Die besondere Vorsehung, im Evangelium geoffenbart

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9. Predigt, am 5. April 1835

„Du, o Gott, siehst mich“ (Gn 16, 13).

Als Hagar vor dem Angesicht ihrer Herrin in die Wüste floh, wurde sie von einem Engel heimge­sucht, der sie zurücksandte; aber zugleich mit diesem stillschweigenden Verweis ihrer Ungeduld gab er ihr ein Wort der Verheißung, um sie zu ermutigen und zu trösten. Inmitten dieser bald demütigenden bald freudigen Gedanken, die in ihr aufgestiegen wa­ren, erkannte sie die Gegenwart ihres Schöpfers und Herrn, der zu Seinen Dienern immer in zwei­facher Gestalt kommt, streng, weil Er heilig, jedoch auch sanft, weil Er an Barmherzigkeit überreich ist. Daher nannte sie den Namen des Herrn, der zu ihr sprach: „Du, o Gott, siehst mich.“

Die Lage des Menschen vor der Ankunft Christi war folgende: er war begnadet mit gewissen gele­gentlichen Fingerzeigen von Gottes Obsorge für die einzelnen, aber zum größten Teil war er nur be­lehrt über Seine allgemeine Vorsehung, wie man sie im Ablauf der Menschheitsgeschichte beobachtet. In dieser Hinsicht war selbst das Gesetz lückenhaft, obwohl es zahlreiche Beweise lieferte, daß Gott ein lebendiger, allsehender und allvergeltender Gott ist. Es war, verglichen mit dem Evangelium, lückenhaft in dem Erweis der wirklich und unabhängig von aller anderen in der Welt vorhandenen Be­ziehung zwischen der einzelnen Menschenseele und ihrem Schöpfer. Von Moses heißt es zwar, daß „der Herr mit ihm redete von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde spricht“ (Ex 33,11); aber das war ein besonderes Vorrecht, das nur ihm und einigen anderen gewährt wurde, wie Hagar, die es in den Worten des Vorspruches erwähnt, nicht aber allen. Doch im Neuen Bund ist uns klar geoffenbart, daß Gott diese besondere Obsorge jedem von uns angedeihen läßt. Der christlichen Kirche wurde geweissagt: „Alle deine Kinder sind Jünger des Herrn; und groß ist deiner Kinder Friede“ (Is 54,13). Als der Ewige Sohn in unserem Fleisch auf die Erde kam, sahen die Menschen ihren unsichtbaren Schöpfer und Richter. Er zeigte Sich nicht mehr bloß in den Kräften der Natur oder in dem Gewirr menschlicher Geschehnisse, sondern in unserer eigenen Ebenbildlichkeit. „Gott, welcher befahl, daß aus Finsternis Licht leuchtete, hat un­sere Herzen erleuchtet, das Licht der Erkenntnis der göttlichen Herrlichkeit strahlen zu lassen auf dem Antlitz Jesu Christi“ (2 Kor 4,6); d. h. in einer sichtbaren Gestalt, in einem wirklich existierenden Einzelwesen. Und zu gleicher Zeit begann Er auch uns als einzelne anzusprechen. Er sprach von Sich aus zu jedem einzelnen von uns. So geschah in einem gewissen Sinn eine Offenbarung von Angesicht zu Angesicht.

Das ist das Thema, zu dem ich nun einige Ausführungen machen möchte. Zuerst darf ich bemerken, daß es trotz der im Evangelium uns gegebenen Offenbarung sehr schwierig ist, mit der Idee dieser besonderen göttlichen Vorsehung fertig zu werden.

