des heiligen Evangeliums bestürzt. Er fragte Christus, „wie kann dies geschehen?“ Er spürte die Ver­suchung und überwand sie. Es gibt aber andere, die allwegs Ärgernis nehmen und abfallen, wenn sie ihr ausgesetzt sind. So taten jene, die im sech­sten Kapitel des Johannesevangeliums erwähnt sind. Sie zogen sich zurück und gingen nicht mehr mit Ihm.

Das Dreifaltigkeitsfest folgt auf Pfingsten. Das Licht des Evangeliums schafft Geheimnisse in der Religion nicht aus dem Weg. Das ist der Gegen­stand unserer Erörterung. Wir wollen ihn ein­gehender besprechen.

1. Fassen wir jene Schwierigkeiten der Religion ins Auge, die unabhängig von der Schrift sich uns aufdrängen. Wir werden nun finden, daß das Evangelium diese nicht aus dem Weg geräumt hat. Sie bleiben gerade so groß wie vor Christi An­kunft. – Wie herrlich ist diese Welt! Wie gut und schön ist das Antlitz der Natur! Wie wohl­tuend ist ein Gang auf grünen Fluren und „das Sinnen auf dem Feld zur Abendzeit“ (Gn 24, 63)! Wenn wir Umschau halten, können wir nicht anders als überzeugt sein, daß Gott überaus gut ist und Seine Geschöpfe liebt. Jedoch inmitten all der Pracht, die wir ringsum erblicken, und der glücklichen Wesen, welche zu Tausenden und Zehntausenden in der Luft und im Wasser leben, drängt sich uns die Frage auf, „aber warum gibt es Leiden in der Welt?“ Wir nehmen wahr, daß die Tiere übereinander herfallen und sich gegen­seitig einen gewaltsamen, unnatürlichen Tod be­reiten. Manche von ihnen sind auch Feinde des Menschen und schaden uns, wenn sie können. An­dere aber quält der Mensch erbarmungslos und verurteilt viele von ihnen zu einem Leben des Leidens. Noch mehr zeigen sich Leiden und Elend in der Menschheitsgeschichte: – die zahllosen Krankheiten und Unglücksfälle im menschlichen Leben und unsere seelischen Qualen; dann weiter die Übel, die wir einander zufügen, unsere Sün­den und ihre schrecklichen Folgen. Warum nun läßt Gott so viel Böses in Seiner eigenen Welt zu? Das ist eine Schwierigkeit, möchte ich sagen, die wir unmittelbar fühlen, noch bevor wir die Bibel öffnen, und zu deren Lösung wir völlig unfähig sind. Wir öffnen die Bibel; die Tatsache ist darin anerkannt, aber keineswegs erklärt. Wir werden belehrt, daß die Sünde durch den Teufel, der Adam zum Ungehorsam verleitete, in die Welt kam. Also hat Gott die Welt gut geschaffen, gleichwohl ist Böses in ihr. Warum Er es aber für angebracht hielt, dies zuzulassen, wird uns nicht gesagt. Wir wissen nicht mehr darüber, als bevor wir die Bibel aufschlugen. Es ist ein Geheimnis vor Gottes Offenbarung und es ist ein ebenso großes auch jetzt; zweifellos aus diesem Grund, weil dessen Kenntnis uns keinen Vorteil bringen, sondern lediglich unsere Neugier befriedigen würde. Es ist kein praktisches Wissen.

