Zeiten für das Privatgebet

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19. Predigt: 20. Dezember 1829

„Du aber, wenn du betest, gehe in deine Kammer, und wenn du deine Tür geschlossen hast, bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird es dir offen vergelten“ (Mt 6,6).

Unser Heiland gewährte an dieser Stelle dem Privatgebet Seine Gutheißung und Seinen Segen in einfachen, klaren und überaus huldvollen Wor­ten. Die Pharisäer hatten die Gewohnheit, wenn sie still für sich beteten, in der Öffentlichkeit an den Straßenecken zu beten; für unsere Begriffe ein seltsamer Widerspruch, da in unserer Sprache das Gebet im stillen für sich auch Privatgebet genannt wird, öffentliches Privatgebet, das war ihre sich selbst widersprechende Übung. Während Er damals Seine Jünger vor der besonderen Form der Heuchelei warnte, in welcher der Eigendünkel der menschlichen Natur in jenen Tagen sich her­vortat, verheißt unser Herr in dem Vorspruch den Segen Seines Vaters jenen demütigen Bitten, die wirklich an Ihn gerichtet sind und ohne die Ab­sicht vorgebracht werden, das Lob der Menschen zu gewinnen. Er scheint zu sagen, solche, die den unsichtbaren Gott suchen, suchen Ihn in ihrem Herzen und in der Verborgenheit ihrer Gedanken, nicht in lauten Worten, als ob Er weit von ihnen weg wäre. Menschen dieser Art werden sich von der Welt an Orte zurückziehen, wo kein mensch­liches Auge sie sieht, um dort demütig und im Glauben Dem zu begegnen, „der auf ihrem Pfad und bei ihrem Lager ist und der alle ihre Wege durchforscht“ (Ps 138, 3); und Er, der die Herzen durchforscht, wird sie offen belohnen. In der Ver­borgenheit gesprochene Gebete werden nach Got­tes Willen in Seinem Lebensbuch gutgeschrieben. Es scheint, sie haben vielleicht hienieden eine Ant­wort gesucht, aber nicht gefunden. Die Erinnerung an sie verliert sich sogar aus den Gedanken der Bittsteller, und die Welt kannte sie nie. Gott aber ist immer ihrer eingedenk, und am Jüngsten Tag, wenn die Bücher aufgeschlagen sind, werden sie enthüllt und angesichts der ganzen Welt belohnt. Dies ist Christi huldvolle Verheißung im Vor­spruch, in der Er in Seiner Herablassung jene frommen Übungen anerkennt und segnet, die eine Pflicht waren, noch bevor die Schrift sie auferlegte. In dieser wandelte Er jenes Werk des Glaubens in ein Vorrecht um, welches, obwohl geboten durch das Gewissen und bestätigt durch die Vernunft, doch vor der Offenbarung Seiner Barmherzigkeit bei jedem Menschen, der es versucht, mit Schuld, Gewissensbissen und Furcht beladen ist. Es ist die unaussprechliche Auszeichnung des Christen und die seinige allein, daß er zu allen Zeiten durch die Vermittlung seines Herrn und Heilandes freien Zutritt zum Thron der Gnade hat.

Aber in den Ausführungen, die ich nun über das Gebet mache, werde ich es nicht als ein Vorrecht, sondern als eine Pflicht darstellen; denn so lange wir nicht eine gewisse Erfahrung in den religiösen Pflichten haben, sind wir unfähig, gebührend in die Vorrechte einzudringen. Außerdem ist es zu sehr Tagesmode, das Gebet als ein bloßes Vor­recht anzusehen, und zwar als eines, dessen Ver­nachlässigung allerdings unbedacht, aber nur un­bedacht, nicht sündhaft ist, und dessen Gebrauch freisteht.