Wenn wir uns auf dem Strom der Welt dahintreiben lassen, d. h. leben wie andere Menschen, da und dort unsere Begriffe von Religion auflesen, wie es sich gerade gibt, dann haben wir eine geringe oder keine wahre Vorstellung von einer beson­deren Vorsehung. Wir begreifen, daß Gott nach einem großen Plan wirkt; aber wir können die wunderbare Wahrheit nicht lebendig erfassen, daß Er die einzelnen sieht und an sie denkt. Wir können nicht glauben, daß Er wirklich allgegenwärtig ist, daß Er, obgleich unsichtbar, überall ist, wo wir sind. Wir können z. B. verstehen oder wir meinen es zu verstehen, daß Er auf dem Sinai gegenwärtig war oder im jüdischen Tempel oder daß Er unter Dathan und Abiron die Erde spaltete. Aber wir glauben nicht genugsam, daß Er in gleicher Weise „auf unserem Pfad und an unserem Lager ist und alle unsere Wege durchforscht“ (Ps 138, 3. 4). Wir lassen uns nicht dazu bewegen, an der erhabenen Tatsache festzuhalten, daß Er das sieht, was in die­sem Augenblick unter uns vorgeht; daß auf Seine stillschweigende, unsichtbare Anordnung hin dieser fällt, jener aber erhöht wird. Wir gebrauchen zwar die Gebete der Kirche und bitten nicht nur für alle menschlichen Lebenslagen, sondern auch für den König, den Adel, das Parlament usw. bis hinab zu den einzelnen Kranken in unserer Gemeinde; doch trotz allem werden wir mit der Wahrheit Seiner Allwissenheit nicht vertraut. Wir wissen, daß Er im Himmel ist, und vergessen, daß Er auch auf Erden ist. Das ist der Grund, warum die meisten Men­schen so profan sind. Sie führen leichtfertige Reden und spotten über Religion; sie gestatten sich, lau und gleichgültig zu sein; sie ergreifen für schlechte Menschen Partei; sie begünstigen schlechte Maßnahmen; sie verteidigen Ungerechtigkeit oder Grau­samkeit oder Sakrileg oder Unglauben; und dies, weil sie keine Ahnung von einer Wahrheit haben, die sie anderseits keineswegs zu leugnen beabsich­tigen, nämlich daß Gott sie sieht. Es gibt freilich einen Eigenwillen und eine Selbsttäuschung, die auch in Gottes sichtbarer Gegenwart weiter sündi­gen würde. Dies war die Sünde Balaams, der sich um des Lohnes willen auf die Seite der Feinde Israels stellte; und die Sünde Zimris, des Sohnes des Salu, eines Anführers der Simeoniten, an dem Phineas das Gericht vollzog; das war die Sünde des Saul, des Judas, des Ananias und der Sapphira. Das ist zweifellos heute die Sünde von so manch einem in England, wenn man nicht annehmen will, die menschliche Natur sei anders geworden, als sie ehedem war; es ist in gewissem Maß von Zeit zu Zeit auch unsere eigene Sünde, wie jeder sicher feststellen kann, der sich selbst zu prüfen pflegt. Doch obendrein werden auch viele leichtfertige Sün­den begangen, weil wir vergessen, nicht begreifen, daß wir in Gottes Gegenwart sind; nicht begreifen oder (mit anderen Worten) nicht davon überzeugt sind, daß Er all unser Tun sieht, hört und bucht.

Ebenso verhalten sich oft Leute, wenn sie in Schwierigkeiten geraten. Die Welt läßt sie im Stich, und sie verzagen, weil sie sich die liebende Güte und die Gegenwart Gottes nicht lebendig vergegenwärti­gen. Sie finden keinen Trost in einer Wahrheit, die für sie keine Wirklichkeit, sondern eine Meinung ist. Daher nannte Hagar, als sie in der Wüste vom Engel heimgesucht wurde, den Namen des Herrn, der zu ihr sprach: „Du, o Gott, siehst mich.“ Die Wahrheit, daß inmitten ihrer Schwierigkeit und ihres Eigensinnes das Auge Gottes auf ihr ruhte, war für sie etwas Neues. Das gleiche ist hier der Fall. Die Leute sprechen in allgemeinen Worten von der Güte Gottes, von Seinem Wohlwollen, Sei­nem Mitleid und Seiner Langmut; aber sie sehen das an als eine Flut, die sich wie das Sonnenlicht über die ganze Welt ergießt, nicht als das beständig sich wiederholende Handeln eines denkenden und lebendigen Geistes, der die sieht, die er heimsucht, und der beabsichtigt, was er wirkt. Demgemäß kön­nen sie nur sagen, wenn sie in Schwierigkeiten ge­raten: „Es gereicht alles zum besten – Gott ist gut“ und dergleichen; und dies fällt nur wie ein kühler Trost auf sie und vermindert nicht ihr Leid, denn sie haben ihr Herz nicht fühlen lassen, daß Er ein barmherziger Gott ist, der Sich um sie persönlich kümmert, und nicht bloß eine allumfassende Vor­sehung, die nach allgemeinen Gesetzen wirkt. Und dann bricht vielleicht urplötzlich die wahre Vorstel­lung über sie herein, wie über Hagar. Ein beson­derer Akt der Vorsehung in ihrem Unglück dringt geradewegs in ihr Herz und bringt ihnen ganz klar zum Bewußtsein, daß Gott sie sieht, in einer Weise, die sie nie zuvor erfahren hatten. Und überrascht von dem, was ihnen etwas ganz Neues ist, fallen sie hierauf aus ihrer früheren Gleichgültigkeit in das entsprechende andere Extrem und lassen sich zu der Annahme verleiten, sie seien mehr als alle anderen Menschen der besondere Gegenstand der göttlichen Liebe. Anstatt das, was ihnen widerfuhr, als Beweis Seiner besonderen Vorsehung für alle aufzufassen, wie sie in der Schrift geoffenbart ist,, wollen sie doch kein Jota oder Tüpfelchen mehr glauben als sie sehen; und während sie entdecken, daß Gott sie persönlich liebt, nähern sie sich des­halb um keinen einzigen Schritt der ganzen Wahrheit, daß Er andere auch persönlich liebt. Hätten sie sich von jeher der eingehenden Lesung der Schrift gewidmet, wären sie vor beiden Irrtümern bewahrt geblieben – ihrem ersten, der in einer völ­ligen Blindheit gegenüber der besonderen Vor­sehung bestand, und ihrem zweiten, der diese engstirnig auf sie selbst beschränkte, als ob die Welt ringsum verworfen und verdammt wäre: denn die Schrift stellt jene Gnade als den Anteil ausnahmslos aller Menschen dar.

