Der Sinn des Lebens: Der Wille Gottes

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6. Vortrag

Ich möchte euch eine Frage vorlegen, meine Brüder, die auf den ersten Blick so ausgefallen und daher so uninteressant ist, daß ihr euch wundern möget, warum ich sie stelle, und mir entgegenhal­ten könnt, daß es schwer sei, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, ja, daß ihr befürchten müßt, es käme nichts Ersprießliches dabei heraus. Sie lau­tet: „Warum seid ihr in die Welt gesandt?“ Und doch ist es vielleicht ein Gedanke, der allzu selbst­verständlich ist, als daß er oft gedacht würde, und allzu einfach, um mit ihm vertraut zu sein; ich meine, er müßte sich euch eigentlich aufdrängen, aber er tut es nicht, und ihr hattet nie mehr als eine leise Berührung mit ihm, obschon ihr diese Art von Berührung schon viele Jahre hattet. Ja, das eine oder das andere Mal seid ihr diesem Ge­danken für kurze Zeit näher begegnet, nur daß es ein Zufall war, der nicht lange dauerte. Es gibt Menschen, die sich anscheinend noch daran erinnern können, als ihnen dieser Gedanke zum ersten Mal gekommen ist. Noch waren sie kleine Kinder und ganz für sich allein, da haben sie sich spontan ge­fragt, oder vielmehr hat Gott in ihnen gesprochen: „Warum bin ich hier? Wie kam ich hierher? Wer hat mich hergebracht? Was habe ich hier zu tun?“ Vielleicht war das der erste Akt ihrer Vernunft, der Anfang ihrer realen Verantwortlichkeit, der Beginn ihrer Erprobung; vielleicht datieren sie von diesem Tag an ihre Möglichkeiten, ihre furchtbare Macht zwischen Gut und Bös zu wählen und eine Todsünde zu begehen. Und so tritt dann und wann im Laufe des Lebens dieser Gedanke lebendig und für kurze Zeit lebhaft vor ihr Gewissen hin, sei es in einer Krankheit, in einer Bedrängnis, in einer Zeit der Verlassenheit oder beim Anhören einer Predigt oder beim Lesen eines frommen Buches. Es überkommt sie eine lebhafte Empfindung von der Eitelkeit und Nutzlosigkeit dieser Welt, und da entsteht die Frage: „Warum denn bin ich in die Welt gesandt worden?“

Zu einer Frage wie dieser bildet diese eitle, un­nütze und doch so überhebliche Welt einen großen Gegensatz. Eine solche Frage zu stellen, scheint an­gesichts einer so großartigen, imponierenden Wirk­lichkeit wie der des großen Babel nicht am Platz zu sein. Die Welt verheißt uns die Erfüllung all un­serer Bedürfnisse, als wären wir hierher gesandt rein um dieser Sendung willen und für nichts an­deres jenseits dieser Sendung. Es ist schon eine hohe Gunst, überhaupt Zugang zu dieser erhabe­nen Welt zu haben. In Wahrheit wird dies für uns die Enthüllung des Geheimnisses vom Sinn des Le­bens sein. Jeder geht hier seinem eigenen Willen nach, jeder sucht sein eigenes Vergnügen, erstrebt sein persönliches Ziel, und dafür ist er ins Dasein gerufen worden. Man gehe auf die Straßen der volkreichen Stadt, man besehe sich die unaufhör­liche Flut menschlicher Energie und die bunte Mannigfaltigkeit menschlicher Charaktere – und begnüge sich damit. Die Wege sind dicht besetzt, Fahrwege und Pflaster, Massen hetzen auf und ab, jeder auf seinem persönlichen Gang, oder sie lun­gern umher aus Faulheit oder Arbeitslosigkeit, oder sie haben sich nur deshalb in das öffentliche Gewimmel begeben, um zu sehen und gesehen zu werden, zur Unterhaltung, als Schaustück oder un­ter dem Vorwand des Geschäftes. Die Prunkwa­gen der Reichen erscheinen zugleich mit den lang­samen Rollwagen, die mit Lebensmitteln und Handelsware, mit Produkten des Handwerks oder Lu­xusartikeln beladen sind. Die Straßen sind um­säumt mit Kaufläden, die in offener und bunter Auslage die Käufer einladen; dann und wann wei­ten sie sich in ein geräumiges Viereck oder in einen Platz mit hohen Mauern aus Backstein oder sonsti­gem Gestein, die im Sonnenstrahl anmutig leuchten und die als Einfassung oder in der Front etwas wie das Laubwerk eines Gartens zeigen. Man folge ihnen in einer anderen Richtung und man wird den ganzen Grund mit großen Gebäuden bedeckt und allüberall dicht bepflanzt finden, den Fabrikhallen. Unten ist die Luft voll von unaufhörlichem, auf­dringlichem, eintönigem Lärm, der bis in das In­nerste unserer Zimmer dringt und in unseren Ohren surrt, auch wenn wir nicht daran denken; und oben ist sie ein Himmel voll Rauch, der den Tag Gottes abschirmt gegen den Bereich hartnäckiger, schmutziger Arbeit. Das ist das Ziel des Menschen! Oder du bist zu Hause und nimmst eines jener täg­lichen Presseerzeugnisse zur Hand, die ein so ge­treues Abbild der Welt sind. Man