2. Ferner werden auch die Schwierigkeiten des Judentums vom Christentum nicht aus der Welt geschafft. Den Juden wurde gesagt, daß sie, wenn sie gewisse Tiere töteten, als Folge davon zu Gotten diese Frage natürlich nicht beantworten. Alles, beständigen Übertretungen immer wieder ver­wirkten. Darin lag nun etwas Geheimnisvolles. Wie sollte der Tod von harmlosen Geschöpfen Gott gegen die Juden gnädig stimmen? Sie konn­ten diese Frage natürlich nicht beantworten. Alles was darüber gesagt werden konnte, bestand darin, daß in dem täglichen Lauf der Menschengeschichte beständig die Unschuldigen anstatt der Schuldigen leiden. Der eine leidet immer für den Fehler eines anderen. Aber diese Erfahrung erleichterte nicht die Schwierigkeit einer so geheimnisvollen Anord­nung. Es blieb immer noch ein Geheimnis, daß Gottes Wohlwollen vom Tod unvernünftiger Tiere abhängen solle. Löst das Christentum diese Schwie­rigkeit? Nein; es setzt sie fort. Die jüdischen Opfer sind zwar abgeschafft, aber noch bleibt das eine große Opfer für die Sünde, unendlich erhabener und heiliger als alle anderen erdenklichen Opfer. Gemäß der Frohbotschaft hat Christus freiwillig gelitten, „der Gerechte für den Ungerechten, um uns zu Gott zu führen“ (1 Petr 3, 18). Hier ist die Fortsetzung des Geheimnisses. Warum war dieses Leiden notwendig, um uns die Gnaden zu vermit­teln, deren wir aus uns selbst unwürdig wären? Wir wissen es nicht. Wir wären aber keine bes­seren Menschen, wenn wir wüßten, warum Gott uns ohne Christi Tod nicht verziehen hat; daher hat Er es uns nicht kundgetan. Der eine leidet im gewöhnlichen Verlauf der Dinge für den anderen, ebenso unter dem jüdischen Gesetz wie auch im christlichen Heilsplan, und das Warum all dessen bleibt ein Geheimnis.

Eine andere Schwierigkeit konnte dem denkenden Israeliten aufsteigen, wenn er den Zustand der Heidenwelt in Erwägung zog. Warum führte der Allmächtige Gott nicht alle Völker in Seine Kirche und belehrte sie nicht durch unmittelbare Offen­barung über die Sünde des Götzendienstes? Der Jude konnte keine Antwort geben. Gott hatte ein einziges Volk auserwählt. Es ist wahr, daß der gleiche Grundsatz, einen dem andern vorzuziehen, im Plan der ganzen Welt beobachtet wird. Gott gibt den Menschen ungleiche Vorteile und An­nehmlichkeiten, ungleiche Bildung, Begabung und Gesundheit. Doch das ist keine befriedigende Ant­wort auf die Frage, warum Er es überhaupt für angebracht gehalten hat, so zu handeln. Auch hier anerkennt und bestätigt das Evangelium die ge­heimnisvolle Tatsache. Wir sind geboren in einem christlichen Land, andere nicht; wir sind getauft, wir haben Bildung genossen, andere nicht. Wir sind mehr als andere begünstigt. Aber warum? Wir können es nicht beantworten; genau so wenig, wie die Juden sagen konnten, weshalb sie be­günstigt waren; – und zwar aus dem Grund, weil das Wissen darum uns unnütz ist; die Tatsache des Wissens würde uns nicht zu besseren Menschen machen. Es ist dabei beabsichtigt, daß wir auf uns selbst achthaben und eher erwägen sollten, warum wir mit den Vorrechten beschenkt sind, weniger aber warum andere nicht die gleichen besitzen. Unser Heiland weist solche neugierige Fragen mehr als einmal zurück. „Herr, was soll aber die­ser?“ (Joh 21, 21). Der heilige Petrus fragt nach dem heiligen Johannes. Christus antwortet, „wenn Ich will, daß er so bleibe, bis Ich komme, was geht das dich an? Du, folge Mir“.

So gibt uns das Evangelium keine Vorteile vor den Juden oder vor den unerleuchteten Heiden in Hinsicht auf ein bloßes unfruchtbares Wissen.