Ich halte es kaum für notwendig, solchen, die sich lange mit den Evangelien beschäftigt haben, den Beweis dafür zu liefern, daß das eigentliche Kenn­zeichen der darin geschilderten Güte unseres Herrn ihre Zartheit und Rücksichtnahme ist. Diese Eigen­schaften bilden nämlich die Vollendung der Güte von Mensch zu Mensch; aber gerade weil das Sy­stem der Welt so ausgedehnt und verwickelt und ihr Schöpfer unsichtbar ist, gelingt es unserer Ein­bildungskraft kaum, sie Ihm zuzuschreiben, selbst wenn unser Verstand davon überzeugt ist und wir es demgemäß glauben möchten. Seine Vorsehung tut sich kund in den allgemeinen Gesetzen, sie be­wegt sich vorwärts auf dem geraden Weg der Wahrheit und Gerechtigkeit; sie kennt kein An­sehen der Person, sie belohnt die Guten und bestraft die Bösen, nicht als Einzelwesen, sondern entspre­chend ihrem Charakter. Wie soll Er, der allheilig ist, Seine Liebe diesem oder jenem um des einzel­nen willen zuwenden, auf jeden einzelnen von uns schauen, ohne Seinen eigenen Vollkommenheiten Eintrag tun? Oder wäre das höchste Wesen auch ein Gott unterschiedslosen Wohlwollens, wie sollte selbst dann der Gedanke an Ihn mit jener zwingen­den Macht uns zum Bewußtsein kommen, welche die Güte eines menschlichen Freundes auf uns aus­übt? Die größte Anerkennung, die wir der Güte eines Vorgesetzten zollen können, ist die, daß wir sagen, er handle, wie wenn er sich persönlich um uns kümmerte. Die Großzahl der wohlwollenden Menschen ist gütig und freigebig, weil es so ihre Art ist, und schauen nicht auf die Person dessen, dem sie Gutes tun. Die natürliche Anlage, ein An­flug guter Laune oder eine Wendung zum Guten öffnet das Herz, das sich verschwenderisch ausgießt auf Freund und Feind. So streuen sie Wohltaten aus im Vorübergehen. Auf den ersten Blick ist es nun schwierig, zu sehen, wie Gott unsere Vorstel­lung von irdischem Meinen loslösen kann, jenem Meinen nämlich, daß Seine Güte entweder unvoll­kommen oder durch Schicksal und Notwendigkeit bestimmt sei; und wunderbar allerdings und an­betungswürdig ist die Herablassung, womit Er un­serer Schwachheit entgegenkommt. Er ist ihr ent­gegengekommen und hat ihr aufgeholfen in jenem gleichen Heilsplan, durch den Er unsere Seelen er­löste. Damit wir verstehen möchten, daß Er trotz Seiner  geheimnisreichen Vollkommenheiten die einzelnen besonders kennt und berücksichtigt, hat Er das Denken und Fühlen unserer eigenen Natur angenommen, die, wie wir alle wissen, solcher per­sönlicher Zuneigung fähig ist. Durch Seine Mensch­werdung hat Er unser verworrenes Sinnieren über die Frage abgetan, und es ist, als gäbe Er unsere Einwände zu, um ihnen begegnen zu können, und räume sie dadurch weg, daß Er Sich auf unseren eigenen Boden stellte.

