Versprechen ohne Erfüllung

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13. Predigt vom 30. Oktober 1831

„Ein Mann hatte zwei Söhne. Er ging zu dem ersten und sagte: Mein Sohn, gehe und arbeite heute in meinem Weinberg. Der antwortete und sprach: Ich habe keine Lust. Nachher aber reute es ihn und er ging hin. Dann ging er zum zweiten und sagte zu ihm das gleiche. Dieser antwortete und sprach: Ja, Herr, ging aber nicht hin“ (Mt 21,28-30).

Der Abstand zwischen unseren religiösen Bekenntnissen und unserem entsprechenden Handeln ist weit größer als wir uns bewußt sind. Wir wissen im allgemeinen, daß es unsere Pflicht ist, Gott zu dienen, und wir haben den festen Entschluß, es treu tun zu wollen. Wir meinen es aufrichtig mit diesem allgemeinen Wunsch und Vorsatz gehorsam zu sein und wir glauben, daß es uns ernst ist. Doch wir gehen weg und gleich darauf, ohne einen seelischen Kampf oder eine deutliche Änderung des Vorsatzes, fast ohne selbst zu wissen, was wir tun, – gehen wir weg und tun gerade das Gegenteil von unserem ausdrücklichen Entschluß. Diese Zwiespältigkeit legt der Herr dar im zweiten Teil der Parabel, die ich als Vorspruch genommen habe. Beachtet, daß im Fall des ersten Sohnes, der sagte, er ginge nicht an die Arbeit und dann doch ging, bemerkt wird, „nachher reute es ihn“; es vollzog sich in ihm eine wirksame Änderung seines Vorsatzes. Im Falle des zweiten wird aber nur bemerkt, „er antwortete: Ja, Herr; und ging nicht“; – denn hier gab es keine Änderung der Gesinnung, keine Überlegung; er handelte einfach nach seiner üblichen Geisteshaltung. Er ging nicht an die Arbeit, weil es seiner allgemeinen Einstellung widersprach zu arbeiten; nur war er sich dessen nicht bewußt. Er sagte aufrichtig, aus dem augenblicklichen Gefühl heraus, „ja, Herr“. Kaum aber hatten die Worte seinen Mund verlassen, waren sie schon vergessen. Es war, wie wenn der Wind gegen einen Strom bläst. Dieser scheint infolgedessen für einen Augenblick seinen Lauf zu ändern, aber tatsächlich fließt er abwärts wie zuvor.

Ich möchte nun eure Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand lenken, wie er sich aus dem letzten Teil der Parabel ergibt, und übergehe den Fall des reuigen Sohnes, was allein schon ein Thema für sich wäre. „Er antwortete und sprach: Ja, Herr; ging aber nicht“. Auch wir versprechen Gott zu dienen, aber wir führen es nicht aus. Das geschieht im einzelnen Fall nicht aus überlegter Treulosigkeit, sondern weil es unsere Natur ist und unsere Art, nicht zu gehorchen, und wir wissen das nicht. Wir kennen uns selbst nicht, noch was wir versprechen. Ich will mehrere Beispiele dieser Art von Schwäche anführen.

