Bekenntnis ohne Heuchelei

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11. Predigt vom 23. Oktober 1831

„Ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen“ (Gal3,27).

Wie der Herr uns feierlich gebietet, müssen wir uns sicher sehr in acht nehmen vor dem Sauerteig der Pharisäer, der Heuchelei ist. Wir können von ihm angesteckt sein, selbst wenn wir uns sogar dabei unserer Unehrlichkeit nicht bewußt sind; denn jene wußten nicht, daß sie Heuchler waren. Noch brauchen wir ein bestimmtes schlechtes Ziel klar vor Augen zu haben, denn sie hatten keines, – nur das unbewußte Verlangen, von der Welt gesehen und geehrt zu werden, das auch uns beeinflussen kann. Es scheint daher, daß es eine große Menge pharisäischer Heuchler unter getauften Christen gibt, d. h. Menschen, die den Glauben bekennen, ohne ihn zu üben. Ja, in diesem Sinn kann jeder von uns ein Heuchler genannt werden; denn kein Christ auf Erden lebt völlig nach seinem Bekenntnis.

Hier könnte aber einer den Einwand machen, ob ich nicht mit der Behauptung, Heuchelei sei ein Bekennen ohne entsprechendes Handeln, in Wirk­lichkeit alles Äußere an der Religion von Grund auf verwerfe, da alle Glaubensbekenntnisse, Gebete und Vorschriften, über den tatsächlichen Glauben und die geistige Verfassung sogar der besten Christen hinausgehen. Das ist auch der Standpunkt, den manche Menschen wirklich ein­nehmen. Sie sagen, es sei falsch, Menschen zu taufen und Christen zu nennen, die sich doch nicht in der Tat als solche bewährt hätten. „Alle, die auf Christus getauft werden, ziehen Christus an“; so sagt der Schrifttext, und diese Menschen be­rufen sich auf ihn und sagen, daß es keinen Wert hat, auf Christi Namen getauft zu werden, so lange wir nicht tatsächlich Christus angezogen, d. h. unser Herz dem Dienst Christi geweiht haben und nach unserer Möglichkeit heilig werden, wie Er heilig ist; es sei vielmehr ein großes Übel, denn es bedeutet so viel wie ein Heuchler zu wer­den. Ja, wirklich demütige, wohlmeinende Men­schen fühlen das an sich selbst. Sie schrecken vor der Beibehaltung der erhabenen Titel und Vor­rechte, die Christus ihnen in ihrer Kindheit gab, als ihrer unwürdig zurück. Sie fürchten, sie möch­ten wirklich Heuchler sein wie die Pharisäer trotz ihrer besseren Gedanken und Bemühungen. Die einfache Antwort auf diese mißverstandene Auffassung von Religion ist folgende: nach der Ansicht solcher Denker sollte überhaupt niemand getauft und Christ genannt werden; denn keiner erfüllt in seinem Handeln ganz sein Taufbekennt­nis; keiner glaubt an den Vater und an den Sohn und an den Heiligen Geist, zu Deren Diener er in der Taufe gemacht worden ist; keiner betet Sie an und gehorcht Ihnen in gebührender Weise. Und doch sagte der Herr in der Tat, „gehet hin und taufet alle Völker“ (Mt 28, 19). Damit zeigte Er uns deutlich, daß ein Mensch ein geeigneter Empfänger der Taufe sein kann, obwohl er nicht sein ganzes Bekenntnis in die Tat umsetzt, und des­halb dürfen irgendwelche Befürchtungen unserer­seits, die Menschen möchten im gewissen Sinn wie die Pharisäer sein, uns nicht davon abhalten, sie zu Christen zu machen.