Wir wissen wohl zur Genüge, daß wir verpflichtet sind, den ganzen Tag hindurch in einem gewissen Sinn zu beten und zu betrachten. Die Frage erhebt sich also, haben wir auf irgend eine andere Weise zu beten? Ist es genug, den Tag hindurch unsere Gedanken auf Gott gerichtet zu halten und in unseren Herzen mit Ihm zu verkehren, oder muß man über diese gewöhnliche Glaubenshaltung hin­aus besondere Zeiten für die regelmäßige und ge­wissenhafte Übung des Gebetes auswählen? Sollen wir zu bestimmten Tageszeiten auf bestimmte Art beten? öffentlicher Gottesdienst fordert zwar sei­ner innersten Natur nach Orte, Zeiten und sogar bestimmte Formeln. Das Privatgebet erfordert nicht notgedrungen bestimmte Zeiten, weil wir niemand zu berücksichtigen haben außer uns selbst und wir immer bei uns selbst sind, noch Formeln, denn es ist kein anderer da, dessen Gedanken mit den unsrigen Schritt zu halten haben. Obgleich nun be­stimmte Gebetszeiten und Formeln für das Privat­gebet nicht unbedingt notwendig sind, so sind sie doch höchst dienlich, oder vielmehr, unser Herr gibt uns tatsächlich den Auftrag, bestimmte Ge­betszeiten einzuhalten in dem Text, „du aber, xvenn du betest, geb. in deine Kammer, und wenn du deine Tür geschlossen hast, bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird es dir offen vergelten“. Außer dem verborgenen Gedenken an Gott, das immer in uns lebendig sein muß, wird uns in die­sen Worten die Einhaltung bestimmter Zeiten für das Privatgebet eindeutig aufgetragen, und die in der Schrift erwähnte Übung frommer Männer gibt uns ein Beispiel zur Bestätigung des Geheißes. Sogar unser Heiland hatte Seine besonderen Zei­ten, mit Gott zu verkehren. Seine Gedanken waren sicher ein fortgesetzter, heiliger, Seinem Vater dargebrachter Dienst; trotzdem lesen wir, daß Er auf einen Berg hinaufging, um allein zu beten1, und ferner, „daß Er die ganze Nacht im Gebet mit Gott zubrachte“ (Lk 6,12). Zweifellos werdet ihr euch gut an jenes einsame, dreimal wiederholte Gebet vor Seinem Leiden erinnern, „daß der Kelch an Ihm vorübergehen möchte“ (Mt 26, 3944). Auch der heilige Petrus stieg, wie im zehnten Kapitel der Apostelgeschichte anläßlich der Be­kehrung des römischen Hauptmanns Cornelius be­richtet wird, um die sechste Stunde auf die Ter­rasse des Hauses, um zu beten; da gewährte ihm Gott die Erscheinung. Und Nathanael scheint unter dem Feigenbaum gebetet zu haben zu der Zeit, als unser Heiland ihn sah und Philippus ihn rief. Ich könnte die Beispiele aus der Schrift von solchen „Israeliten ohne Falsch“ (Joh 1, 47) noch vermehren. Diese sind natürlich auf uns anwend­bar, weil doch die persönliche Religiosität zu allen Zeiten die gleiche ist, auch wenn jene Männer unter einer in mancher Hinsicht von der christ­lichen sich unterscheidenden göttlichen Führung lebten. „Der Gerechte wird“ unter jeder Heils­ordnung „aus dem Glauben leben“ (Röm 1,17), und was immer damals die Gründe für den Glauben waren, sich durch regelmäßiges Gebet zu er­halten und zu entfalten, sie bleiben im wesent­lichen die gleichen auch jetzt. Zwei Stellen sollen genügen. Der Psalmist sagt, „siebenmal des Tages lobe ich Dich wegen Deiner gerechten Satzungen“ (Ps 118,164). Und Daniels Gepflogenheit wird uns erzählt bei einer denkwürdigen Gelegenheit, nämlich anläßlich des gottwidrigen Erlasses, der dreißig Tage lang ein Gebet zu jemand anderem als dem König Darius verbot: „Da nun Daniel erfuhr, daß das Schriftstück unterzeichnet sei, ging er in sein Haus, öffnete in seinem Obergemach die Fenster gen Jerusalem, beugte dreimal des Tages seine Knie, betete und sagte Dank vor seinem Gott, wie er auch vordem getan hatte“ (Dn 6, 11). Es ist also klar, außer der ergebenen Haltung, in der wir den Tag verbringen sollten, werden feier­lichere und unmittelbarere gottesdienstliche Hand­lungen, ja, regelmäßig wiederkehrende von uns verlangt durch das Gebot Christi, durch Sein eigenes Beispiel und das Seiner Apostel und Pro­pheten unter beiden Testamenten.