3. Ja, wir können noch weiter gehen und sagen, daß das Evangelium unsere Schwierigkeiten ver­größert. Es ist wirklich bedeutsam, daß die Offen­barung selbst, die uns ein praktisches und nütz­liches Wissen um unsere Seele bringt, gleichzeitig mit diesem Vorgang, ja (scheinbar) geradezu in­folge dieses Vorganges uns Geheimnisse schafft. Wir gewinnen übernatürliches Licht um den Preis intellektueller Verwirrung; ohne Zweifel ein be­glückender Tausch (denn was ist besser, sich in seinem Inneren wohl und glücklich zu fühlen oder zu wissen, was am Ende der Welt vor sich geht?), jedoch um den Preis der Verwirrung. Wie ist z. B. die Kunde von der ewigen Glückseligkeit so un­endlich bedeutend und beglückend? Aber zusam­men mit dieser freudigen Wahrheit erfahren wir, daß es auch einen Zustand endlosen Elendes gibt. Welch großes Geheimnis ist nun dieses! Jedoch die Schwierigkeit geht Hand in Hand mit der übernatürlichen Segnung. Die Überraschung wird noch größer dann, wenn wir es auf die Offen­barung des Erbarmens selbst beziehen. Wir sind durch den Tod Christi gerettet; aber wer ist Chri­stus? Christus ist der Wahre Sohn Gottes, der Eingeborene Gottes, und eins mit Gott von Ewig­keit her, der fleischgewordene Gott. Das ist unsere unaussprechliche Tröstung und eine überaus heili­gende Wahrheit, wenn wir sie in rechter Gesin­nung aufnehmen; aber welch erstaunliches Ge­heimnis liegt in der Menschwerdung und dem Leiden des Sohnes Gottes! Hier gehen die Froh­botschaft und das Geheimnis nicht nur Hand in Hand wie in der Offenbarung vom ewigen Leben und ewigen Tod, sondern die gleiche Wahrheit, welche das Geheimnis ist, gewährt auch den Trost. Der schwache, unwissende, sündige, verzagende und kummervolle Mensch gewinnt die Erkenntnis eines unendlich barmherzigen Beschützers, eines Gebers alles Guten, eines Allmächtigen, des Wir­kers aller Gerechtigkeit in ihm; um welchen Preis? Um den Preis eines Geheimnisses. „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben Seine Herrlichkeit gesehen“ (Joh 1, 14); und Er gab Sein Leben hin für die Welt. Wo ist der rechtgesinnte Mensch, der nicht freudig den Tausch einginge und mit der Sprache eines Mannes, dessen Worte bei uns fast als heilig gel­ten, ausriefe, „Mögen es andere Narrheit oder Wahnsinn oder was nur immer für Tollheit nennen: uns ist es Trost und Weisheit. Wir kümmern uns auf der Welt nur um diese Erkenntnis, daß der Mensch gesündigt, Gott aber gelitten hat, daß Gott selbst Menschensohn geworden ist und die Menschen zur Gerechtigkeit Gottes wurden1„. Dieselbe einzigartige Verflechtung von reli­giösem Licht und Trost einerseits und geistiger Dunkelheit andererseits finden wir auch in der Lehre von der Dreifaltigkeit. Der schwache Mensch braucht Verzeihung und Heiligung; kann er etwas anderes tun, als dankbar sich seinem Erlöser und Heiligmacher hingeben und blind auf Ihn ver­trauen? Wäre aber unser Erlöser nicht Gott und unser Heiligmacher nicht Gott, wie groß wäre für uns die Gefahr gewesen, Geschöpfe dem Schöpfer vorzuziehen! Welchen Quell von Licht, Freiheit und Trost bedeutet das Wissen, das wir Sie nie zu viel lieben oder uns nie zu eherbietig vor Ihnen verdemütigen können, denn Sohn und Geist, jeder für sich, ist Gott! Das ist die praktische Folge der Lehre; aber welches Geheimnis ist auch darin einbeschlossen! Welche Quelle von Verwirrung und Dunkelheit (darf ich sagen) für die Vernunft ist die Lehre, die unmittelbar daraus folgt! Denn wenn Christus für sich selbst Gott ist, und der Geist für sich selbst Gott ist, und es doch nur einen Gott gibt, so ist hier offensichtlich etwas, das völlig unsere Fassungskraft übersteigt. Selbst wenn wir von vornherein angenommen hätten, es gäbe zahl­lose Wahrheiten über den Allmächtigen Gott, die wir weder wissen noch verstehen könnten, ist es doch sicher, daß die Tatsache Seiner Offenbarung dieses Geheimnis durchaus nicht weniger überwäl­tigend macht.