Ich werde aber den Gegenstand ausführlicher be­handeln, damit wir verstehen können, welche Art von Ungehorsam wirklich Heuchelei ist und welche nicht, damit nicht ängstliche Gemüter abgeschreckt werden. Nirgends zeigen die Menschen so sehr ein gefühl- und tatloses Bekenntnis wie in ihren Ge­beten oder sind darin Heuchler. Das ist klar. Das Gebet ist nun die am unmittelbarsten religiöse aller unserer Pflichten. Hier tritt es am klarsten zutage, wenn wir unserer Pflicht nicht nachge­kommen sind. Daher will ich über das Gebet aus­führlicher sprechen, um zu erklären, was ich nicht unter Heuchelei verstehe. Wir benützen hier die erhabensten Worte, sei es, ohne auf unsere Worte zu merken, sei es (sogar wenn wir aufmerksam sind) ohne gebührend in ihre Bedeutung einzu­dringen. So scheinen wir den Pharisäern zu glei­chen. Folglich erhebt sich die Frage, ob wir in diesem Fall weiterhin Gebete, die offensichtlich uns nicht entsprechen, immer wieder gebrauchen sollten. Die Menschen, von denen ich eben sprach, versichern, daß wir sie aufgeben sollten. Dem­entsprechend geben solche in ihrem eigenen Fall zuerst die Gebete der Kirche auf und halten sich an andere, die ihnen vermeintlich besser anstehen. Wenn dann auch diese sie enttäuschen, nehmen sie ihre Zuflucht zu dem sog. freien Gebet. Später sind sie vielleicht auch damit unzufrieden, auf diese Weise den allmächtigen Gott anzusprechen, und da sie unfähig sind, ihre Gedanken verweilen zu lassen wie früher, kommen sie zu dem Ent­schluß, daß sie überhaupt nicht beten sollten, außer sie würden besonders durch den Einfluß des Hei­ligen Geistes zum Gebet angeregt.

Als Antwort nun auf eine solche Denk- und Hand­lungsweise möchte ich behaupten, daß keiner in seinen Gebeten als Pharisäer und Heuchler angesehen werden soll, der versucht, keiner zu sein, – der bestrebt ist, sich selbst zu erkennen und zu bessern, und so daran gewöhnt ist zu beten, wenn auch nicht vollkommen, so doch nicht in einer trägen und selbstzufriedenen Art. Immerhin können die tatsächlichen Zerstreuungen bedauerlich oder das Eindringen in den Sinn der Gebete armselig sein, sogar wenn die Aufmerksamkeit da ist.
1. Zuerst kommen wir zu der Frage nach dem Mangel der Aufmerksamkeit beim Gebet. Die Menschen sind scheinbar in der Versuchung, die Gebete aufzugeben, weil sie ihnen nicht folgen können, weil sie finden, daß ihre Gedanken umherschweifen, wenn sie die Gebete wiederholen. Meine Antwort lautet, daß Aufmerksamkeit beim Gebet eine Gewohnheit ist. Daran muß man immer festhalten. Am Anfang hat keiner sein Herz ganz dabei. Jedoch durch die Übung wird er befähigt, mehr und mehr aufmerksam zu sein und endlich seine Gedanken nach vielen Versuchen und einer langen Selbstschulung ungestört auf sie zu heften. Ich wiederhole es, keiner beginnt damit, aufmerksam zu sein. Das Neuartige der Gebete ist der Grund dafür, am Anfang aufmerksam zu sein. Das Neuartige aber kommt bei den Gebeten der Kirche gar nicht in Frage, denn wir haben sie von Jugend auf gehört und wir kannten sie auswendig, lange bevor wir sie verstehen konnten. Wenn einer dagegen zum erstenmal seine Gedanken der Religion zuwendet, findet er es nicht leicht zu beten. Er ist unregelmäßig in seinen religiösen Gefühlen, er betet in gewissen Zeiten mit mehr Ernst als in anderen. Seine frommen Gezeiten kommen sprungweise. Er kann sich von seiner geistigen Verfassung keine Rechenschaft geben noch auf sie zählen. Häufig entdeckt er, daß er zu irgend anderen Zeiten und an anderen Orten mehr zum Gebet aufgelegt ist, als dann und dort, wo es zweckmäßig bestimmt ist. Auf all das muß man sich gefaßt machen; denn keine Gewohnheit bildet sich plötzlich. Bevor die Flamme der Religion im Herzen durch lange Übung und Erfahrung gereinigt und gekräftigt wird, ist sie in ihren Bewegungen unberechenbar, sie flackert sozusagen hin und her, flimmert und scheint manchmal ganz zu erlöschen.