überblicke die Reihen der Anzeigen, und man findet dort eine ganze Liste von Bestrebungen, Vorhaben, Zielen, Ängsten, Vergnügungen und Unterhaltungen, wie sie den Geist des Menschen beschäftigen. Er tritt in vielen Rollen auf: hier hat er Güter zu verkau­fen, dort sucht er Anstellung; dort sucht er Geld zu leihen, hier bietet er Häuser feil, große Land­besitze und kleine Behausungen; er bietet Nahrung für die Millionen und Vergnügungen für die Rei­chen an, unfehlbare Medizinen für die Leicht­gläubigen und neue und alte Bücher für die Neu­gierigen. Dann gehe man über zu den Tagesneuig­keiten und man erhält Nachricht über die Leistun­gen großer Männer daheim und im Ausland; man liest von Krieg und Kriegsgerüchten, von Debatten über Gesetzgebung, von Männern, die im Kommen sind, und von alten Staatsmännern, die die Bühne wieder verlassen; vom politischen Kampf in dieser Stadt und in jener Grafschaft, von Zusammenstö­ßen rivalisierender Interessen. Man liest vom Geldmarkt und vom Viktualienmarkt und vom Metallhandel; von der Geschäftslage, vom Ruf nach Fabrikware, von der Ankunft von Schiffen im Hafen, von Unglücksfällen zur See, von Export und Import, von Gewinn und Verlust, von Betrü­gereien und deren Enthüllung. Lies weiter und dir begegnen Entdeckungen in Kunst und Wissen­schaft, (sogenannte) Entdeckungen religiöser Art, Gerichtssaal und Königshof, die Unterhaltung der Großen, Vergnügungsplätze, merkwürdige Pro­zesse, Vergehen, Unfälle, Fluchtversuche, Unter­nehmungen, Experimente, Streitigkeiten und Aben­teuer. O dieses neugierige, ruhelose, lärmende, sehnsüchtige Etwas, das wir Leben nennen! – Gibt es denn keinen Sinn in all diesem? Dient es keinem Zweck? Nie kommt es ans Ziel, denn in Wahrheit ist es sich selbst Zweck. Und nun, meine Brüder, schiebt einmal alles zur Seite, was ihr seht und was ihr lest von der Welt, und versuchet, in das Herz derer einzudringen, die der Welt ihr Gesicht geben, und an ihre Ideen und Empfindungen heranzukommen; besehet sie euch, so scharf ihr könnt, betretet ihre Häuser und Pri­vatgemächer, wandert aufs Geratewohl durch die Straßen und Gassen: nehmet alles, wie es gerade kommt, Palast und Hütte, Büro und Fabrik – und was findet ihr? Horcht auf ihre Worte und seid Zeugen auch ihrer Werke; in der Hauptsache wer­det ihr dasselbe gesetzlose Denken, dasselbe unge­zügelte Verlangen, dieselben unbeherrschten Lei­denschaften, dieselben irdischen Anschauungen, dasselbe eigenwillige Tun finden bei hoch und nieder, bei gelehrt und ungelehrt: ihr werdet fin­den, wie sie alle leben um des Lebens willen. Sie scheinen euch alle insgesamt zu sagen: „Wir sind uns selbst unser Mittelpunkt, wir sind uns Selbst­zweck.“ Weshalb rackern sie sich ab? Wofür pla­nen sie? Wofür leben sie? „Wir leben uns zulieb, das Leben ist wertlos, wenn wir nicht nach Belie­ben schalten und walten können; wir sind über­haupt nicht hierher gesandt, sondern wir befinden uns einfach hier; wir wären nur Sklaven, könnten wir nicht denken, was wir wollen, glauben, was wir wollen, lieben, was wir wollen, hassen, was wir wollen, tun, was wir wollen. Wir verabscheuen eine Einmischung Gottes oder der Menschen. Wir feil­schen nicht darum, reich oder groß zu sein, aber, ob reich oder arm, ob hoch oder nieder, wir feil­schen darum, daß wir für uns selbst leben, für das Vergnügen des Augenblicks leben dürfen; oder daß wir, je nach dem Gebot der Stunde vom Zukünfti­gen, und vom Unsichtbaren so viel oder so wenig denken dürfen als uns beliebt.“ Ist dies nicht, meine Brüder, ein schrecklicher Ge­danke – aber wer kann seine Wahrheit leugnen? Die Masse der Menschen lebt ohne jedes Ziel jen­seits der sichtbaren Bühne; mag sein, daß sie sich von Zeit zu Zeit religiöser Worte bedienen, daß sie sich wie selbstverständlich oder aus Nützlichkeits­gründen oder aus Pflichtbewußtsein zu einer Ge­meinschaft oder einer Gottesverehrung bekennen; wäre aber irgend etwas Aufrichtiges in solch einem Bekenntnis, dann müßte der Welt Lauf ein ganz anderer sein. In welchem Gegensatz steht dieses alles zu der Weise, wie unser allheiliger Glaube uns das Ziel des Lebens vor Augen hält! Wenn es einen gegeben hätte unter den Menschenkindern, der es sich hätte gestatten können, nach eigenem Gutdünken zu leben und hienieden Seinen eigenen Willen zu tun, dann war es gewiß Jener, der aus dem Schöße des Vaters zur Erde herniederkam und der in jener Menschennatur, die Er annahm, so rein und unbefleckt war, daß Er kein menschli­ches Wollen oder Ziel haben konnte, das mit dem Willen Seines Vaters nicht übereingestimmt hätte. Und doch ist Er, der Sohn Gottes, das Ewige Wort, nicht gekommen, um Seinen eigenen Willen, son­dern um den Willen Dessen zu tun, der Ihn ge­sandt hatte, eine Wahrheit, die uns – ihr wißt es wohl – in der Heiligen Schrift immer und immer wieder gesagt wird. So sagt schon der Prophet im Psalm, und er spricht dabei in Seiner Person: „Siehe, Gott, ich komme, Deinen Willen zu tun“ (Ps 39, 8. 