Heiligkeit als Norm christlicher Lebensart

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Ihr wisst sehr wohl, meine Brüder, und es gibt überhaupt wenig Menschen, die es leugnen, daß in der Brust eines jeden ein Gefühl oder ein Empfin­dungsvermögen wohnt, das ihm den Unterschied zwischen Recht und Unrecht anzeigt, und das die Norm ist für unsere Gedanken und Handlungen. Man nennt es Gewissen; und auch wenn es nicht jederzeit wirksam genug ist, uns zu lenken, so ist es doch bestimmt und entschieden genug, in den verschiedenen Dingen, die uns begegnen, unsere Ansichten zu beeinflussen und unsere Urteile zu formen. Doch auch diesen Dienst kann es nicht zweckentsprechend erfüllen ohne Hilfe von außen; es bedarf der Regulierung und Stützung. Sich selbst überlassen wird es, auch trotz anfänglich wahrer Aussage, zuletzt schwankend, zweifelhaft und irrig; es bedarf guter Lehrer und guter Vorbilder, die es auf der Höhenlinie der Pflicht erhalten; und das Elend ist, daß diese äußeren Stützen, Lehrer und Vorbilder, in vielen Fällen nicht vorhanden sind. Ja, bei der Mehrzahl der Menschen fehlen sie so weitgehend, daß das Gewissen seinen Weg verliert und der Seele auf ihrem Weg zum Himmel nur in­direkt und auf Umwegen Führer ist. Selbst in sogenannten christlichen Ländern wird das natürli­che innere Licht matt, weil das Licht, das einen jeden erleuchtet, der in die Welt kommt, aus dem Gesichtskreis geschwunden ist. So ist es, meine ich, ein höchst leidvoller und erschreckender Gedanke, daß in unserem Lande und unter unserem Volke, das sich rühmt, so christlich und so erleuchtet zu sein, die Sonne am Himmel derart aus der Bahn geraten ist, daß der Spiegel des Gewissens nur wenige Strahlen einfangen und zurückwerfen kann und eine nur armselige und geringe Hilfe bietet, den Fuß vor Verirrung zu bewahren. Dieses innere Licht, ein Geschenk Gottes, ist doch machtlos, den Horizont aufzuhellen, uns die Richtung anzuzeigen und uns mit der Gewißheit zu trösten, daß wir auf dem Weg in unsere ewige Heimat sind. Dieses Licht war mit der Absicht gegeben worden, in uns eine Norm für das Gute und Wahre aufzustellen; uns in jeder Verlegenheit die Pflicht zu bezeichnen, uns bis ins kleinste über die Sünde aufzuklären, ein Richter in allem zu sein, was uns begegnet, das Kostbare vom Gemeinen zu unterscheiden, uns vor der Verführung durch das Gefällige und Ange­nehme zu bewahren und die Sophismen unserer Vernunft zunichte zu machen. Aber ach! Was für eine Vorstellung von Wahrheit, welche Vorstellung von Heiligkeit, welche Vorstellung von Heroismus, welche Vorstellung davon, was gut und groß ist, haben doch die meisten Menschen! Ich frage nicht, ob sie tatsächlich nach irgendeiner Idee von diesen hohen Dingen handeln oder ob sie von solchen Ideen tatsächlich beherrscht sind; das ist ein weite­rer Punkt; ich frage nur, haben sie überhaupt eine Vorstellung davon? Oder, sofern sie ihre Vorstel­lungen von dem, was groß und gut ist, nicht ganz aus ihrer Seele auslöschen können, so frage ich im­mer noch, ob die Art ihrer Erkenntnis hievon, wie auch der Dinge und Menschen, in denen sie nach ihrer Ansicht Gestalt annehmen, nicht so beschaffen sei, daß wir von der Masse der Menschen in Wahr­heit sagen müssen, daß „das Licht in ihnen Finster­nis ist“ (Lk 11,35).