Ungeduldige Menschen indessen beachten das zu wenig. Sie übersehen es oder fühlen sich gekränkt durch die Notwendigkeit einer demütigen und verdrießlichen Übung, die sie befähigen soll, aufmerksam zu beten, und sie erklären ihre Kälte und ihre Zerstreuungen auf alle mögliche Weise, nur nicht auf die richtige. Bisweilen schreiben sie diese Schwankung in ihren religiösen Gefühlen dem unberechenbaren Kommen und Gehen von Gottes Heiligem Geist zu. Das ist aber eine ganz ehrfurchtslose und anmaßende Folgerung, die ich nicht erwähnen würde, wenn Menschen sie nicht tatsächlich äußerten. Deshalb muß man sie nennen, um sie zu verwerfen. Ferner wecken sie nach ihrer Meinung manchmal in sich ganz plötzlich die Aufmerksamkeit, wenn sie sich die heiligsten Lehren des Evangeliums vor Augen halten und so ihre Seele aufrütteln und in Spannung halten. Das geht für eine Weile; aber wenn der Eindruck des Neuen vorüber ist, dann fallen sie in ihre frühere Unaufmerksamkeit zurück, ohne anscheinend einen Fortschritt gemacht zu haben. Andere dagegen schieben in ihrer Unzufriedenheit ob der Zerstreuungen während des Gebetes die Schuld den Gebeten selbst zu, da sie zu lang seien. Dies ist eine alltägliche Entschuldigung, und ich möchte euch darauf aufmerksam machen. Wenn einer die Länge der Kirchengebete als Grund für seine Zerstreuungen angibt, so würde ich ihn bitten, sein Gewissen zu fragen, ob er aufrichtig glaube, daß dies in Wirklichkeit der tiefste Grund seiner Unaufmerksamkeit ist? Glaubt er, er sei aufmerksamer, wenn die Gebete kürzer wären? Das ist die Frage, die er überlegen muß. Gibt er zur Antwort, er würde in diesem Falle genauer aufmerken, dann stelle ich weiter die Frage, ob er dann genauer aufmerkt beim ersten Teil des Gottesdienstes oder beim letzten; ob er seine Gedanken in der Gewalt hat, so daß er regelmäßig sie auf das richtet, womit er sich beschäftigt, und zwar die ganze Zeit hindurch in jedem Teil des Gottesdienstes? Wenn er nun bekennen muß, dies sei nicht der Fall, er sei mit seinen Gedanken in allen Teilen des Gottesdienstes auf Wanderschaft und sogar während des Sündenbekenntnisses oder des Herrengebetes, welche an erster Stelle stehen, habe er seine Gedanken nicht in der Gewalt, dann ist es ganz klar, daß die Länge des Gottesdienstes nicht der wirkliche Grund seiner Unaufmerksamkeit ist, sondern seine unzureichende Gewohnheit aufzumerken. Wenn er hingegen antwortet, daß er eine Zeitlang seine Gedanken gesammelt halten kann, und zwar während des ersten Teiles des Gottesdienstes, hege ich den Wunsch, er solle bedenken, daß er sogar diese Stufe von Aufmerksamkeit nicht immer besaß und sie das Werk der Zeit und der Übung gewesen ist. Wenn er aber durch Übung so weit gekommen ist, kann er durch Übung weiter kommen und lernen, noch längere Zeit aufmerksam zu sein, bis er endlich fähig ist, während des ganzen Gottesdienstes aufmerksam zu bleiben.