9). Und beim Propheten Isaias sagt Er: „Der Herr, der Herr, hat mir das Ohr auf getan; ich widerstrebe nicht und weiche nicht zurück“ (Is 50,5). Und im Evangelium heißt es, nachdem Er zur Erde gekommen war: „Meine Speise ist es, daß Ich den Willen Dessen tue, der Mich gesandt hat, und daß Ich Sein Werk zur Vollendung bringe“ (Joh 4, 34). So rief Er auch in seiner To­desangst aus: „Nicht Mein Wille, sondern der Deine geschehe“ (Lk 22, 42). Ähnlich sagt der hei­lige Paulus: „Auch Christus hat nicht der Selbst­liebe gedient“ (Röm 15, 3), und anderswo: „Ob­wohl Er der Sohn Gottes war, lernte Er durch Seine Leiden den Gehorsam“ (Hebr 5,8). Ja, so war es: Da Er wirklich der ewige, wesensgleiche Sohn war, war Sein Wille eins mit dem Willen des Va­ters, und Er brauchte Seinen Willen nicht erst zu unterwerfen; aber Er beschloß, eine Menschen­natur und einen Willen aus dieser Natur anzuneh­men; Er beschloß, die dem Menschen eigenen Ge­fühle, Empfindungen und Neigungen auf Sich zu nphmen, einen Willen, der zwar unschuldig und gut, aber immerhin eines Menschen Wille war, von Gottes Willen verschieden; einen Willen, der, hätte er sich einfach nach dem Verlangen der Natur ge­richtet, von einer aktiven Zusammenarbeit mit dem Willen Gottes zurückgeschreckt wäre, wenn es galt, Schmerz und Leiden auf sich zu nehmen. Obwohl Er aber die Natur des Menschen auf Sich nahm, übernahm Er nicht die Selbstsucht, mit der sich die gefallene Natur wappnet, vielmehr brachte Er Sich Seinem Vater als williges Opfer dar. Er kam auf die Erde, nicht um Sein Wohlgefallen zu suchen, nicht um Seinem Geschmack zu frönen, nicht um le­diglich menschliche Gefühle zu betätigen, sondern einfach, um Seinen Vater zu verherrlichen und des­sen Willen zu tun. Er kam mit der Last einer Sen­dung, mit der Bestimmung für ein Werk; Er blickte weder zur Rechten noch zur Linken, Er dachte nicht an Sich, Er opferte Sich auf für Gott. So geschah es, daß eine arme Frau Ihn in ihrem Schoß getragen hat, die vor Seiner Geburt zwei Reisen zu unternehmen hatte, aus Liebe und Ge­horsam, in das Gebirge die eine und nach Bethle­hem die ändere. Er wurde in einem Stall geboren und in eine Krippe gelegt. Er wurde eilends nach Ägypten gebracht, um dort zu verbleiben; dann lebte Er bis zum dreißigsten Lebensjahr das Leben eines Armen, in einem rauhen Handwerk, in einem kleinen Haus, in einem verachteten Städtchen. Und als Er dann auszog, um zu predigen, hatte Er nichts, wohin Er Sein Haupt legen könnte; wie ein Fremd­ling auf Erden zog Er landauf, landab; Er wurde in die Wüste geführt und weilte unter den wilden Tieren. Er ertrug Hitze und Kälte, Hunger und Mü­digkeit, Vorwurf und Schmähung. Seine Nahrung bestand aus einfachem Brot und aus Fischen des Meeres, oder Er war angewiesen auf die Gast­freundschaft Fremder. Und wie Er schon einmal des Vaters Größe in der Höhe verlassen hatte und ein irdisches Heim wählte, so gab Er, wiederum auf des Vaters Geheiß, den einzigen Trost auf, der Ihm in der Welt gelassen war, und versagte Sich die Nähe Seiner Mutter. Er schied von ihr, die Ihn ge­boren hatte; Er ließ es geschehen, daß Er ihr fremd wurde; Er ließ es hingehen, sie kaltblütig „Weib“ zu nennen, sie, die Seine einzig Makellose war, über alles schön, über alles gnadenvoll, das beste Geschöpf aus Seiner Hand und die süße Nährmut­ter Seiner Kindheit. Er schob sie zur Seite, wie Levi, Sein Vorbild, sich des heiligen Dienstes teil­haft machte, indem er zu seinen Eltern und Ver­wandten sagte: „Ich kenne euch nicht“ (Dt 33,9). In eigener Person verkörperte Er  an  Sich das strenge Gesetz, das Er auch Seinen Jüngern gab: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als Mich, ist Meiner nicht wert“ (Mt 10,37), Auf all diese vielfältige Weise brachte Er jeden persönlichen Wunsch zum Opfer, um uns zu verstehen zu ge­ben, daß, wenn Er, der Schöpfer, in Seine eigene Welt kam, nicht zur persönlichen Befriedigung, sondern um den Willen Seines Vaters zu erfüllen, dann auch wir ganz gewiß ein Werk zu tun und ernsthaft nachzudenken hätten, worin dieses Werk bestehe.