1. Zum Beispiel: die Verwechslung guter Gefühle mit wirklich religiösen Grundsätzen. Beachtet, wie oft das vorkommt. Notgedrungen ist dies der Fall bei jungen Menschen, die noch keiner Versuchung ausgesetzt waren. Sie sind (wenn wir es so nennen wollen) religiös erzogen worden, sie wollen religiös sein und sind daher Gegenstand unserer Liebe und unserer Beachtung. Sie halten sich aber selbst für weit religiöser, als sie in Wirklichkeit sind. Sie meinen, die Sünde zu hassen, die Wahrheit zu begreifen und der Welt widerstehen zu können in einem Zeitpunkt, da sie schwerlich die Bedeutung ihrer Worte kennen. Wie oft wird ferner einer durch Umstände angeregt, einen tugendhaften Wunsch zu äußern oder auch eine selbstlose oder tapfere Tat vorzunehmen, und vielleicht zollt er sich Beifall ob seiner guten Gesinnung, während ihm kein Zweifel aufsteigt, daß er nicht danach handeln kann! In Wahrheit, er versteht nicht, wo die eigentliche Schwere seiner Pflicht liegt; er glaubt, das Merkmal eines religiösen Menschen bestehe darin, richtige Begriffe zu haben. Es entgeht ihm, daß zwischen Gefühl und Tat ein großer Abstand besteht. Er setzt es als selbstverständlich voraus, tun zu können, was er wünscht. Er weiß, daß er frei ist in seinem Handeln und in allem tun kann, was er will. Er ist sich aber nicht bewußt der Last der verderbten Natur und der sündhaften Gewohnheiten, die seinem Wollen anhängen und ihn bei jeder einzelnen Ausübung dieser Freiheit hemmen. Er hat jene so lange getragen, daß er ihr Dasein nicht mehr fühlt. Er weiß, daß er in kleinen Dingen, wo Leidenschaft und Neigungen ausgeschlossen sind, etwas ausführen kann, sobald er den Entschluß dazu faßt. Sollte er bei seinem Spaziergang auf zwei Wege stoßen, die nach rechts oder links gehen, dann kann er mit Sicherheit sogleich wählen, welchen er will, und zwar ohne jede Schwierigkeit. Und so bildet er sich ein, der Gehorsam gegen Gott sei nicht viel schwieriger als sich nach rechts zu wenden anstatt nach links.

2. Einen besonderen Fall von dieser Selbsttäuschung sehe ich im Aufschub der Buße. Es sagt einer bei sich, „natürlich, wenn es zum Schlimmsten kommt, wenn Krankheit naht oder wenigstens das Alter, kann ich bereuen“. Ich spreche nicht von der schrecklichen Anmaßung einer solchen Art, das Gewissen zu beruhigen (obwohl viele tatsächlich danach handeln, die es zwar nicht in Worten aussprechen noch sich bewußt sind, daß sie danach handeln), sondern nur von der Unwissenheit, die sich hinsichtlich unseres sittlichen Zustandes und unserer Fähigkeit des Wollens und Könnens offenbart. Wenn sie fähig sind zu bereuen, warum tun sie es nicht sogleich? Sie antworten auf unsere Frage, daß „sie beabsichtigen, es später zu tun“; d. h. sie bereuen nicht, weil sie jederzeit die Möglichkeit haben. Das ist ihre Ausflucht. Die eigentliche Tatsache dagegen, daß sie es jetzt nicht tun, sollte sie Verdacht schöpfen lassen, daß es einen größeren Unterschied zwischen Wollen und Tun gibt, als sie gewahr sind.

So überaus schwer ist Gehorsam, so hart erkämpft ist jeder Schritt in unserem christlichen Leben, und so schwerfällig und kraftlos unsere verderbte Natur, daß ein Mensch zweifeln müßte, ob er ein Jota oder Tüpfelchen über das hinaus zu tun vermag, was er bereits getan hat. Er sollte es vermeiden, bei der Hoffnung auf Zukünftiges Anleihe zu machen, mag auch die Sicherung, die er scheinbar dafür zeigen kann, noch so groß sein, und er sollte sich hüten, seine guten Gefühle und Wünsche als Unterpfand für eine einzige unerprobte Tat zu nehmen. Nur vergangene Taten sind Bürgen für zukünftige. Gebrachte Opfer, getane Arbeit, errungene Siege über euch selbst, – dies sind, meine Brüder, die Unterpfänder von Ähnlichem in der Zukunft, und ohne Zweifel von noch Größerem in der Zukunft; denn der Pfad des Gerechten ist wie das leuchtende, wachsende Licht. Verlaßt euch auf nichts Geringeres. „Taten, nicht Worte und Wünsche“, das muß die Losung eurer Kriegsführung und der Grund für euer Sicherheitsgefühl sein. Wenn ihr aber bis jetzt nichts Festes und Männliches getan habt, wenn ihr immer noch die feigen Knechte Satans seid und die armseligen Geschöpfe eurer Lüste und Leidenschaften, dann dürft ihr nie erwarten, daß ihr eines Tages euch von eurer Trägheit erheben werdet. Ach, es gibt Menschen, die auf dem Weg zur Hölle wandeln und die ganze Zeit zum Himmel zurückblicken und zittern, während sie vorwärts schreiten, hin zum Ort ihres Verderbens. Sie eilen dahin wie unter einem Zauber und schrecken vor den Folgen ihrer eigenen überlegten Taten zurück. Ein solcher war Balaam. Was hätte er dafür gegeben, wenn Worte und Gefühle als Taten gegolten hätten! Seht, wie gewissenhaft er war, soweit das Bekenntnis in Frage kommt. Wie ehrte er nicht Gott in Worten! Welcher Ausdruck seines frommen Verlangens, den Tod des Gerechten zu sterben! Trotzdem starb er in der Schlacht unter den Feinden Gottes; er wurde nicht plötzlich überwältigt von der Versuchung, nur kehrte er andererseits nicht sofort zu Gott durch seine guten Gedanken und edlen Absichten zurück. Darin aber unterscheidet sich die Macht der Sünde von jeder ausgesprochenen Zauberei oder Betörung, daß wir schließlich ihre willigen Sklaven und verantwortlich sind, wenn wir ihr folgen. Wenn auch „unsere Frevel uns forttragen wie der Wind“ (Is 64, 6), könnten wir dies doch vermeiden.