Ich möchte indessen hauptsächlich zu denen sprechen, die mit sich selbst unzufrieden sind und die Hoffnung aufgegeben haben, richtig aufmerken zu können. Es soll einer einmal den Mut fassen, das Beten zu lernen, und sich bemühen, es zu lernen, dann sind keine Mängel, selbst nicht die, welche ihm auch weiterhin in der Art seines Betens unterlaufen, imstande, ihm Gottes Gnade zu entziehen. Er soll nur dabei verharren, nicht entmutigt ob seiner Zerstreuungen, nicht der Vorstellung zum Opfer fallend, er sei ein Heuchler, nicht zurückschreckend vor den ehrenvollen Titeln, die Gott ihm überträgt. Ohne Zweifel sollte er sich in seiner eigenen Schwäche, Trägheit und Nachlässigkeit demütig bescheiden. Er sollte (ach, er kann es nie genug) die Schuld fühlen, die er sich immer durch seine ehrfurchtslose Unaufmerksamkeit in den Gebeten zuzieht. Er darf jedoch nicht vom Beten ablassen, sondern muß fortgesetzt seinen Blick auf Christus, seinen Erlöser, heften. Er soll sich nur aufrichtig bemühen, seine Gedanken zu beherrschen und ernst zu sein, dann wird die ganze Schuld seines gelegentlichen Versagens in seines Herren Blut abgewaschen werden. Nur soll er nicht mit sich selbst zufrieden sein; er soll sich ja keine Vernachlässigung zuschulden kommen lassen in seinem Versuch zu gehorchen. Welch einfache Regel ist es, sich um Aufmerksamkeit zu mühen, um tatsächlich aufmerksam zu sein! Und doch wird sie fortwährend übersehen. Wir machen nämlich den Versuch nicht systematisch, wir legen zu wenig Nachdruck darauf, den Versuch trotz des schlechten Erfolges immer von neuem zu wiederholen. Wir machen nur dann und wann einen Versuch und sind am andächtigsten, wenn unsere Herzen angeregt sind durch irgend einen Zufall, der kommt oder auch nicht kommt.

So viel über die Zerstreuung bei unseren Gebeten, die uns, nach meiner Meinung, nicht überraschen oder erschrecken sollte, und die uns nicht als Heuchler ausweist, solange wir nicht darin verharren. Sie nötigt uns nicht, das Gebet aufzugeben, sondern vielmehr zu lernen, dabei aufmerksam zu sein.

2. Ich fahre fort, an zweiter Stelle über die Schwierigkeit zu sprechen, in die Bedeutung der Gebete einzudringen, wenn wir ihnen wirklich unsere Aufmerksamkeit schenken.

Ein zartes Gewissen wird hier fragen, „wie muß ich es anfangen, daß ich die feierlichen Worte, die uns in den Gebeten begegnen, richtig gebrauchen kann?“ Ein zartes Gewissen allein spricht so. Jene zuversichtlichen Gegner, von denen ich eben sprach, und die behaupten, daß die Gebetsformeln notgedrungen in den meisten Fällen ein bloßer äußerer Dienst seien, ein Dienst, bei dem das Herz nicht Anteil nimmt, verhalten sich hier still. Sie empfinden nicht diese, die eigentliche Schwierigkeit. Sie bedienen sich leichten Sinnes und ohne Gewissensbisse der gewichtigsten und erhabensten Worte, wie wenn sie tatsächlich eindrängen in den Sinn dessen, was in Wahrheit den Verstand der Engel übersteigt. Der demütige und reuige Gläubige aber, der zu Christus kommt, um Ihn um Verzeihung und Hilfe anzugehen, wird seiner großen Verlegenheit gewahr, wenn er den Gott des Himmels ansprechen soll. Diese seelische Verwirrung war es, welche Sünder, die von ihrer Schuld überzeugt waren, in früheren Zeiten dazu führte, ihre Zuflucht bei Wesen zu suchen, die unter Gott sind; nicht weil sie Gottes Oberhoheit leugneten oder Ihm auswichen, sondern weil sie den weiten Abstand zwischen sich und Ihm sahen und einen Ruheplatz am Weg suchten, ein Zoar, eine kleine Stadt, nahe genug, um dorthin zu flüchten, wegen der Höhe des Gottesberges, auf den der Weg der Rettung führte. Wenn sie dann mehr und mehr jene verehrten, auf die sie vertrauten, nämlich die Heiligen, die Engel oder lebende gute Menschen, und sie nachahmten, kam ihr Glaube zu Fall und ihre Tugend schleifte am Boden aus Mangel an einem stützenden Arm, der sie zum Himmel emporhob. Obwohl wir Christen Sünder sind wie andere Menschen, dürfen wir nicht auf diese Weise unsere Natur erniedrigen oder uns um Gottes Barmherzigkeit betrügen. Und obgleich es etwas ganz Schreckliches ist, zum lebendigen Gott zu sprechen, so müssen wir doch entweder sprechen oder sterben. Wir müssen unser Elend vorbringen oder es gibt keine Hoffnung; denn geschaffene Vermittler und Beschützer sind uns untersagt, und das Vertrauen auf einen fleischlichen Arm wird zu einer Sünde.