Ja, so ist es; beherzigt es wirklich, meine Brüder; ein jeder, der atmet, hoch und nieder, gebildet und ungebildet, jung und alt, Mann und Frau, hat seine Sendung, hat ein Werk zu tun. Wir sind nicht in diese Welt gesandt für nichts; wir sind nicht aufs Geratewohl auf die Welt gekommen; wir sind nicht hier, um abends zu Bett zu gehen und morgens wieder aufzustehen, um uns abzumühen um unser Brot, um zu essen und zu trinken, zu la­chen und zu scherzen, um zu sündigen, wenn wir dazu Lust haben, und uns zu bessern, wenn wir des Sündigens überdrüssig sind, um eine Familie zu ernähren und dann zu sterben. Gott sieht einen jeden von uns; Er erschafft jede Seele, Er läßt sie wohnen im Leibe, eine um die andere, für einen bestimmten Zweck. Er braucht einen jeden von uns. Er würdigt Sich, uns zu gebrauchen. Er hat ein Ziel für jeden von uns; in Seinen Augen sind wir alle gleich, und wir werden auf unsere ver­schiedenen Posten und Rangstufen berufen, nicht um so viel als möglich dabei für uns herauszu­schlagen, sondern um uns dabei für Ihn abzumü­hen. Wie Christus Sein Werk hat, so haben auch wir das unsrige; wie Er Sich freute, Sein Werk zu tun, so müssen auch wir uns an unserem freuen. Einmal spricht der heilige Paulus von der Welt als von der Bühne in einem Theater. Bedenket, was damit gemeint ist: Ihr wißt, daß Schauspieler auf der Bühne in Wirklichkeit auf gleicher Stufe ste­hen; aber im Spiel bekleiden sie verschiedene Rol­len, die einen sind hoch, die andern niedrig, die einen sind fröhlich, die andern traurig. Wäre es nun nicht eine reine Absurdität, wenn ein Spieler sich etwas einbilden wollte auf seine Scheinkrone oder auf   sein   ungeschliffenes   Schwert,   anstatt   auf seine Rolle zu achten? Was, wenn er nur auf sich selbst und auf sein Kostüm schaute! Was, wenn er, was daran kostbar ist, beiseite gebracht oder zum eigenen Gebrauch verwandt hätte? Ist es nicht seine Aufgabe, seine einzige, daß er seine Rolle gut spielt? Das sagt schon der gesunde Menschen­verstand. Nun aber sind wir alle nur Schauspieler in dieser Welt; wir sind allesamt einander gleich; wir werden als Gleiche gerichtet, sobald das Leben vorbei ist – und dennoch hat ein jeder bei aller Gleichheit und Ähnlichkeit gegenwärtig seine eigene Rolle, jeder hat sein Werk, jeder hat seine Sen­dung – nicht die, seinen Leidenschaften zu frönen, Geld zu verdienen, sich in der Welt einen Namen zu machen, der Mühsal aus dem Wege zu gehen, seiner Neigung zu folgen, nicht die, eigensüchtig und eigenwillig zu sein, sondern die, den Auftrag Gottes zu erfüllen. Blicket auf jenen armen Laza­rus im Evangelium, blicket auf den reichen Prasser; meint ihr wohl, er habe verstanden, daß sein Reich­tum nicht für seinen persönlichen Genuß, sondern für die Ehre Gottes bestimmt war? Aber, da er dies vergaß, ist er auf ewig verlorengegangen. Ich will euch erzählen, was er dachte und wie er die Dinge sah: er war jung und der Erbe eines großen Gutes, und so beschloß er, es sich gut gehen zu lassen. Der Gedanke kam ihm gar nicht, daß sein Reichtum einen anderen Zweck haben könnte als den, ihm ein vergnügtes Leben zu  ermöglichen.  Lazarus lag vor seiner Tür; er hätte dem Lazarus helfen können; das war Gottes Wille; aber er verstand es, das Gewissen auszuschalten, und er redete sich ein, er wäre ein Narr, wollte er für sich nicht das Beste aus dieser Welt machen, solange er die Mittel dazu habe. So entschloß er sich, den Freudenbecher bis zur Neige zu trinken; dabei waren nach seiner Mei­nung Tafelfreuden die Hauptsache. „Er lebte alle Tage herrlich“ (Lk 16,19); alles, was ihm gehörte, verriet, wie man so sagt, den besten Stil; sein Haus, seine Möbel, sein Silber- und Goldgeschirr, seine Dienerschaft, seine Einrichtung. Alles diente dem Vergnügen wie auch dem Prunk, es sollte die Au­gen der Welt auf sich ziehen und den Applaus und die Bewunderung von seinesgleichen gewinnen, die die Genossen seiner Sünde waren. Diese Ge­nossen waren unzweifelhaft von einer Sorte, wie es einer Person mit solchen Ansprüchen ziemte; es waren Männer der feinen Welt: eine Runde von gebildeten,  wohlerzogenen,   überheblichen  Män­nern, die, ohne Schlemmer zu sein, dem Raren und Kostspieligen zusprachen; heikel, peinlich, wähle­risch in ihrem Geschmack dank ihrer genießeri­schen Haltung; sie aßen nicht rein um des Essens willen, sie tranken nicht rein um des Trinkens willen, vielmehr machten sie eine Art Wissen­schaft aus ihrer Sinnlichkeit; sinnlich, fleischlich, wie nur Fleisch und Blut es