Das einnehmendste Merkmal an der Barmherzig­keit unseres Herrn ist (wenn man so von ihr spre­chen darf) ihre Anpassung an Zeit und Ort, Personen und Umstände; mit anderen Worten, ihre zarte Einfühlung. Sie berücksichtigt und beachtet jeden einzelnen, wie er vor sie hintritt. Sie wird von einigen in einer Weise hervorgerufen, wie sie es von anderen nicht wird, sie kann (wenn ich so sagen darf) sich nicht jedem gegenüber gleich zei­gen; sie hat ihre besondere Schattierung und Art, für jeden zu fühlen; und manchen schenkt sie sich so, als ob Gottes eigenes Glück von ihrem Wohl­ergehen abhinge. Dies könnte veranschaulicht wer­den, wie es oft geschieht, an dem zartfühlenden Be­nehmen unseres Herrn gegenüber Lazarus und sei­nen Schwestern, oder an Seinen Tränen über Jeru­salem, oder an Seinem Verhalten gegen St. Petrus vor und nach seiner Verleugnung, oder gegen den zweifelnden Thomas, oder an Seiner Liebe zu Sei­ner Mutter oder zum heiligen Johannes. Aber ich möchte euch lieber auf Sein Verhalten gegenüber dem Verräter Judas hinweisen; einmal, weil man gewöhnlich nicht darauf hinweist, und dann aus dem folgenden Grund: wenn es irgendeinen auf der ganzen Erde gab, der selbstverständlich aus Seiner Gegenwart als hassenswert oder verworfen hätte ausgeschieden werden müssen, so war es jener, der Ihn, wie Er voraussah, verraten würde. Doch wir finden, daß Er Sich selbst dieses ruchlosen Menschen auf eine gelassene, wenn auch ernste Weise annahm und ihn umsorgte bis hin zur Stunde, da er Ihn verriet.

Judas war in Finsternis und haßte das Licht, und „er ging an seinen Ort“ (Apg 1,25); doch er geriet dorthin nicht dadurch, daß die bloße Macht ge­wisser natürlicher Gegebenheiten ihre unvermeid­lichen Früchte hervorbrachte- oder etwas durch ein empfindungsloses Schicksal, das die verworfenen Menschen zur Hölle verurteilt, – sondern durch einen Richter, der ihn von Kopf bis Fuß durch­schaute, der ihn durch und durch erforschte, um zu sehen, ob da irgendein Hoffnungsstrahl sei, irgend­ein verborgener Funke von Glauben; der immer wieder ihn gewinnen wollte und, wenn Er ihn end­lich aufgab, zugleich über ihn trauerte, jedoch eher mit der verletzten Liebe eines Freundes, als mit der Strenge des Richters über alle Welt. Zum Beispiel zuerst eine aufrüttelnde Warnung, ein Jahr bevor die Probe für ihn kam: „Habe Ich nicht euch zwölf auserwählt, und einer von euch ist ein Teufel?“ (Joh 6, 71); dann, als die Zeit gekommen war, der demütigste Akt der Herablassung gegen einen, der Ihn bald verraten und das unauslöschliche Feuer erleiden sollte: „Er stand vom Mahle auf, und… goß Wasser in ein Becken und fing an, die Füße Seiner Jünger zu waschen“ (Joh 13,4. 5), und Judas war unter ihnen. Dann um dieselbe Zeit eine zweite Warnung oder vielmehr eine traurige, gleichsam zu Sich Selbst gesprochene Klage: „Ihr seid nicht alle rein“ (Joh 13,11). Dann ausdrücklich: „Wahrlich, wahrlich, Ich sage euch, einer von euch wird Mich verraten“ (Mt 26, 21). „Der Menschen­sohn geht zwar hin, wie von Ihm geschrieben steht; wehe aber dem Menschen, durch welchen der Men­schensohn verraten wird! Besser wäre es für jenen Menschen, wenn er nicht geboren wäre. Judas aber, der Ihn verraten hat, erwiderte und sprach: Mei­ster, bin ich es? Und Er antwortete ihm: Du hast es gesagt“ (Mt 26,24-25). Endlich im Augenblick, da er Ihn verriet: „Freund, wozu bist du gekommen?“ „Judas (Er spricht ihn mit Namen an), mit einem Kusse verrätst du den Menschensohn?“ (Mt 26, 50; Lk 22, 48). Ich mache nicht den Versuch, Sein göttliches Vorherwissen mit dieser besonderen und langmütigen Besorgtheit, dieser persönlichen Ge­sinnung Judas gegenüber in Einklang zu bringen, sondern ich möchte nur, daß ihr beim letzteren ver­weilt, damit ihr seht, was uns durch die Offen­barung Gottes im Evangelium geschenkt worden ist, nämlich die Kenntnis Seiner fürsorglichen Rück­sichtnahme auf die einzelnen, derzufolge Er Seine Sonne über Böse wie über Gute aufgehen läßt. Und in ähnlicher Weise werden zweifellos am Jüngsten Tag die Verworfenen und Unbußfertigen nicht als Masse verdammt werden, sondern einer nach dem andern, – einer nach dem andern, wobei jeder der Reihe nach vor dem gerechten Richter er­scheint, in der vollen Herrlichkeit Seines Antlitzes steht, achtsam gewogen und zu leicht erfunden, freilich da, wo Gottes Gerechtigkeit Genugtuung fordert, nicht mit schwachem und schwankendem Entschluß behandelt, aber doch auch mit all der be­dächtigen Sorgfalt und ergreifenden Umsicht eines Richters, der, wenn er könnte, die Früchte Seines Leidens zahlreicher machen wollte, als sie sind.