Man muß nun auf dieser Pflicht bestehen, sich zu bestimmten Zeiten dem Privatgebet zu widmen, weil inmitten der Sorgen und der Hast des Lebens die Menschen sehr dazu neigen, es zu vernachläs­sigen. Sie ist weit bedeutsamer, als sie gewöhn­lich angesehen wird, sogar von denjenigen, die ihr nachkommen.

Sie ist bedeutsam aus den zwei folgenden Gründen.

1. Sie führt uns in regelmäßigem Lauf religiöse Dinge vor die Seele. Wohl ist das Gebet den Tag hindurch das Kennzeichen eines christlichen Gei­stes, aber wir können sicher sein, daß in sehr vielen Fällen diejenigen, die nicht zu bestimmten Zeiten in einer feierlicheren und unmittelbareren Weise beten, zu anderen Zeiten nie gut beten werden. Wir wissen, wie wichtig es ist, in den gewöhnlichen Verpflichtungen des Lebens unsere Gedanken ruhig und sorgfältig zu sammeln und in Ordnung zu bringen, bevor wir ein bedeutendes Geschäft in Angriff nehmen, um es dann richtig auszuführen. So muß es auch sein in jener einen wirklich notwendigen Beschäftigung, der Sorge um unser ewiges Heil. Wenn wir auch wollen, daß unser Geist gelassen, unser Verlangen gezügelt und unsere Haltung den Tag hindurch himmel­wärts gerichtet ist, so müssen wir doch, bevor wir des Tages Arbeit beginnen, eine Weile innehalten, in uns selbst hineinschauen und mit unserem Her­zen Zwiesprache halten, um uns dadurch auf die Prüfungen und Verpflichtungen vorzubereiten, in die wir nun eintreten. Ein gleicher Grund kann für das Abendgebet angeführt werden, nämlich, daß es uns eine Zeit bewilligt, auf den vergan­genen Tag zurückzuschauen und sozusagen jene Rechnung zusammenzufassen, welche, wenn wir sie nicht zusammenzählen,  wenigstens  Gott zu­sammengerechnet und in jenem Buch niederge­schrieben hat, das beim Gericht hervorgeholt wird. Es ist eine Zeit, die Sünden zu bekennen und um Verzeihung zu bitten, oder ebenso um für das, was wir gut getan haben, und für die erhaltenen Gna­den  zu  danken,  dann  auch  im Vertrauen  auf Gottes Hilfe gute Vorsätze zu fassen und den ver­gangenen Tag zu versiegeln und sicherzustellen wenigstens als ein Sprungbrett zum Guten für den morgigen Tag. Die genauen Zeiten für das Privat­gebet sind uns nirgends in der Schrift geboten. Die nächstliegenden sind diejenigen, die ich erwähnt habe, morgens und abends. In den Texten, die ich euch soeben anführte, habt ihr gehört von dem Gebet dreimal oder siebenmal am Tag. All das hängt natürlich von den Möglichkeiten jedes einzeln ab. Manche Menschen haben keine freie Zeit dafür; aber für das Morgen- und Abendgebet könnten und sollten sich alle die Zeit nehmen.