sein können, Augen, Ohren, Zunge getaucht in Unreinheit, jeder Ge­danke, Blick und Sinn ein Zeuge und Diener des bösen Geistes, der sie beherrschte; und dennoch mit ausgesuchter Korrektheit im Denken und Urteil, Normen aufrichtend für ihre Sünden; herzlos und selbstsüchtig, hochtrabend, peinlich, hochnäsig in ihrem äußeren Gehaben, vor Lazarus, der an der Türe lag, zurückschaudernd wie vor einem Dorn im Auge, den man schon aus reinem An­standsgefühl entfernen müßte. Der reiche Prasser gehörte zu dieser Klasse und so lebte er seine kurze Spanne Zeit, ohne einen anderen Gedanken und eine andere Liebe als sich selbst, bis er eines Tages in einen verhängnisvollen Streit geriet mit einem seiner gottlosen Kumpane oder das Opfer einer üblen Krankheit wurde; da lag er nun hilflos auf seinem Schmerzenslager, mit einem Fluch gegen Schicksal und Arzt, weil es ihm nicht besser ging, und verärgert darüber, daß er so am Genuß seiner Jugend verhindert war – mit dem Gedanken an Besserung spielend, wenn es ihm schlechter ging, und enttäuscht über jene, die kein Wort des Tro­stes für ihn in seiner verzweifelten Lage wußten – und sich um so entschiedener von seinem Schöpfer abwendend, je länger das Leiden währte. Zuletzt aber kam sein Tag und er starb und (o Unseliger!) er „wurde in die Hölle begraben“ (Lk 16, 22). So endete er und so endete seine Sendung. Das ist das Schicksal eures Vorbildes und Idols, ihr meine jungen Leute, sollte einer von euch hier sein, die ihr ohne im Besitz von *Reichtum und Rang zu sein, die Mode jener nachahmt, die sie besitzen. Ihr, meine Brüder, seid nicht in Glanz oder Adel auf die Welt gekommen; ihr seid nicht erzogen worden auf den Stühlen der höheren Bildung; ihr habt keine hohen Verbindungen; ihr habt nicht die Manieren der Gesellschaft erlernt noch deren Ton aufgefangen; ihr habt keinen Anteil an der Geistesweite, dem Glanz, dem romantischen Sinn für Ehre, der Korrektheit des Geschmacks, der Rück­sichtnahme auf andere und der Vornehmheit, die die Welt als den höchsten Typ von menschlicher Größe anpreist; ihr seid nicht vertraut geworden mit dem Leben am Hof und in den Herrenhäusern der Großen, aber ihr äfft die Sünde des reichen Prassers nach, ohne dessen Bildung zu besitzen. Ihr haltet es für das Kennzeichen eines Gentleman, euch über die Religion hinwegzusetzen, die From­men und die Bekenntniswilligen zu kritisieren, Ka­tholiken und Methodisten mit unparteiischer Ver­ächtlichkeit zu betrachten, über eine Anzahl von Dingen euch ein Halbwissen zu erwerben, euch in eine Anzahl von frivolen Veröffentlichungen, wenn sie nur populär sind, zu vertiefen, die neuesten Ro­mane gelesen zu haben, den Sänger und den Schau­spieler des Tages gehört und gesehen zu haben, in allem, was modern ist, auf der Höhe zu sein, die Namen und vielleicht gar die Person berühmter Männer zu kennen, in der Lage zu sein, sich vor ihnen zu verbeugen, mit hochgetragenem Kopf die Straße auf- und abzuwandern und alles, was euch begegnet, zu begaffen; – und noch Schlimmeres zu sagen und zu tun, wovon diese äußerlichen Ex­travaganzen nur ein Symbol sind. Und das ist nach eurer Vorstellung das Ziel, für das ihr auf die Erde gekommen seid! Offenbar hat der Schöpfer euch, meine lieben Söhne, für diese Aufgabe und für diesen Beruf geschaffen, eine schlechte Kopie der verfeinerten Gottlosigkeit zu sein, ein Stück flitterhafter, fadenscheiniger Aufmachung zu sein, ein Duft, der seine Frische verloren hat und den Geruchssinn nur noch verletzt. Könntet ihr doch sehen, wie absurd und gemein solche Angeberei in den Augen aller ist, nur nicht in den eurigen! Es gibt keinen Beruf im Leben, der nicht ehrenhaft wäre, keiner wirkt lächerlich, der seinem Beruf und Stand entsprechend handelt; keiner, der gesunden Verstand und Demut besitzt, gleich in welcher Le­bensstellung er sich befindet, braucht der guten Er­ziehung und Bildung zu entbehren; aber Angabe, Nachäfferei und ehrgeiziges Getue sind in jeder Lebenslage, bei hoch und nieder, ausgesprochen vulgär. Räumt damit auf, verachtet es auch selber, meine sehr teuren Söhne, die ich liebe, und denen ich einen guten Dienst tun möchte. Könntet ihr doch empfinden, daß ihr Seelen habt! Hättet ihr doch Erbarmen mit euren Seelen; würdet ihr euch doch, ehe es zu spät ist, zu Ihm begeben, der die Quelle alles dessen ist, was wahrhaft hoch, was herrlich und schön, was lichtvoll und angenehm ist, und laßt euch das, was ihr unwissend sucht, zusichern von Dem, den ihr so freiwillig, so furchtbar ver­achtet!

