Das Übel der Sünde

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1. Mein Gott, ich weiß, dass du das ganze Weltall sehr gut erschaffen hast, die sinnliche Welt, die wir vor Augen haben, und noch mehr die Welt vernünf­tiger Wesen. Die unzählbaren Sterne, die das Fir­mament erfüllen, und die Elemente, aus welchen die Erde geformt ist: Alle bilden in ihrem Lauf und in ihren Bewegungen eine vollkommene Harmonie. Viel höherer Art aber war die Harmonie, die nach der Erschaffung der Engel im Himmel herrschte. Vom ersten Augenblick ihres Daseins an bildeten die verschiedenen Ordnungen der Engel eine voll­kommene Harmonie und waren herrlich anzuschau­en. Und die Erschaffung der Menschen sollte ur­sprünglich diese Harmonie in einer anderen Art von Wesen fortführen. Da zeigte sich plötzlich ein Riss, ein Schaden in dem feinen und kostbaren Gewebe – er wurde grö­ßer, immer größer bis ein Drittel desselben zerstört war. …Gleiches Verderben kam über die Menschen und breitete sich über das ganze Geschlecht aus. Dieses furchtbare Übel, das einen großen Teil von Gottes Werken zerstörte, ist die Sünde.

2. Mein Gott, das ist die Sünde in deinen Augen. Was aber ist die Sünde in den Augen der Welt? Ein ganz kleines, unbedeutendes Übel oder überhaupt keines. Nach dem Urteil des Schöpfers ist es die Sünde, die sein geistiges Werk zerstört hat; sie ist ein größeres Unheil, als wenn die Sterne ihre Bahn verließen, regellos durch die Himmel irrten und das Chaos zurückkehrte. Der schuldige Mensch aber gibt ihr milde Namen. Er leugnet sie ab. Die Welt lacht über sie und duldet sie. Gegen die ewige Stra­fe, die ihr angedroht ist, lehnt sie sich unwillig auf und eher leugnet sie Gott, der es gesagt hat, als dass sie die Hölle zugäbe. Die Welt betrachtet die Sünde als eine Art Unvollkommenheit, wie eine Unschicklichkeit, Mangel an Geschmack oder Ge­brechlichkeit.

O Meine Seele, erwäge sorgsam den großen Un­terschied zwischen den Ansichten des allmächtigen Gottes über die Sünde und denjenigen der Welt! Welche von den beiden Anschauungen willst du glauben?

3. Ja, meine Seele, wem willst du glauben – dem Worte Gottes oder dem der Menschen? Hat Gott recht oder das Geschöpf? Ist die Sünde das größte Übel oder das kleinste? Mein Gott und Heiland, ich habe keine Bedenken, wem ich glauben soll. Du bist die Wahrheit und „jeder Mensch ist ein Lügner“ (Ps 116,11). Dir will ich glauben vor aller Welt.

Aus: John Henry Newman,  Betrachtungen und Gebete, pp. 68-69