Man bedenke, zu wem soll ein Mensch gehen, welcher aus Zartheit des Gewissens vor der Kirche (entweder vor ihrem Gottesdienst oder vor ihren Sakramenten) zurückschreckt als zu hoch für ihn, oder weil es schrecklich ist, sich Christus zu nahen, zu Ihm zu sprechen, „Sein Fleisch zu essen und Sein Blut zu trinken“ (Jo 6, 57), und in Ihm zu leben. Siehe, was das heißt, Christus ist der einzige für die Sünder offene Weg der Erlösung. Wir sind wahrhaftig Kinder und können nicht gehörig die Worte erfühlen, welche die Kirche uns lehrt, obwohl wir sie ihr nachsprechen, noch die schuldige Ehrfurcht empfinden in Gottes Gegenwart! Laßt uns aber nur unsere eigene Unwissenheit und Schwachheit kennen und wir gehen sicher. Gott nimmt wohlgefällig jene an, die so im Glauben kommen und nichts mitbringen als Opfergabe außer einem Sündenbekenntnis. Das ist die höchste Auszeichnung, zu der wir gewöhnlich gelangen, unsere eigene Heuchelei, Unaufrichtigkeit und geistige Flachheit zu verstehen, – einzugestehen, während wir beten, daß wir nicht richtig beten können, – Reue zu empfinden über unsere Reueakte, – uns ganz dem Urteil Dessen zu unterwerfen, der zwar streng mit uns sein könnte, aber bereits Seine Herzensgüte dadurch gezeigt hat, daß Er uns beten heißt. Während wir uns so benehmen, müssen wir zur Überzeugung kommen, daß Gott all dies weiß, bevor wir es aussprechen, und weit besser als wir. Er braucht nicht erst über unsere große Unwürdigkeit unterrichtet zu werden. Wir müssen im Geist und in der Haltung äußerster Demut beten, aber wir brauchen nicht nach entsprechenden Worten zu suchen, um diese auszudrücken, denn in Wirklichkeit sind keine Worte schlecht genug für unseren Zustand. Manche Menschen sind unzufrieden über das Sündenbekenntnis, das wir in der Kirche ablegen, weil es nicht kraftvoll genug sei, aber keines kann kraftvoll genug sein; wir wollen uns bescheiden mit nüchternen Worten, die immer im Gebrauch gewesen sind. Es wird schon etwas Großes bedeuten, wenn wir in diese eindringen. Es ist nicht nötig, nach leidenschaftlich bewegten Worten zu suchen, um unserer Reue Ausdruck zu geben, wenn wir nicht einmal in die gewöhnlichsten Ausdrücke richtig eindringen.