Er allein, der Sohn Gottes, der „Glanz des ewigen Lichtes und der makellose Spiegel Seiner Maje­stät“ (Weish 7, 26), ist die Quelle alles Guten und allen Glückes für reich und arm, für hoch und nie­der. Und wäret ihr noch so hochgestellt, ihr würdet Ihn brauchen; und wäret ihr noch so niedrig, ihr könntet Ihn beleidigen. Der Arme kann Ihn belei­digen; der Arme kann seine gottgegebene Sendung genauso vernachlässigen wie der Reiche. Glaubet ja nicht, meine Brüder, daß das gegen die oberen Klassen und den Mittelstand Gesagte nicht auch gegen euch, solltet ihr arm sein, sprechen könnte. Und wäre einer so arm wie Lazarus, er könnte so schuldig sein wie der reiche Prasser. Wäret ihr ent­schlossen, euch bis zum Tier des Feldes herabzuwürdigen, das weder Vernunft noch Gewissen hat, dann brauchtet ihr weder Reichtum noch Rang, um dies tun zu können. Unvernünftige Tiere haben keinen Reichtum; sie haben keinen Stolz, haben nicht Purpur noch feines Linnen, noch glänzende Tafeln, kein Aufgebot von Dienern, aber sie sind doch Tiere. Sie sind Tiere auf Grund des Natur­gesetzes, sie sind die ärmsten unter den Armen; kein Landstreicher und kein Verbannter, der so arm wäre wie sie; sie unterscheiden sich von ihm nicht darin, daß sie kein Besitztum haben, sondern daß sie keine Seele haben, darin, daß er eine Sendung hat, sie keine – er kann sündigen, sie nicht. Meine Brüder, es ist einleuchtend, daß einer sich betrinken kann mit einem billigen Trunk so gut wie mit einem teuren; er kann des andern Geld stehlen zur Befriedigung seiner Gier, wenn er kein eigenes hat, es dafür zu verschwenden; er kann das Gehege der natürlichen und sozialen Gesetze durchbrechen und die Heiligkeit der Familienpflichten entwei­hen, auch wenn er nicht das Kind eines Vornehmen, sondern das eines Bauern oder Handwerkers ist – ja, er tut es vielleicht häufiger als jene. Nicht dies ist die Seligkeit des Armen, daß er weniger Ver­suchungen zur Genußsucht hätte, hat er doch de­ren viele, sondern daß er direkt aus seiner Lage die Bestrafung und den Anruf zur Besserung für seine Zügellosigkeit erhält. Armut ist die Mutter vieler Schmerzen und Sorgen zu ihrer Zeit, und diese sind Boten Gottes, um die Seele zur Umkehr zu bewegen; wenn sich jedoch der Arme seinen Lei­denschaften überläßt, wenn er wenig auf Religion gibt, die Umkehr hinausschiebt, sich der Anstren­gung weigert und dann stirbt ohne Bekehrung, so hilft es ihm nichts, daß er in der Welt arm war; es spielt keine Rolle, daß er nicht so verwegen gehandelt hat wie der Reiche, es hilft ihm nichts, daß er sich auf die Gnade Gottes verließ, daß er beim Anzug des Todes nach einem Priester sandte und die heiligen Sakramente empfing; in diesem Fall wird auch der arme Lazarus in die Hölle begraben werden mit dem reichen Prasser, und so wird er seinen Trost weder in dieser noch in der anderen Welt empfangen haben. Meine Brüder! Die einfache Frage ist diese: Voll­bringt einer, gleich welche Stellung er im Leben innehatte,  innerhalb  dieser seiner  Stellung  das Werk, das Gott ihm aufgetragen hat? Ich möchte mich nun aber noch an andere wenden, Menschen ganz ungleicher Art, und hören, was diese sagen, wenn ihnen die Frage vorgelegt wird. Nun, ihre Entgegnung wird diese sein: „Du stellst uns vor keine andere Alternative“, werden sie mir sagen, „als die, entweder Sünder oder Heilige zu sein. Du hältst uns das Beispiel unseres Herrn vor Au­gen und gibst uns  eine breite Schilderung  der Schuld und des Unterganges des freiwilligen Frev­lers. Wir aber haben gar nicht die Absicht, weder in der einen noch in der anderen Richtung so weit zu gehen. Wir gehen nicht darauf aus, heilig zu werden, wir haben aber auch gar keine Absicht, Sünder zu sein. Wir haben weder vor, dem Willen Gottes zuwiderzuhandeln, noch unseren eigenen Willen aufzugeben. Es gibt doch gewiß auch einen Mittelweg, der sicher ist, einen Weg, auf dem der Wille Gottes und unser Wille zugleich befriedigt werden können. Wir gedenken, beides zu genie­ßen, diese Welt und die kommende. Wir wollen uns vor der schweren Sünde in acht nehmen; wir sind nicht verpflichtet, uns vor der läßlichen zu bewahren; der Versuch wäre ja auch zwecklos. Nur die Heiligen tun das; es ist eine Lebensaufgabe; doch damit brauchen wir uns ja nicht abzugeben. Wir sind keine Mönche, wir leben in der Welt, wir ste­hen im Geschäftsleben, wir sind Eltern, wir haben Familien, wir müssen für die Gegenwart leben. Es ist ein Trost, daß wir uns vor der schweren Sünde bewahren; das tun wir, und es genügt zu unserem Heil. Es ist schon etwas Großes, sich in der Gnade Gottes zu erhalten; was können wir denn auch mehr verlangen? Wir gehen zur rechten Zeit zu den Sakramenten; das ist unser Trost und unser Halt; müßten wir sterben, dann stürben wir in der Gnade und entgingen