Bestimmte Zeiten für das Privatgebet sind also nützlich als Anstoß (wenn ich so sagen darf) für das immerwährende Gebet den Tag hindurch. Sie belehren und beschäftigen uns mit dem, was jeder­zeit unsere Pflicht ist. Es heißt allgemein: Was jedermanns Angelegenheit ist, ist praktisch niemands Angelegenheit; das findet hier seine An­wendung. Ich wiederhole, wenn wir die Religion zu allen Stunden des Tages in gleicher Weise Gegenstand unseres Denkens sein lassen, denkt man in keiner an sie. Bei allem gilt der Grundsatz, daß man von kleinen Anfängen und gut angeleg­ten Kanälen zu umfangreichen Werken fort­schreitet. Festgelegte Gebetszeiten versetzen uns in jene Haltung (wie ich es nennen kann), in der wir immer sein sollten. Sie drängen uns vorwärts in der Richtung auf den Himmel, und dann trägt der Strom uns weiter. Aus dem gleichen Grund ist es dienlich, die Formen unserer persönlichen Gottesverehrung wenn möglich würdig zu gestal­ten, um unsere Seele zu beeindrucken. Unser Heiland kniete nieder, fiel auf Sein Angesicht und betete (Mt 26,39; Lk 22,41), desgleichen Seine Apostel (Apg 20,36; 21,5; Eph. 3,14); und des­gleichen die Heiligen des Alten Testamentes. Da­her pflegen viele (jene, die die Gelegenheit dazu haben), einen besonderen Ort für ihre privaten Andachtsübungen auszuwählen; immer noch aus dem gleichen Grund, um ihren Geist zu sammeln, – wie Christus in dem Vorspruch uns sagt, in unsere Kammer zu gehen.

2. Ich komme nun zu dem zweiten Grund für das regelmäßige Privatgebet. Außer seinem Ziel, in uns bleibende religiöse Eindrücke hervorzurufen, worüber, ich mich soeben verbreitert habe, ist es auch ein unmittelbarer Weg, um von Gott eine Antwort auf unser Beten zu erhalten. Er hat es so gutgeheißen in dem Text: – „Schließe deine Tür und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen sieht, und Er wird es dir offen vergelten“. Wir wissen nicht, auf welche Weise das Gebet über­haupt eine Antwort von Gott erhält. Es ist aller­dings seltsam, daß der schwache Mensch die Kraft haben sollte, Gott zu beeinflussen; aber es ist unser Vorrecht zu wissen, daß wir es können. Das ganze System dieser Welt ist eine Geschichte mensch­licher Einmischung in die göttlichen Ratschlüsse. Wenn wir die betrübliche Macht haben, Sein Wohlwollen zu unserem eigenen Verderben zu durchkreuzen (eine schreckliche und unbegreifliche Wahrheit!), wenn wir entgegen Seinem ewigen Heilsplan doch unsere Auserwählung für den Himmel zunichte machen und unseren ewigen Untergang wirken können, haben wir weit mehr die Macht, Ihn zu beeinflussen (gepriesen sei Sein Name!), wenn Er, der Durchforscher unserer Her­zen, in uns die Gesinnung jenes Heiligen Geistes entdeckt, der „für die Heiligen gemäß Seinem Willen Fürsprache einlegt“ (Rom 8, 26. 27). Und da Er auf diese Weise eine Antwort auf unsere armseligen Gebete verheißen hat, so ist es nicht weniger seltsam, daß die Gebete, die wir zu be­stimmten Zeiten und auf bestimmte Weise Ihm darbringen, eine besonders überwältigende Kraft bei Ihm haben sollten. Der Grund dafür mag fol­gender sein. Der Glaube ist das dazu bestimmte Mittel, um alle Segnungen von Gott zu erlangen. „Alle Dinge sind dem möglich, der glaubt“ (Mk 9, 22). Wenn wir nun zu bestimmten Zeiten unsere Gedanken zum Gebet sammeln und unsere Bitten in einer geordneten und klaren Art vorbringen, ist der Akt des Glaubens wahrscheinlich stärker und ernster; dann stellen wir uns vollkommener die Gegenwart jenes Gottes vor, den wir nicht sehen, und Ihn, auf den einst alle unsere Sünden geladen wurden, der die Bürde unserer Schwach­heiten und Krankheiten ein für allemal trug, da­mit wir in allen unseren Nöten Ihn suchen und in der Zeit der Not Gnade finden könnten. So ist diese Welt mehr außer Sicht, und wir eignen uns auf einfachere Weise diejenigen Segnungen an, die wir nur in Demut zu erstreben brauchen, da­mit sie wirklich unser sind.