Es kommt nicht nur unter Anfängern im religiösen Gehorsam vor, daß dieser große Abstand zwischen Versprechen und Ausführen besteht. Wir können nie sagen, wie wir unter neuen Umständen han­deln  werden.  Es  bedarf  einer  ganz  geringen Kenntnis des Lebens und unseres eigenen Herzens, uns das zu lehren. Männer, denen wir in der Welt begegnen, erweisen sich im Verlauf ihrer Prüfung so verschieden von dem, was ihr früheres Be­nehmen versprach, sie sehen die Dinge so ver­schieden an vor der Versuchung und nachher, daß wir, die wir es verwundert sehen, vollen Grund dazu haben, auf uns selbst zu schauen, nicht „hoch­mütig“ zu sein, sondern zu „fürchten“. Sogar die reifsten Heiligen, solche, die im hohen Maß die Macht und Fülle von Christi Geist einsogen und in ihren Tagen mit großem Eifer Gerechtigkeit übten, sogar solche würden (ich bin davon über­zeugt), hätten sie  selbst von einem Menschen genau beobachtet werden können, derartige Zwie­spältigkeiten gezeigt haben, daß sie bei ihren be­geistertsten Schülern Überraschung und Anstoß verursacht hätten. Schließlich ist eine gute Tat kaum das Unterpfand für eine weitere, obwohl ich es gerade sagte. Die besten Menschen sind unbe­rechenbar; sie sind groß und dann wieder klein; sie stehen fest und dann fallen sie. So ist mensch­liche Tugend; – eine Mahnung für uns, niemand auf Erden Meister zu nennen, sondern auf unseren sündenlosen  und  vollkommenen  Herrn  hinzu­schauen; eine Mahnung, uns zu demütigen, jeder in seinem Inneren, und nachzudenken, in welchem Licht wir vor Gott erscheinen müssen, wenn wir schon uns selbst und einander so niedrig und wert­los vorkommen; ein deutlicher Hinweis dafür, daß wir alle, die wir gerettet werden, sogar der am wenigsten Zwiespältige unter uns, nur gerettet werden können durch den Glauben, nicht durch Werke.