Diese ernste Erwägung kann noch an Kraft gewin­nen, wenn wir das Verhalten unseres Herrn gegen Fremde, die zu Ihm kamen, betrachten. Judas war Sein Freund; aber wir haben Ihn nie gesehen. Wie wird Er aussehen und wie wird Er uns anschauen? Sein Benehmen gegen die Menschenmenge, nach dem Bericht der Evangelien, soll uns Vertrauen einflößen. Allheilig, allmächtig wie Er ist und Sich gezeigt hat, konnte Er trotz Seiner göttlichen Maje­stät eine zartfühlende Anteilnahme für alle be­kunden, die sich Ihm nahten; als ob Er auf keines Seiner Geschöpfe einen Blick werfen könnte ohne die überfließende Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, die es mit Wohlgefallen betrachtet und ein­fach sein Glück und sein Bestes wünscht. So heißt es, als der reiche Jüngling zu Ihm kam: „Jesus aber blickte ihn liebevoll an und sprach zu ihm: Eines fehlt dir noch“ (Mk 10, 21); als die Pharisäer ein Zeichen forderten, „seufzte er tief im Geiste“ (Mk 8,12). Ein andermal „sah Er sie ringsum an“ – gleichsam jeden einzelnen, um zu sehen, ob da oder dort vielleicht eine Ausnahme von dem allgemeinen Unglauben sich fände, und um jeden der Schuldigen einzeln zu verdammen – „Er sah sie ringsum zür­nend an, betrübt über die Blindheit ihres Herzens“ (Mk 3, 5). Ferner, als ein Aussätziger zu Ihm kam, heilte Er ihn nicht ohne weiteres, sondern „von Mit­leid gerührt, streckte Er Seine Hand aus“ (Mk 1,41) Wie huldvoll ist diese Offenbarung der besonderen Vorsehung Gottes für jene, die Ihn suchen! Wie huldvoll für jene, die entdeckt haben, daß diese Welt nur Eitelkeit ist, und die einsam und abge­schlossen sind, mögen auch noch so sehr die Wolken von Macht und Glück sie umgeben! Die große Mehrzahl lebt freilich ohne diese Empfindungen dahin, entweder aus Empfindungslosigkeit, da sie ihre eigene Leere nicht versteht, oder weil sie von einem Abgott zum andern wechselt, da alle der Reihe nach versagen. Aber Leute mit tiefer ver­anlagtem Herzen würden von Verzagtheit über­wältigt und das Leben verabscheuen, würden sie sich bloß unter die Wirkung starrer Gesetze gestellt glauben, ohnmächtig, das Erbarmen und die Auf­merksamkeit Dessen zu erregen, der sie erlassen hat. Was sollten besonders jene tun, die unter Leute geworfen werden, die nicht in ihre Gefühle ein­dringen können und folglich ihnen fremd bleiben, obwohl sie durch langen Verkehr noch so sehr be­freundet worden sind! Oder jene, die in geistigen Schwierigkeiten sich befinden, die sie sich selbst nicht erklären, geschweige denn beseitigen können, und die niemanden haben, der ihnen hilft; oder jene, die Neigungen und Hoffnungen in sich verschlossen tragen, weil sie noch nichts gefunden haben, dem sie diese schenken könnten; oder die von ihrer Umgebung mißverstanden werden und sehen, daß ihnen die Worte fehlen, um sich ihr gegenüber ins rechte Licht zu setzen, oder die gemeinsamen Grundsätze, um sich darauf zu berufen; oder die glauben, keinen Platz oder Zweck in der Welt zu haben, oder den anderen im Weg zu sein; oder die allein ihrem eigenen Pflichtgefühl folgen müssen und keinen Ratgeber und Helfer haben, ja, den Wünschen und Bitten der Vorgesetzten und Ver­wandten widerstehen müssen; oder jene, welche die Last eines quälenden Geheimnisses oder einer unmitteilbaren, einsamen Trauer tragen! In all diesen Fällen kommt der Bericht des Evangeliums gerade unserem Bedürfnis entgegen, indem er uns nicht nur einen unveränderlichen Schöpfer vor Augen stellt, auf den wir uns verlassen können, sondern auch einen mitfühlenden Behüter, einen einsich­tigen Richter und Helfer.