Für das Gebet sind also bestimmte Zeiten not­wendig; zuerst als ein Mittel, den Geist klar und die allgemeine Haltung religiöser zu machen; zweitens als ein Mittel, ernsten Glauben zu üben und dadurch eine sicherere Segnung zur Antwort zu erhalten, als wir sie sonst erlangen würden.

Weitere Gründe könnten zweifellos angeführt werden; aber diese genügen, nicht nur, weil sie ein Gedankengut enthalten, das für uns nützlich sein kann, sondern weil sie außerdem zu der Vor­stellung verhelfen, wie weise und barmherzig jene göttlichen Vorkehrungen wirklich sind, welche unser eitler Geist so gern in Frage stellt. Alle Gebote Gottes sollten überhaupt sofort auf den Glauben hin angenommen werden, auch wenn wir keinen Grund dafür sehen. Es gibt keine Entschul­digung für den Ungehorsam eines Menschen ihnen gegenüber, selbst wenn er glaubt, Gründe gegen sie zu finden, denn Gott weiß alles besser als wir. In Seiner großen Herablassung aber hat Er uns erlaubt, hier und dort Seine Gründe für das, was Er tut und gebietet, zu sehen. Wir sollten diese gelegentlichen Erkenntnisse als Hinweise für die Zeit der Versuchung wie einen Schatz aufhäufen. Wenn dann Zweifel und Unglauben uns bestür­men und wir über Sein geoffenbartes Wort ver­wirrt sind, mögen wir uns jene früheren Beispiele aus unserer eigenen Erfahrung ins Gedächtnis rufen, die uns anfangs seltsam und hart vorkamen, dann aber bei genauerer Betrachtung ihr weises Ende erwiesen.