3. Hier kommt mir der Gedanke an eine andere wahrscheinliche Form desselben Irrtums. Er rührt von einem falschen Begriff des Glaubens her. Die Schrift sagt uns, wie wir wissen, daß Gott jene wohlgefällig annimmt, die Glauben haben an Ihn. Nun ist die Frage: Was ist Glaube und wie kann einer behaupten, daß er Glauben hat? Manche antworten sogleich und ohne Zögern, daß „Glau­ben haben soviel heiße als sich selbst für nichts halten und Gott für alles; es ist ein Überzeugtsein von der Sündenschuld, ein Bewußtsein, daß man sich selbst nicht retten kann, und ein Verlangen, durch Christus unseren Herrn gerettet zu werden; über­dies gelte es, warme Liebe zu Ihm im Herzen zu haben, sich zu freuen in Ihm, nach Seiner Herr­lichkeit sich zu sehnen und entschlossen zu sein, Ihm zu leben und nicht der Welt“. Aber ich will mit allem schuldigen Ernst entgegnen, da es sich um eine ernste Sache handelt: das ist nicht der Glaube. Nicht daß es nicht nötig wäre (es ist sehr nötig) überzeugt zu sein, daß wir mit Schwachheit und Sünde beladen und ohne innere Gesundheit sind, und nicht nötig, für unsere Rettung nur auf Christi heiliges Opfer am Kreuz zu schauen. Wir können wohl dankbar sein, wenn wir so gesinnt sind. Ein Mensch kann aber alles, was ich be­schrieben habe, lebhaft fühlen und doch keinen Funken religiösen Glaubens in sich tragen. Warum? Weil ein unmeßbarer Abstand besteht zwischen recht fühlen und recht tun. Es kann je­mand alle diese guten Gedanken und Gemütsbe­wegungen haben, doch kann er nicht sich selbst versprechen, daß er überhaupt irgend einen ge­sunden und bleibenden Grundsatz hat, wenn er sie nicht in der praktischen Erfahrung eingesetzt hat. Wenn er jedoch noch nicht danach gehandelt hat, haben wir rein auf Grund von ihnen noch keine Bürgschaft dafür, daß diese Dinge nichts anderes sind als Worte. Spräche einer selbst wie ein Engel, ich würde ihm nicht glauben nur auf Grund seiner Worte. Ja, solange er nicht danach handelt, hat er sogar für sich selbst keinen Beweis, daß er echten lebendigen Glauben hat. Toter Glaube nützt niemand (wie der heilige Jakobus sagt). Natürlich nicht; auch die Teufel haben ihn. ‚Was ist dagegen lebendiger Glaube? Machen in­brünstige Gedanken den Glauben lebendig? Der heilige Jakobus belehrt uns eines anderen. Er sagt uns, Werke, Taten des Gehorsams, sind das Leben des Glaubens. „Gleich wie der Leib ohne Geist tot ist, also ist auch der Glaube ohne die Werke tot“ (Jak. 2, 26). So sind jene, die annehmen, einen wirklichen Glauben zu haben, weil sie sich in Wort und Gedanke an Gott hingegeben haben, viel zu voreilig in ihrem Urteil. Sie haben allerdings etwas von ihrer Pflicht getan, aber durchaus nicht den schwierigsten Teil, der darin besteht, sich Gott in Tat und Werk zu übergeben. Sie haben bis jetzt nichts getan zum Beweis, daß sie nicht nach dem Wort „ich gehe“, im nächsten Augenblick sagen werden „ich gehe nicht“; nichts zum Beweis, daß sie nicht die Rolle des sich selbst täuschenden Jüngers spielen werden, der sagte, „auch wenn ich mit Dir sterben sollte, will ich Dich nicht verleugnen“ [Mt 26, 35]. Doch dieser ging gerade­wegs hin und verleugnete Christus dreimal. So­weit wir etwas von der Sache verstehen, hat der rechtfertigende Glaube kein Dasein unabhängig von seinen einzelnen bestimmten Handlungen. Wir können ihn beschreiben als die Seelenhaltung, unter der Menschen gehorchen, als den demütigen und ernsten Wunsch, Christus zu gefallen, der den tatsächlichen Dienst bewirkt und begleitet. Wer eine kleine Tat des Gehorsams vollbringt, sei es, daß er sich selbst eine Annehmlichkeit versagt, um Kranken und Bedürftigen Linderung zu ver­schaffen, oder seine Leidenschaft zügelt oder einem Feind verzeiht, oder für eine begangene Beleidi­gung abbittet oder dem Geschrei oder dem Ge­lächter der Welt sich widersetzt – ein solcher be­weist (soweit wir ein Urteil fällen können) echteren Glauben, als er sich offenbaren könnte in der flüssigsten religiösen Unterhaltung, in der ver­trautesten Kenntnis der Schriftlehre oder in der bedeutsamsten Wallung und Wandlung religiöser Gefühle. Doch wie viele gibt es, die noch mit müßi­gen Händen dasitzen, träumen, überhaupt nichts tun und meinen, sie hätten alles getan oder brauch­ten nichts zu tun, wenn sie nur diese guten Ge­danken gehabt hätten, die doch keinen retten werden.