Gott sieht dich persönlich, wer immer du bist. Er „ruft dich bei deinem Namen“ (Is 43,1). Er sieht dich und versteht dich, weil Er dich geschaffen hat. Er kennt, was in dir ist, alle deine eigenen beson­deren Gefühle und Gedanken, deine Anlagen und Neigungen, deine Stärke und deine Schwäche. Er erblickt dich am Tag deiner Freude und am Tag deiner Trauer. Er nimmt Anteil an deinen Hoff­nungen und Versuchungen. Er kümmert Sich um alle deine Befürchtungen und schmerzvollen Er­innerungen, um all das Auf und Ab deines Ge­mütes. Er hat sogar die Haare deines Hauptes und die Ellen deiner Leibeslänge gezählt. Er umgibt dich und trägt dich auf Seinen Armen; Er hebt dich auf und setzt dich nieder. Er nimmt auch auf dei­nem Antlitz wahr, ob es lacht oder weint, ob es gesund oder kränklich ist. Er schaut mit Zartgefühl auf deine Hände und Füße; Er hört deine Stimme, das Pochen deines Herzens und selbst deinen Atem. Du liebst dich selbst nicht mehr, als Er dich liebt. Dein Zurückschrecken vor Schmerz kann nicht stär­ker sein als Seine Trauer darüber, daß du ihn er­tragen mußt; und wenn Er ihn dir auferlegt, dann ist es, als müßtest du, falls du weise bist, ihn dir selbst auferlegen, um eines größeren künftigen Gutes willen. Du bist nicht nur Sein Geschöpf (und doch trägt Er sogar für die Sperlinge Sorge und hat Sich des „vielen Viehes“ (Jona 4,11) in Ninive er­barmt), du bist ein Mensch, erlöst und geheiligt, an Sohnes Statt angenommen, begnadet mit einem Anteil jener Herrlichkeit und Glückseligkeit, die von Ihm ohne Unterlaß zu Seinem Eingeborenen hinströmt. Du bist erwählt, Sein Eigentum zu sein, selbst deinesgleichen vorgezogen, die im Osten und Süden wohnen. Du bist einer von denen gewesen, für die Christus Sein letztes Gebet darbrachte, das Er mit Seinem kostbaren Blut besiegelte. Welch ein Gedanke ist das, ein Gedanke, fast zu groß für unseren Glauben! Wenn wir ihn erwägen, so kön­nen wir kaum anders als es Sara gleichtun und „lachen“ vor Staunen und Überraschung. Was ist der Mensch, was sind wir, was bin ich, daß der Sohn Gottes meiner so eingedenk ist? Was bin ich, daß Er mich von einer fast teuflischen Natur zu der eines Engels emporhob? Daß Er den ursprüng­lichen Zustand meiner Seele wandelte und mich neu machte, der ich von Jugend an ein Sünder war, und daß Er Selbst in diesem meinem Herzen wohnt und mich zu Seinem Tempel macht? Was bin ich, daß Gott der Heilige Geist in mich eingeht und meine Gedanken himmelwärts lenkt „mit unaus­sprechlichen Seufzern“ (Röm 8,26).