Die Pflicht, bestimmte Zeiten für das Privatgebet zu haben, ist eine jener Übungen, der gegenüber wir geneigt sind, ungläubigen Gedanken, wie eben beschrieben, Raum zu geben. Es scheint uns eine Äußerlichkeit zu sein oder höchstens eine Gering­fügigkeit, die man beobachten oder unterlassen kann. Dagegen sind wir in Wahrheit Geschöpfe von solcher Art, daß in uns kleine Übungen mit dem Andauern unserer hauptsächlichsten Gewohn­heiten und Gebräuche aufs engste und auffallendste verknüpft sind. Es ist leicht zu sehen, warum diese Pflicht Verdruß bereitet; denn sie lastet auf uns und ist unbequem. Es ist eine Pflicht, die beständig unsere Aufmerksamkeit beansprucht, und ihre Lästigkeit treibt unser Herz zum Widerstand, und dann gehen wir dazu über, nach Gründen zu suchen, um unsere eigene Abneigung dagegen zu rechtfertigen. Nichts ist schwieriger, als in unserer Frömmigkeit beherrscht und regelmäßig zu sein. Sehr leicht ist es, dann und wann religiös zu sein und unsere Gefühle durch künstliche Reizmittel hoch zu halten; aber Regelmäßigkeit scheint uns zu hemmen, und wir werden ungeduldig. Das ist besonders der Fall bei solchen, denen die Welt bis jetzt etwas Neues ist und die nach Belieben handeln können. Die Religion ist der Hauptgegen­stand, der ihnen begegnet und ihnen Regelmäßig­keit auferlegt. Sie üben sie daher nur, soweit sie dieselbe wie eine Angelegenheit dieser Welt be­trachten können,  als etwas Gesuchtes oder Ab­wechselndes oder Aufregendes. Satan kennt hier seinen Vorteil. Er weiß sehr gut, daß das regel­mäßige Privatgebet das eigentliche Abzeichen und die Schutzwehr echter Hingabe an Gott ist, da es uns beeindruckt und in uns eine Lebensnorm auf­recht erhält. Wer die Regelmäßigkeit im Gebet aufgibt,  hat  ein wichtiges  Mittel verloren,  sich selbst daran zu erinnern, daß geistliches Leben Gehorsam gegen einen Gesetzgeber ist, nicht eine bloße Sache des Gefühls oder des Geschmackes. Daher kommt es, daß so viele, besonders in den feingebildeten Gesellschaftsklassen, die der Ver­suchung zu groben Lastern enthoben sind, in eine bloße genuß- und selbstsüchtige Frömmigkeit hin­eingeraten und diese für Religion  halten. Sie lehnen alles ab, was Selbstverleugnung verlangt, und besonders das regelmäßige Gebet. Aus diesem Grunde verfallen andere allen Arten aufpeitschen­der Einbildung, weil sie dadurch, daß sie ein fest­gelegtes Privatgebet  in geschriebenen  Formeln aufgeben, die Grundregel ihres Herzens verloren haben. Demgemäß  werdet ihr sie  eifern hören gegen  das regelmäßige Gebet (das eigentliche Heilmittel für ihre Krankheit), als gegen einen formelhaften Dienst, und behaupten hören, daß Zeiten, Orte und festgelegte Worte der Beachtung eines geistigen Christen unwürdig sind. Andere, die den Verführungen zur Sünde ausgesetzt sind, fallen wegen der gleichen Unterlassung völlig ab. Seid sicher, meine Brüder, wer immer von euch sich bestimmen läßt, sein Morgen- und Abend­gebet nicht mehr zu üben, der legt die Waffen­rüstung ab, die ihn gegen die Ränke des Teufels sichern soll. Wenn ihr deren Beobachtung aufge­geben habt, könnt ihr jeden Tag fallen; – und ihr werdet fallen, ohne es wahrzunehmen. Eine Zeitlang werdet ihr weiter gehen und ihr werdet euch als die gleichen vorkommen wie zuvor; aber ebenso gut konnten die Israeliten hoffen, sich mit Manna zu versorgen als ihr mit Gnade. Ihr betet heute um euer tägliches Brot, um euer Brot Tag für Tag; und wenn ihr diesen Morgen nicht darum gebetet habt, wird es euch wenig nützen, daß ihr gestern darum gebetet habt. Ihr habt gebetet und ihr habt es verlangt, – aber es ist keine Zuteilung für zwei Tage. Habt ihr die Übung des regel­mäßigen Gebetes aufgegeben, werdet ihr allmäh­lich schwächer, ohne es zu merken. Samson wußte nicht, daß er seine Kräfte verloren hatte, bis die Philister über ihn herfielen. Ihr werdet euch für die Menschen halten, die ihr wäret, bis plötzlich euer Gegner wütend über euch kommen wird, und alsbald werdet ihr abfallen. Ihr werdet geringen oder gar keinen Widerstand leisten können. Das ist der Weg, der zum Tode führt. Man gibt zuerst das Privatgebet auf; dann vernachlässigt man die schuldige Beobachtung des Herrentages (die ein festgelegter Dienst derselben Art ist); dann läßt man allmählich seinem Gedächtnis den eigentlichen Gedanken des Gehorsams gegen ein festgelegtes ewiges Gesetz entgleiten; hierauf gestattet man sich tatsächlich Dinge, die das Gewissen verdammt; dann geht man der Leitung des Gewissens ver­lustig, das, schlecht behandelt, schließlich die Füh­rung verweigert. Und so, verlassen vom wahren inneren Lenker, ist man genötigt, eine andere Führung anzunehmen, nämlich die Vernunft, die aus sich selbst wenig oder nichts über Religion weiß. Dann stellt diese blinde Vernunft ein System von Recht und Unrecht auf, so gut sie es vermag, ein Gebilde, das ihren eigenen Wünschen schmei­chelt und anmaßend wenn nicht tatsächlich ver­derbt ist. Kein Wunder, daß ein solches Gebilde der Schrift widerspricht, eine Tatsache, die bald entdeckt wird. Nicht als ob man es selbst klar wahrnähme: man weiß es oft selbst nicht, und hält sich noch für einen gläubigen Anhänger des Evan­geliums, während man Lehren festhält, die das Evangelium verdammt. In anderen Fällen aber nimmt man wahr, daß das eigene System der Schrift widerspricht; und dann gibt man statt seiner die Schrift auf und bekennt sich als Un­gläubigen! Dergestalt ist der Verlauf des Unge­horsams. Er beginnt mit (scheinbar) leichten Unter­lassungen und endigt im offenen Unglauben; und alle Menschen, welche auf dem breiten Weg wan­deln, der zum Verderben führt, sind nur auf ver­schiedenen Strecken, der eine weiter voran als der andere, aber alle auf dem einen Weg. Ich habe hier davon gesprochen, um euch daran zu erinnern, wie sehr das Gehen auf diesem Weg mit der Ver­nachlässigung des regelmäßigen Privatgebetes zu­sammenhängt. Wer dagegen genau ist in der Ver­richtung des Morgen- und Abendgebetes und mit seinem Herzen ebenso wie mit seinen Lippen betet, kann kaum abirren, denn jeder Morgen und Abend bringt ihm einen Mahner, der ihn zurück­zieht und wiederaufrichtet.