Es war meine Absicht, soweit wenige Worte dazu imstande sind, euch zu einer echten Kenntnis der Abgründe und der Selbsttäuschung des Herzens, das wir in Wirklichkeit nicht kennen, zu führen. Es ist leicht, von der Verderbtheit der mensch­lichen Natur im allgemeinen zu sprechen, sie im allgemeinen zuzugeben und dann die Frage los­zuwerden; als ob es mit der Lehre, ist sie einmalzugegeben, kein weiteres Bewenden hätte. In Wirklichkeit aber können wir die Wahrheit von unserer Verderbnis nicht lebendig erfassen, bis wir das Gefüge unserer Seele Teil um Teil be­sehen, dabei verweilen und die Zeichen unserer Schwäche, Zwiespältigkeit und Gottlosigkeit aus­forschen, die so sind, daß sie aus nichts anderem als aus einem sonderbaren ursprünglichen Fehler in unserer sittlichen Veranlagung entstehen können.

1. Es wird nun gut sein, wenn eine solche Selbst­prüfung, wie ich sie nahegelegt habe, uns zu der Gewohnheit beständiger Abhängigkeit vom un­sichtbaren Gott hinführt, in dem „wir leben, weben und sind“ [Apg 17, 28]. Wir sind im Dun­kel über uns selbst. Wenn wir handeln, tasten wir im Finstern umher und können jeden Augenblick zu Fall kommen. Da und dort sehen wir vielleicht ein wenig; oder in unseren Versuchen, unseren Geist zu beeinflussen und zu bewegen, machen wir gleichsam Experimente mit einem feinen und ge­fährlichen Werkzeug, das wir in seiner Wirkung nicht kennen und das unerwartete und verhee­rende Folgen zeitigen kann. Die Handhabung unseres Herzens übersteigt unsere Kraft. Unter diesen Umständen gereicht es uns zum Trost, auf Gott zu schauen. „Du, o Herr, siehst mich!“ [Gn 16, 13], das war der Trost der verlassenen Hagar in der Wüste. Er weiß, woraus wir gebildet sind, und Er allein kann uns aufrecht erhalten. Er sieht mit der schrecklichsten Genauigkeit all unsere Sünden, alle Windungen und Verstecke des Bösen in uns; und doch ist es unser einziger Trost, dies zu wissen und auf Seine Hilfe gegen uns selbst zu vertrauen. Denjenigen, die eine richtige Kenntnis ihrer Schwäche haben, ist der Gedanke an ihren Allmächtigen Heiliger und Lenker stets gegen­wärtig. Sie glauben an die Notwendigkeit eines geistigen Einflusses, sie zu ändern und zu stärken, nicht als an eine bloße abstrakte Lehre, sondern als eine praktische und sehr trostreiche Wahrheit, die täglich in ihnen sich auswirken soll in ihrem Kampf gegen Sünde und Satan.

2. Ferner muß uns diese Überzeugung von unserer außerordentlichen Schwäche dazu führen, uns selbst zur Erforschung unserer Ernsthaftigkeit in kleinen Dingen, beständig zu erproben, immer uns selbst gegenüber mißtrauisch zu sein und uns nicht nur zu hüten, viel zu versprechen, sondern uns wirk­lich auf die Probe zu stellen, um uns selbst wach­sam zu halten. Ein nüchterner Geist genießt nie Gottes Segnungen bis zum Vollmaß; er zieht sich zurück und verzichtet auf einen Teil, um dadurch seine Gewalt über sich selbst zu zeigen. Er ver­leugnet sich selbst in unbedeutenden Dingen, auch wenn durch die Verleugnung nichts als ein Be­weis seiner Ehrlichkeit erzielt wird. Er stellt sein Bekenntnis auf die Probe. Wenn er versucht wor­den ist, etwas Edles und Großes zu sagen, oder einen anderen wegen Trägheit und Feigheit zu tadeln, dann nimmt er sich selbst beim Wort und entschließt sich, ein Opfer (wenn möglich) in klei­nen Dingen zu bringen als einen Ersatz für den Genuß an der feinen Rede oder als eine Strafe für seine Krittelei. Viel wäre gewonnen, wenn wir diese Regel sogar in unseren Bezeugungen der Freundschaft und Dienstbereitschaft füreinander anwenden und nie etwas sagen würden, was wir nicht willens wären zu tun.