dem Schicksal der Gottlosen. Würden wir aber einmal versuchen weiter zu ge­hen, wo sollten wir dann haltmachen? Wie willst du uns die Grenze ziehen? Die Grenze zwischen Todsünde und läßlicher Sünde ist sehr klar; wir verstehen das; aber siehst du nicht, daß es, falls wir unser Augenmerk auf die läßlichen Sünden richteten, ebenso viele Gründe gäbe, auf die eine wie auf die andere zu achten? Würden wir begin­nen, unseren Zorn zu beherrschen, warum nicht auch unsere Eitelkeit? Warum uns nicht auch vor dem Geiz hüten? Warum nicht auch vor der Lüge auf der Hut sein? Vor Schwätzerei, Faulheit, Unmäßigkeit im Essen? Überhaupt können wir ja doch niemals ohne läßliche Sünde sein, wir müßten schon das Gnadenvorrecht der Mutter Gottes ha­ben, was jedoch beinahe Häresie wäre, wollten wir es sonst jemandem außer ihr allein zuschreiben. Du bittest uns nicht, uns zu bekehren; das verste­hen wir – wir sind bekehrt, wir haben uns schon vor langer Zeit bekehrt. Du ersuchst uns, einem unbestimmten, vagen Etwas zuzusteuern, das weniger als Vollkommenheit, aber mehr als Gehor­sam ist, und das, ohne daß ein irgendwie greif­barer Vorteil dabei erzielt wird, uns der Freuden der Welt beraubt und uns hindert, dieser Welt ge­genüber unsere Pflicht zu tun.“ Das ist eure Entgegnung; aber eure Prämissen sind besser als eure Beweisführung, meine Brüder, und eure Schlüsse sind unhaltbar. Ihr habt eine rechte Anschauung von dem Grund, warum Gott euch in die Welt gesandt hat, nämlich, damit ihr in den Himmel kommt. Es ist auch ganz richtig, daß es euer Glück wäre, wenn ihr dorthin kämet, ihr könntet euch nichts Besseres wünschen; auch das ist wahr, daß ihr niemals ohne läßliche Sünde leben könnt. Wahr ist auch, daß ihr nicht verpflichtet seid, euch das Ziel zu setzen, heilig zu werden; es ist keine Sünde, nicht nach der Vollkommenheit zu streben. Das ist wahr und sachdienlich; aber dar­aus folgt nicht, daß ihr mit euren hier vorgebrach­ten Ansichten und Auffassungen schon genügend große Anstrengungen macht, nur auch ins Fegfeuer zu kommen. Enthält eure Religion Schwierigkeiten für euch, oder ist sie euch in jeder Hinsicht leicht? Findet ihr in eurer Lebensweise lediglich euer eigenes Vergnügen, oder ist es eure Freude, euch dem Wohlgefallen Gottes zu unterwerfen? Mit einem Wort, ist eure Religion ein Werk? Denn wäre dies nicht der Fall, dann wäre sie überhaupt keine Religion. Schon hierin liegt, noch ehe ich auf euer Argument näher eingehe, ein Beweis dafür, daß es ungesund ist, denn es führt euch zu dem Schluß, daß ihr kein Werk zu tun hättet, weil ihr fürwahr weder Sünder noch Heilige seid, während doch Christus gekommen ist, ein Werk zu tun, und alle Heiligen, nein, auch alle Sünder, ein Werk zu tun haben. Oder solltet ihr einmal ein Werk gehabt haben, dann ist es zum mindesten schon längst er­ledigt, und ihr habt nichts mehr in Händen. Ihr habt euer Heil scheinbar schon vor eurer Zeit ge­wirkt und habt nun nichts mehr, das euch beschäf­tigen könnte, und werdet nun schon allzulange auf der Welt zurückbehalten. Die Werktage sind vor­bei und euer ewiger Feiertag hat bereits begonnen. Hat euch denn Gott anders als alle anderen Men­schen in die Welt gesandt, damit ihr in geistlichen Dingen träge seid? Besteht eure Sendung lediglich darin, an der Welt Vergnügen zu finden, in der ihr doch nur Pilger und Gäste seid? Seid ihr mehr als Adamskinder, die im Schweiße ihres Angesichtes ihr Brot essen müssen, bis sie zu dem Staub zurück­kehren, aus dem sie genommen sind? Wenn ihr nicht ein Werk in Händen habt, wenn ihr euch nicht abmüht, wenn ihr nicht kämpft gegen euch selbst, dann seid ihr keine Nachfolger jener, die „unter vieler Trübsal in das Reich Gottes eingegangen sind“ (Apg 14,21). Kampf ist das eigentliche Wahrzeichen des Christen. Er ist Soldat Christi; ob hoch oder nieder, er ist das und nichts anderes. Habt ihr, wie ihr zu glauben scheint, jede Tod­sünde besiegt, dann müßt ihr eure läßlichen Sün­den in Angriff nehmen; daran ist nichts zu ändern; etwas anderes gibt es nicht, wollt ihr Soldaten Jesu Christi sein. Aber, ihr einfältigen Seelen, glaubt ihr denn, ihr hättet überhaupt schon einen Triumph gefeiert? Nein! ihr könnt nicht, ohne euer Heil zu gefährden, Frieden schließen mit irgendeinem der Feinde Gottes, selbst nicht mit dem am wenigsten bösartigen. Gebt ihr euch zufrieden mit euren läß­lichen Sünden, dann seid gewiß, daß in ihrem Ge­folge und unter ihrem Schatten Todsünden lauern. Todsünden sind die Kinder läßlicher Sünden, die, wenn auch nicht an sich tödlich, so doch todbringend sind. Ihr möget des Glaubens sein, die Riesen, die euer Herz gefangen hielten, getötet zu haben, und meinen, ihr hättet nun nichts mehr zu befürchten, und könntet nun unter eurem Weinstock oder Fei­genbaum ausruhen; aber die Riesen werden wieder lebendig, sie erheben sich aus dem Staub, und ehe ihr wißt, wo ihr seid, werdet ihr gefangengenom­men und von den wilden, mächtigen und ewigen Feinden Gottes niedergemetzelt. Auf das Ende kommt es an. Es war die Freude unseres Herrn in seiner letzten erhabenen Stunde, das Werk getan zu haben, für das Er gesandt war. „Ich habe Dich auf Erden verherrlicht“, sagt Er in Seinem Gebet, „Ich habe das Werk vollbracht, das Du Mir aufgetragen hast, daß Ich es vollende. Ich habe Deinen Namen den Menschen kundgetan, die Du mir aus der Welt gegeben hast“ (Jo 17, 4. 