Wenn wir daher beten, wollen wir nicht den Heuchlern gleichen, indem wir uns zur Schau stellen, noch uns eitler Wiederholungen bedienen wie die Heiden. Wir wollen uns sammeln und ruhig niederknien, wie zu einem Werk, das weit hinausragt über uns, das Herz auf unsere eigene Unvollkommenheit im Gebet gefaßt machen, demütig die wunderbaren Worte der Kirche, unserer Lehrmeisterin wiederholen und mit den Engeln verlangen, in sie hineinzuschauen. Wenn wir Gott unseren allmächtigen Vater nennen, oder uns selbst als armselige Schuldner bekennen und Ihn um Schonung bitten, so wollen wir bedenken, daß, obwohl wir uns einer fremden Sprache bedienen, doch Christus für uns in den gleichen Worten mit dem vollen Verständnis derselben und mit wirksamer Kraft betet. Obgleich wir nicht wissen, was wir beten sollen, noch wie wir es sollen, so legt doch der Geist selbst mit unaussprechlichen Seufzern Fürsprache für uns ein. Wenn wir so das Bewußtsein von Gottes Gegenwart um uns und in uns haben und daher uns ruhig und gesammelt halten, dann werden wir Ihm wohlgefällig dienen, mit Ehrfurcht und frommer Scheu. Wir werden in unsere Alltagsarbeit die Gewißheit mitnehmen, daß Er trotz unserer Sünden uns noch wohlgesinnt ist, nicht unseren Untergang will, sondern unsere Vollkommenheit wünscht und bereit ist, Tag für Tag uns nach dem Muster jenes göttlichen Bildes zu gestalten, das in der Taufe uns von außen aufgedrückt worden ist.

Ich habe nur von unseren Gebeten gesprochen und allein auf unser allgemeines Bekenntnis des Christentums Bezug genommen. Es ist indessen klar, daß diese Ausführungen über das Gebet insgesamt anwendbar sind auf alle unsere Taten und Worte als Christen. Wir geben wirklich vor, Heilige zu sein, von den höchsten Grundsätzen geleitet und vom Geist Gottes gelenkt zu werden. Längst schon haben wir versprochen, zu glauben und zu gehorchen. Es ist ebenso wahr, daß wir diese Dinge nicht richtig ausführen können; ja, sogar mit Gottes Hilfe (so groß ist unsere sündhafte Schwäche) bleiben wir hinter unserer Pflicht zurück. Trotzdem dürfen wir mit unserem Bekenntnis nicht aufhören. Wir dürfen das hochzeitliche Gewand, das Christus uns in der Taufe gab, nicht ablegen. Wir dürfen uns immer noch an ihm erfreuen, ohne Heuchler zu sein, sofern wir uns nämlich Tag für Tag bemühen, dieses hochzeitliche Gewand zu dem unsrigen zu machen, es eng zu schnüren und es so unserem Ich anzulegen, daß der Tod, der uns aller Dinge beraubt, es nicht von uns reißen kann, obwohl es doch zum guten Teil nur ein äußeres Kleid ist, das unsere eigene Nacktheit bedeckt.