Es gibt nur einen Ort, wo der Christ ohne Zurück­haltung sich geben darf, und das ist die Kirche. Hier, unter der Führung der Apostel und Pro­pheten, sagt er kühn viele Dinge, als einer, der ihre Worte nachspricht, und vor Dem, der die Nieren durchforscht. In dem ganz unmittelbaren Bekenntnis Gott gegenüber kann kein Schaden an­gerichtet werden, denn während wir sprechen, wissen wir, daß Er unser Bekenntnis durchschaut und es dafür nimmt, was es in Wirklichkeit ist, für Gebet. Wie Großes z. B. bekennen wir, wenn wir das Credo beten! Und in den Kirchengebeten bekleiden wir uns mit der vollen Würde eines Christen. Wir verlangen und streben nach den besten Gaben und erklären unsere feste Absicht, Gott mit unserem ganzen Herzen zu dienen. Ge­rade dadurch erinnern wir uns an unsere Pflicht. Obendrein demütigen wir uns und machen uns gleichsam vor uns lächerlich, indem wir über un­sere zusammengeschrumpfte und schwächliche Er­scheinung diese weiten und herrlichen Kleider werfen, die sich für den aufrichtigen und erwach­senen Gläubigen schicken.

Schließlich sehen wir aus der Parabel, wie im ganzen der menschliche Gehorsam sich auswirkt und beschaffen ist. Er hat zwei Seiten. Ich habe die dunklere Seite gewählt, den Fall des Bekennt­nisses ohne die Ausführung, daß einer sagt, „ja, Herr“, und doch nicht geht. Aber welches ist die hellere Seite? Nichts anderes als zu sagen, „ich gehe nicht“, dann es zu bereuen und doch zu gehen. Der gewöhnlichste Zustand der Menschen ist der, daß sie ihr Unvermögen, Gott zu dienen, nicht kennen, und bereitwillig für sich selbst Rede und Antwort stehen. So gehen sie ruhig durch das Leben, als ob sie nichts zu fürchten hätten. Was ist ihre beste Haltung, als mehr oder weniger gegen Gott zu rebellieren, Seinen Geboten und Vorschriften zu widerstehen und dann für das angerichtete Unheil durch Reue und Gehorsam ärmlichen Ersatz zu leisten? Leider besagt Chri­stenleben nichts Besseres als Kampf gegen die Sünde, Ungehorsam und Reue. Es hat nur Einen unter den Menschen gegeben, der folgerichtig ge­sprochen und gehandelt hat, der sagte, „Ich komme Deinen Willen zu tun, o Herr“ [Ps 39, 9], und Er tat ihn ohne Aufschub und Hemmung. Er kam, um uns zu zeigen, was die menschliche Natur wer­den könnte,-wenn man sie zu ihrer Vollkommen­heit brächte. So lehrt Er uns, hoch von unserer Natur zu denken, wenn sie in Ihm gesehen wird; nicht (wie manche tun) unsere Natur herabzu­setzen und doch auf uns persönlich stolz zu sein, sondern, während wir unseren eigenen Abstand vom Himmel anerkennen, unsere Natur in Ihm erneuert zu sehen, wie sie über alles Denken hin­aus herrlich und wunderbar ist. Auf diese Weise lehrt Er uns, voll Hoffnung zu sein, und ermutigt uns, während das Gewissen uns demütigt. Die Engel erscheinen gering in Ehre und Würde, ver­glichen mit jener Natur, die das Ewige Wort durch Seine Vereinigung mit ihr gereinigt hat. Von nun an wagen wir zu verlangen, in den Himmel der Himmel einzutreten und für immer in Gottes Gegenwart zu leben, weil die Erstlings­frucht unseres Geschlechtes bereits dort ist in der Person Seines eingeborenen Sohnes.

John Henry Newman, Deutsche Predigten (vol 1, 13), Schwabenverlag Stuttgart 1948, pp. 186-198.