6). So war es auch der Trost des heiligen Paulus: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf voll­endet, den Glauben bewahrt. Im übrigen ist mir hinterlegt die Krone der Gerechtigkeit, die mir der Herr, der gerechte Richter, geben wird an jenem Tage“ (2 ‚Tim 4, 7. 8). Ach, ach, wie ganz anders wird unsere Schau der Dinge sein, wenn wir ans Sterben kommen oder wenn wir aus den Träumen und Ansprüchen, mit denen wir uns hienieden selbst betrügen, in die Ewigkeit eingegangen sind! Was wird dann Babel für uns tun? Wird es unsere Seelen aus dem Fegfeuer oder aus der Hölle be­freien, wohin es sie gesandt hat? Sind wir schon geschaffen, dann, um Gott zu dienen; haben wir Seine Gaben, dann, um Ihn zu verherrlichen; haben wir ein Gewissen, dann, um ihm zu gehorchen; haben wir die Aussicht auf den Himmel, dann, damit wir ihn uns vor Augen halten; haben wir Licht, dann, um ihm zu folgen; haben wir Gnade, dann, um uns mit ihrer Hilfe zu retten. Ach, ach, um jene, die dahinsterben, ohne ihre Sendung er­füllt zu haben! Die den Ruf hatten, heilig zu werden, und in Sünde gelebt haben; die berufen waren, Christus zu verehren, und sich in diese flüchtige und ungläubige Welt gestürzt haben; die berufen waren zu kämpfen und träge geblieben sind; die berufen waren, Katholiken zu werden, aber in ihrer angeborenen Religion verblieben sind! Wehe jenen, die Gnaden und Talente hatten und sie nicht gebraucht, sie falsch gebraucht oder sie gänz­lich mißbraucht haben; die Reichtum hatten, ihn aber für sich selbst gebrauchten; die Fähigkeiten hätten, sie aber für das Böse eingesetzt oder das Wahre lächerlich gemacht oder Zweifel ausgestreut haben gegen das Heilige; die Muße hatten, sie aber in schlechter Gesellschaft vertan haben oder mit schlechten Büchern und törichten Unterhaltungen. Wehe jenen, von denen man im höchsten Fall sa­gen kann, sie seien harmlos und, natürlich gesehen, ohne Tadel gewesen, während sie niemals versucht haben, ihr Herz zu reinigen oder unter Gottes Augen zu leben!

Die Welt zieht ihren Weg dahin von Jahrhundert zu Jahrhundert, aber die heiligen Engel und seli­gen Geister rufen immerfort Ach und Weh ob des Verlustes an Berufungen, ob der Zerstörung von Hoffnungen, ob der Verachtung der Liebe Gottes und des Unterganges der Seelen! Eine Generation folgt auf die andere, und wenn immer die Heiligen von ihren goldenen Thronen auf die Erde herabblicken, dann sehen sie kaum etwas anderes als eine  Menge von  Schutzengeln  niedergeschlagen und traurig, jeder seiner Aufgabe zugewandt in Angst oder in Schrecken, in Verzweiflung und hoff­nungslosen Versuchen, den Menschen vor dem Feind zu schützen, aber ohne Erfolg, weil er sich nicht schützen lassen will. Zeiten kommen und Zei­ten gehen, und der Mensch will nicht glauben, daß es eine Wirklichkeit gibt, die noch nicht ist, oder daß die Jetztzeit nur eine Zeitlang währt und nicht die Ewigkeit ist. Auf das Ende kommt es an, die Welt vergeht; sie ist nur Schauspiel und Bühne; die hohen Paläste stürzen ein, die geschäftige Stadt verstummt, die Schiffe von Tharsis haben sich davongemacht. Der Tod kommt über Herz und Fleisch; der Schleier löst sich auf. Scheidende Seele, wie hast du deine Talente benützt, deine Gelegenheiten, das Licht, das über dich ausgegos­sen war, die Warnungen, die dir gegeben waren, die Gnade, die dir eingegossen war! Mein Herr und Gott, komm mir zu Hilfe in jener Stunde mit dem starken Arm Deines Sakramentes und mit dem erfrischenden Duft Deiner Tröstungen. Laß die Worte der Lossprechung über mich gesprochen werden, das heilige öl bezeichne und besiegle mich, Dein eigener Leib sei mir Speise und Dein Blut besprenge mich. Der Hauch meiner süßen Mutter Maria sei über mir, und mein Engel möge mir Frieden zusprechen; meine glorreichen Heili­gen und mein eigener heiliger Vater Philipp mö­gen mir zulächeln; damit ich in ihnen allen und durch sie alle die Gnade der Beharrlichkeit erlange und sterbe, wie ich verlange zu leben, in Deinem Glauben, in Deiner Kirche, in Deinem Dienste und in Deiner heiligen Liebe.

Seliger John Henry Newman, Predigten vor Katholiken und Andersgläubigen (Discourses to Mixed Congregations), Schwabenverlag, Stuttgart 1964, 121-142.