Zum Schluß möchte ich euch daran erinnern, wie groß Gottes Barmherzigkeit ist, weil sie uns auf diese Weise gestattet, uns von Anfang an in die Herrlichkeit Christi zu kleiden, sogar bevor wir ihrer würdig sind. Ich nehme an, daß es für den wahren Christen nichts so Quälendes gibt, wie sich vor anderen als solchen bewähren zu müssen, teils weil er sich seiner eigenen zahllosen Vergehen bewußt ist, teils wegen seines Mißfallens an jeglichem Gepränge. Christus indessen ist den Schwierigkeiten dieser seiner Bescheidenheit zuvorgekommen. Er läßt einen solchen nicht für sich selbst sprechen: Er spricht für ihn. Er führt jeden von uns bei Seinen Brüdern ein, nicht wie wir in uns selbst sind, wegen „der Versuchungen, die in unserem Fleisch sind“, wert verachtet und verstoßen zu werden, sondern „als Boten Gottes, sogar als Christus Jesus“ (Gal 4,13. 14). Es ist unser Glück, daß wir zum Beweis unserer Gemeinschaft mit den Christen nichts vorzubringen haben als unsere Taufe. Das ist es, was sehr viele Menschen nicht verstehen. Sie glauben, daß nur die als Mitchristen angesehen werden müssen, die sich als solche ihrem fehlbaren Unterscheidungsvermögen gegenüber ausweisen. Daher ermutigen sie andere, die nach ihrem Lob verlangen, alle Arten von Schaustellung zu üben als ein Siegel ihrer Wiedergeburt. Wer kann den Schaden ausdrücken, den dieses Vorgehen der echten Bescheidenheit des christlichen Geistes zufügt? Anstatt die Worte der Kirche zu gebrauchen und zu Gott zu sprechen, wird man zum Gebrauch der eigenen Worte verleitet und macht einen Menschen sich zum gerechten Richter und Verteidiger3. Sie halten es für notwendig, ihre geheimsten Gefühle auszuplaudern und sich darüber zu ergehen, was Gott im besonderen an ihrer eigenen Seele getan hat. Da sie sich so wirklich für alle ihre Worte, die völlig ihre eigenen sind, verantwortlich machen, werden sie in diesem Fall zu wahren Heuchlern. Sie sagen mehr als sie in Wirklichkeit fühlen können. Natürlich wird ein religiöser Mensch ungekünstelt und unbewußt gerade aus der Fülle seines Herzens den nächsten Freunden sein tiefes Gemüt und seine Gewissenhaftigkeit zeigen. Wenn man aber daraus eine Notwendigkeit macht, ein Ziel, das man anstrebt, und eine Handlung, die man beabsichtigt, dann tritt der Fall ein, daß Heuchelei mehr oder weniger unseren Glauben besudeln muß. „Ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen“; das ist die Entscheidung des Apostels. „Da gibt es weder Juden noch Griechen, weder Sklaven noch Freie, weder Mann noch Frau: denn ihr seid alle einer in Christus Jesus“ (Gal 3, 28). Die Kirche folgt dieser Regel und, während sie uns Schweigen gebietet, spricht sie für uns. Sie kleidet uns von Kopf zu Fuß in das Gewand der Gerechtigkeit und mahnt uns, hinfort Gott zu leben. Der Anwalt dieser Welt aber kehrt diesen Vorgang um. Er streift alle unsere Vorrechte ab, heißt uns auf unsere Abhängigkeit von der Mutter der Heiligen verzichten, schwatzt uns vor, jeder von uns müsse sich selbst Kirche sein und müsse der Welt zeigen, daß er durch sich und in sich der Auserwählte Gottes sei, um so seinen Anspruch auf die Vorrechte eines Christen zu beweisen.

Es sei ferne von uns, so gegen Gottes gütige Absicht, die Er mit den Menschen hegt, zu kämpfen und den schwachen Bruder, für den Christus starb, zugrunde gehen zu lassen! Erkennen wir alle als Christen an, die nicht durch ein offenes Wort oder ein offene Tat ihrer Gemeinschaft mit uns entsagt haben, und versuchen wir, sie in alle Wahrheit einzuführen. Was uns angeht, so wollen wir uns bemühen, in immer größerer Fülle in die Bedeutung unserer Gebete und Bekenntnisse einzudringen. Wir wollen demütig sein wegen des sehr wenigen, das wir tun, und wegen des ärmlichen Fortschrittes, den wir machen. Wir wollen eine unnötige Schaustellung unserer Religion vermeiden und unsere Pflicht tun in der Lebensstellung, zu der uns Gott berufen hat. Wenn wir so vorgehen, formen wir mit Gottes Gnade in uns den herrlichen Geist Christi. Ob reich oder arm, gelehrt oder ungelehrt, wir werden, indem wir nach dieser Regel wandeln, schließlich wahre Heilige, Kinder Gottes. Dann sind wir aufrichtig und vollkommen, ein Licht in der Welt, das Abbild Dessen, der starb, damit wir Seinem Bild gleich gestaltet werden möchten.

John Henry Newman, Deutsche Predigten (vol 1, 11), Schwabenverlag Stuttgart 1948, pp. 156-170.