Dies sind die Erwägungen, die über den Christen kommen, um ihm Trost zu bringen, während er mit Christus auf dem heiligen Berg weilt. Und wenn er herabsteigt zu seinen täglichen Pflichten, sind sie immer noch seine innere Kraft, obwohl er seiner Umgebung nichts von seiner Vision sagen darf. Sie lassen sein Antlitz leuchten, machen ihn froh, ge­sammelt, heiter und fest inmitten aller Versuchung, Verfolgung oder Entbehrung. Wie niedrig und jämmerlich erscheint die Welt mit all ihren Bestre­bungen und Lehren, wenn wir solche Gedanken vor Augen haben! Wie wahrhaft erbärmlich kommt es uns dann vor, bei den Geschöpfen das Heil zu suchen; nach Stellung, Wohlstand oder Ansehen zu trachten; diese oder jene Lebensart zu erträumen; das Benehmen und das Sichgeben der Großen nach­zuäffen; die Zeit mit Torheiten zu vergeuden; un­zufrieden, streitsüchtig, eifersüchtig oder neidisch, tadelsüchtig oder empfindlich zu sein; unnützes Ge­rede zu lieben und Tagesneuigkeiten nachzujagen; sich abzugeben mit öffentlichen Angelegenheiten, wenn sie uns nichts angehen; sich für diese oder jene Belange oder Parteien zu erhitzen; auf Ge­winn aus zu sein oder sich der Mehrung unfrucht­baren Wissens zu widmen! Und wenn am Ende unserer Tage Fleisch und Herz versagen, was wird unser Trost sein, selbst wenn wir uns bereichert oder ein Amt verwaltet haben oder der erste unter unseresgleichen gewesen sind; oder einen Neben­buhler unterdrückt oder die Dinge nach unserem Belieben dirigiert oder einen glänzenden Haus­stand gegründet haben oder die Vertrauten der Großen gewesen sind oder kostspielig getafelt oder einen Namen erlangt haben! Sagt, selbst wenn wir das erreichen, was am längsten währt, einen Platz in der Geschichte, welche Asche werden wir trotz allem statt Brot gegessen haben! Und in jener ern­sten Stunde, wenn der Tod in Sicht ist, wird Er, dessen Auge jetzt so liebend auf uns ruht und des­sen Hand sich so sanft auf uns legt, wird Er uns noch kennen? Oder wenn Er noch zu uns spricht, wird Seine Stimme irgendwelche Kraft haben, uns aufzurütteln? Wird sie uns nicht eher zurückstoßen wie den Judas, gerade durch ihre Zartheit, mit der sie uns zu Ihm einladen möchte?

Bemühen wir uns also mit Hilfe Seiner Gnade, recht zu begreifen, wo wir stehen und wie Er Sich uns gegenüber verhält; wie überaus liebevoll und barmherzig Er ist und doch trotz all Seines Erbar­mens nicht um Haaresbreite die ewigen Grenzen der Wahrheit, Heiligkeit und Gerechtigkeit über­schreitet; Er, der zu ewigem Wehe verdammen kann, obwohl Er zuvor weint und klagt, und der, wenn einmal das Verdammungsurteil ausgespro­chen ist, völlig die Erinnerung an uns tilgen und „uns nicht kennen“ wird (Mt 25,12). Das Unkraut wird zum Verbrennen „in Bündel gebunden“ (Mt 13, 30) unterschiedslos, durcheinander gemischt, verächtlich. „Fürchten wir uns also davor, daß wir etwa die Verheißung, in Seine Ruhe einzugehen, vernachlässigen und daß jemand aus uns erfunden werde, der sein Ziel verfehlt hat“ (Hebr 4,1).

Newman John Henry, Pfarr- und Volkspredigten, DP III, 9, Schwabenverlag, Stuttgart 1951, 128-141.