Es ist wichtig zu beachten, daß diese Lehre von der Dreifaltigkeit in der Schrift nicht als Geheim­nis vorgelegt wird. Wie wir viele bedeutsame Tatsachen hinsichtlich der natürlichen Welt, die nicht an ihrer Oberfläche liegen, ausfindig machen, so entdecken wir durch Nachdenken in der Offen­barung auch diesen gewichtigen, wenngleich nicht offen ausgesprochenen Grundsatz: daß religiöses Licht geistige Dunkelheit bedeutet. Als ob unser gütiger Herr uns gesagt hätte: „die Schrift be­absichtigt nicht Geheimnisse zu schaffen, aber sie sind wie Schatten, welche die Sonne der Wahrheit hervorruft. Wüßtet ihr nichts vom geoffenbarten Licht, so kanntet ihr nicht geoffenbartes Dunkel. Religiöse Wahrheit erfordert nur, daß euch etwas mitgeteilt würde, aber eure eigene unvollkommene Natur hindert euch, alles zu wissen. Die Tatsache, daß wir etwas erkennen und nicht alles, stück­weise Erkenntnis, – muß selbstverständlich ver­wirren; unvollkommen geoffenbarte Lehren müs­sen geheimnisvoll sein“.

4. Wenn also die Schriftlehre derart notwendig geheimnisvoll ist, wie können wir den besten Ge­brauch davon machen in dem Streit, in den wir mit unserem bösen Herzen verwickelt sind? Nun dürfen wir teilweise sehen, wie das geschieht, und soweit wir sehen, wollen wir für die Gabe dank­bar sein. So scheint es denn, daß Schwierigkeiten in der Offenbarung vor allem dazu bestimmt sind, die Echtheit unseres Glaubens zu erproben. Was soll den unechten vom echten Anhänger Christi unterscheiden? Wenn die vielen sich mit den Lip­pen zu Christus bekennen, was wird Seine wahren Diener prüfen und schulen und den Selbstbetrüger entlarven? Die in der Offenbarung gelegenen Schwierigkeiten werden hauptsächlich zu diesem Ziel beitragen. Sie sind Steine des Anstoßes für stolze und nicht gedemütigte Menschen, und dieses sollten sie auch sein. Der Glaube ist anspruchslos, bescheiden, dankbar und gehorsam. Jede Gabe Gottes nimmt er mit Ehrfurcht und Liebe an, so­bald er überzeugt ist, daß es Seine Gabe ist. Wenn aber Menschen kein wirkliches Bedürfnis nach Seiner erlösenden Barmherzigkeit spüren, noch den Verlust ihrer Gnade noch ihre innerste Sünd­haftigkeit, wenn sie Christus in Wirklichkeit nicht mit vollem Ernst suchen, um von Ihm etwas zu erlangen oder für Ihn etwas zu tun, sondern nur aus Neugierde, oder aus Berechnung oder der Form halber, dann natürlich werden diese Schwie­rigkeiten zu großen Hindernissen, Sein Wort schlicht anzunehmen. Ich darf sagen, diese Schwie­rigkeiten waren als solche beabsichtigt von Dem, welcher „zerstreuet, die da hoff artig sind in ihres Herzens Sinne“ (Lk 1, 51). Der heilige Petrus ver­sichert uns, daß jener gleiche Eckstein, der den Gläubigen „kostbar“ ist, „den Ungehorsamen ein Stein ist, über den sie stolpern, und ein Fels, an dem sie anstoßen“, „wozu sie beide (fügt er hin­zu) auch bestimmt waren“ (1 Petr 2, 7. 8). Das Verfahren unseres Herrn bei seiner Wirksamkeit ist ein fortgesetztes Beispiel dafür. Er sprach in Gleichnissen (Cf Mk 4,11-15), damit sie sehen und hören und doch nicht verstünden, – ein rechtmäßiger Weg, ihre Unaufrichtigkeit aufzudecken. Die gleichen Schwie­rigkeiten und Dunkelheiten dagegen, die bei ir­religiösen Menschen Anstoß erregten, würden Demütige und Sanftmütige nur dazu bringen, nach mehr Licht zu suchen, nach Belehrung, soweit sie erreicht werden könnte und nach Ergebenheit und Zufriedenheit, wo sie nicht gegeben wurde. Als Christus sagte,… „wenn ihr das Fleisch des Men­schensohnes nicht esset und Sein Blut nicht trinket, habt ihr das Leben nicht in euch,… sagten viele von Seinen Jüngern: Diese Rede ist hart, wer kann sie hören? … und von dieser Zeit an zogen sich viele zurück und wandelten fürder nicht mehr mit Ihm… Dann sagte Jesus zu den Zwölfen: Wollt auch ihr weggehen? Da antwortete Ihm Simon Petrus: Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens“ (Joh 6, 5368), Hier ist die Erprobung des Glaubens, eine Schwierigkeit. Jene, „die nicht glauben“, fallen ab. Die treuen Jünger bleiben fest, denn sie fühlen ihre ewigen Belange auf dem Spiel stehen und stellen diese sehr einfache, praktische wie auch Anhänglichkeit verratende Frage: „Zu wem sollen wir gehen“, wenn wir Christus verlassen? Ein andermal sagt unser Herr, „Ich danke Dir, Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß Du dies vor Weisen und Klugen verborgen (solchen, die mehr auf Vernunft vertrauen als auf Schrift und Gewissen), den Kleinen aber geoffenbart hast (solchen, die demütig im Glauben wandeln). Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig in Deinen Augen“ (Mt 11, 25. 26).