Hütet euch vor den feinen Schlichen eures Feindes, der euch gern eurer Rüstung berauben möchte. Gebt seinen Vorspiegelungen nicht nach. Seid be­sonders auf der Hut, wenn ihr in eine neue Lage oder in neue Umstände kommt, die eure Teil­nahme wecken und euch erfreuen; denn sie könn­ten euch von eurer Regelmäßigkeit im Gebet ab­drängen. Alles Neue und Unerwartete ist für euch gefährlich. Wenn ihr viel in gemischte Gesell­schaften geht, viele fremde Personen zu Gesicht bekommt, an allen angenehmen Unterhaltungen teilnehmt, fesselnde Bücher lest, in eine neue Lebenslaufbahn eintretet, eine neue Freundschaft schließt, die Aussicht auf irgend einen weltlichen Vorteil sich eröffnet, wenn ihr auf Reisen seid: alle diese und ähnliche Dinge, die in sich selbst unschuldig sind und im religiösen Sinne gebraucht werden können, werden Gelegenheiten zur Ver­suchung, wenn wir nicht auf unserer Hut sind. Seht zu, daß ihr von ihnen nicht ins Wanken ge­bracht werdet. Das ist die Gefahr; fürchtet euch unbeständig zu werden. Bedenkt, daß Festigkeit des Geistes die Haupttugend ist, denn sie ist Glaube. „Du wirst den im vollkommenen Frieden erhalten, dessen Sinn feststeht in Dir, weil er auf Dich vertraut“ (Is 26, 3). Das ist die Verheißung. Aber „die Frevler sind wie das aufgewühlte Meer, das nicht ruhig sein kann, dessen Wasser Schlamm und Schmutz aufwühlen; es gibt keinen Frieden, spricht mein Gott, für die Frevler“ (Is 57, 20. 21). Nicht für die Frevler allein, in unserem gewöhn liehen Sinn des Wortes „Frevler“, sondern für keinen gibt es Frieden, der auf irgend eine Weise seinen Gott verläßt und den Gütern dieser Welt nachjagt. Gebt euch nicht den Traumbildern irdi­scher Güter hin, richtet eure Herzen auf höhere Dinge. Eure Gedanken morgens und abends seien Ruhepunkte für das Auge eures Geistes und diese Gedanken seien auf den schmalen Weg gerichtet, auf die Glückseligkeit des Himmels, die Herrlich­keit und Macht Christi, eures Heilandes. So werdet ihr bewahrt vor unwürdigem Aufstieg und Fall und gefestigt auf einem ausgeglichenen Weg. Die Menschen wissen im allgemeinen nichts davon. Sie sind nicht Zeuge eures privaten Gebetes und sie setzen euch auf gleiche Stufe mit der Menge, auf die sie stoßen. Aber eure Freunde und Bekannten gewinnen Licht und Trost aus eurem Beispiel. Sie sehen eure guten Werke und können sie also auf ihren wahren, geheimen Quell zurückführen, auf die im Gebet gesuchten und erlangten Einwirkun­gen des Heiligen Geistes. So preisen sie euren himmlischen Vater und sie werden euch nach­ahmen und Ihn suchen; und Er, der im Verbor­genen sieht, wird zu guter Letzt euch offen be­lohnen.

John Henry Newman, Deutsche Predigten I, 19, Schwabenverlag 1948, 274-288