5. Welchen Gewinn ziehen wir aus derartigen Ge­danken? Unser Heiland gibt uns die Schlußfolgerung in den Worten, welche auf die gerade ge­lesene Stelle folgen. „Daher sagte ich euch, daß niemand zu Mir kommen kann, außer es sei ihm von Meinem Vater gegeben“. Oder anderswo heißt es, „niemand kann zu Mir kommen, wenn der Vater, der Mich gesandt hat, ihn nicht zieht“ (Joh 6,44). Wenn wir daher die Notwendigkeit spüren, zu Christus zu kommen, jedoch auch die Schwierigkeit, dann laßt uns bedenken, daß die Gnade, zu Ihm zu kommen, in Gottes Hand ist, und wir Ihn bitten müssen, sie uns zu schenken. Christus sagt uns nicht nur, daß wir nicht aus eigener Kraft kommen können (obgleich er dieses betont), sondern Er sagt uns auch, bei wem die Macht liegt, daß wir kommen, bei Seinem Vater, – damit wir es von Ihm erflehen könnten. Religion hat, das ist wahr, für jene ein strenges Gesicht, die sie nie erprobt haben; ihre Wahrheiten sind voll von Geheimnissen, ihre Vorschriften voll Härte. So kommt es, daß sie nichts Einladendes hat und bei verschiedenen Menschen in verschiedener Weise Anstoß erregt, aber in der einen oder anderen Weise bei allen. Wenn wir denn in uns das Auf­steigen dieses Widerstandes gegen Christus, stolze Ablehnung gegen Sein Evangelium, oder eine niedrige Sehnsucht nach der Welt verspüren, wollen wir Gott bitten, uns zu ziehen. Obwohl wir keinen Schritt ohne Ihn tun können, wollen wir wenigstens versuchen, einen zu tun. Er schaut in unser Herz und sieht unser Bemühen, sogar bevor wir uns bemühen, und Er segnet und stärkt unsere Schwachheit. Wir wollen die neugierigen und an­maßenden Gedanken loswerden dadurch, daß wir unseren jeweiligen Geschäften nachgehen, und wir wollen die Zweifel, die Satan uns zuflüstert, da­durch verspotten und vereiteln, daß wir ihnen zu­widerhandeln. Es hat nichts zu sagen, ob unser Glaube mit Zweifeln behaftet ist oder nicht, oder ob wir klar erkennen oder nicht, solange wir un­serem Glauben entsprechend handeln. Das übrige wird mit der Zeit folgen, teils in dieser Welt, teils in der nächsten. Zweifel können quälen, aber sie können nicht schaden, außer wir geben ihnen nach. Daß wir ihnen nicht nachgeben sollten, sagt uns das Gewissen, so daß unser Weg klar ist. Je mehr wir damit Ernst machen, „unser Heil zu wirken“ (Phil 2, 12), um so weniger brauchen wir uns zu kümmern um die Erkenntnis des wahren Wesens der uns verwirrenden Dinge. Endlich, wenn wir mit ganzem Herzen unserer Arbeit nachgehen haben wir keine Lust, uns die Mühe zu nehmen,‘ auf seltsame Wahrheiten zu hören (nur weil sie seltsam sind), obwohl wir eine Erklärung dafür haben könnten. Denn was sagt die Heilige Schrift? Der Grübeleien ist „kein Ende“ und diese sind „dem Fleisch lästig“; dagegen müssen wir „Gott fürchten und Seine Gebote halten; denn das ist des Menschen ganze Pflicht“ (Prd 12, 12. 13).

John Henry Newman, Deutsche Predigten (vol 1, 16), Schwabenverlag Stuttgart 1948, pp. 228-241.