Hört mir zu, meine lieben Brüder, ich sage nichts sehr Abstruses, nichts sehr Unverständliches, nichts Unwichtiges: vielmehr etwas Verständliches, Un­leugbares und ganz allgemein Interessierendes. Ihr wißt, es gibt Menschen, die nie das Tageslicht sehen; sie leben in Gruben und Minen und dort arbeiten sie, dort vergnügen sie sich und dort sterben sie viel­leicht. Glaubt ihr wohl, daß sie, wiewohl sie Augen haben, eine richtige Vorstellung vom Glänze der Sonne und von der Wärme der Sonne haben? Eine Vorstellung vom schönen Himmelsgewölbe, von der Bläue des Himmels, von dem zarten Gewölk und von Mond und Sternen bei Nacht? Die Vorstellung eines hohen Berges oder der grünen, lachenden Erde? Was für eine Stunde muß es sein für einen, der plötzlich einer solchen Grube oder Höhle, der dumpf roten Glut und dem flimmernden Schein der Fackel, dieser Eintönigkeit des künstlichen Lichtes entstieg, in dem es weder Tag noch Nacht gibt – der also plötzlich emporstiege und nun zum ersten Male die strahlende Sonne in ihrer majestätischen Wanderung von Ost nach West erblickte und Zeuge würde von der allmählich großartigen Wandlung von Luft und Himmel von der Frühe bis zum wür­zig duftenden Abend! Und oh, welch ein Anblick für einen Blindgeborenen, wenn er sehend würde, ein Empfinden, so ganz anders als alle seine früheren Wahrnehmungen! Welch wundersamer neuer Zustand des Daseins, den er trotz des Gehör- und Tastsinnes, den er von jeher besaß, auf Grund der Schilderung anderer oder auf Grund der ihm zu­gänglichen Informationsquellen nie auch nur im geringsten Maß sich selbst zu vergegenwärtigen imstande war! Würde er sich nicht sozusagen in „einer neuen Welt“ befinden? Welch eine Umwäl­zung vollzöge sich von Stunde zu Stunde in seiner Denkweise, in seinen Gewohnheiten, in seiner Art und Weise und in seinem Handeln: Er würde sich nicht mehr mit Hand und Gehör hindurch tasten, er würde nicht mehr herumtappen müssen; er würde sehen; er würde auf einen Blick zehntau­send Dinge wahrnehmen und, was noch mehr be­deutet, deren gegenseitige Beziehung und Stellung zueinander. Er würde wissen, was groß und was klein, was nahe und was fern ist, welche Dinge sich einander nähern und welche stets voneinander ge­trennt bleiben. Mit einem Wort, er würde alle Dinge als ein Ganzes erkennen und sich selbst als Mittelpunkt, dem sie sich unterordnen. Er würde ferner auch Kenntnis gewinnen von etwas, das ihm noch näher liegt und persönlicher als all die vielen Gegenstände ist, ganz verschieden von all den Formen und Gruppen, in denen das Licht wie in einem Zelte wohnt und das seine Be­wunderung und seine Liebe hervorrief. Er würde entdecken, daß schwärende Keime von Krankheit und Seuche in ihren ursprünglichen und kleinsten Formen sich auf ihm lagern, ihn überwuchern und in ihn eindringen. Die Luft, die uns umgibt, ist gesättigt mit feinem Pulver und Staub, der sacht auf alles herniederfällt, sich unmerklich über alles lagert, alles beschmutzt und verunreinigt und, wenn ungestört geduldet, Krankheit erzeugt und Seuchen hervorruft. Es ist wie jene Asche aus dem Ofen, die Moses auf Geheiß Gottes in die Hand nahm und himmelwärts streute, so daß sie zu Ge­schwüren und Blattern wurde auf der Haut der Ägypter (Ex 9, 8 ff.). Diese unheimliche Plage wird in ihren letzten Konsequenzen von allen emp­funden, von den Blinden wie von den Sehenden; aber erst durch das Augenlicht unterscheiden wir sie in ihrem Ursprung und Fortgang; erst im Son­nenlicht erkennen wir unseren eigenen Schmutz und die Notwendigkeit, uns durch ständige Reini­gung davon zu befreien.

Was aber ist dieser Staub und Schmutz, meine Brüder, anderes als ein Sinnbild der Sünde? So unmerklich in ihrem Herankommen, so vielfältig in ihren Formen, niemals nachlassend in ihrer Rei­zung, unscheinbar in ihrem Äußern und so ver­derblich, so giftig in ihren Auswirkungen. Sanft und unmerklich überfällt sie die Seele, aber lang­sam brütet sie Wunden und Geschwüre aus und endet im ewigen Tod. Und wie wir die Atomteil­chen des Staubes, die sich auf uns niederlassen, nicht sehen können ohne das Licht, und wie das gleiche Licht, das uns befähigt, sie zu sehen, uns zugleich gerade infolge ihres Kontrastes zum Licht lehrt, wie ungehörig und unehrenhaft der Schmutz ist, so macht uns das Licht der unsichtbaren Welt, machen uns die Lehren und Beispiele der geoffenbarten Wahrheit zugleich mit dem Dasein auch die Häßlichkeit der Sünde deutlich, was wir ohne sie nicht beachten oder übersehen würden. Und wie es Menschen gibt, die in Höhlen und Bergwerken leben und nie das Tageslicht sehen und ihre Arbeit nach bestem Vermögen bei Fackelschein verrichten, so gibt es Massen von Menschen, ja ganze Rassen, die, obwohl sie das Augenlicht von Natur aus besit­zen, es nicht richtig zu gebrauchen vermögen, weil sie in einer geistigen Grube leben, in den Regionen der Finsternis, „im Lande des Jammers und der Finsternis, wo Schatten des Todes sind und keine Ordnung ist“ (Jb 10, 22).

Dort sind sie geboren, dort leben sie, dort sterben sie; und anstatt sich im hellen, weiten und allent­hüllenden Licht der Sonne zu bewegen, tasten sie sich nach bestem Vermögen im Licht der Fackeln ihren Weg entlang von Ort zu Ort, oder hängen an bestimmten Punkten Lampen auf und „wandeln im Lichte ihres Feuers und in den Flammen, die sie entzündet haben“ (1s 50,11), steht ihnen doch nichts Helleres, nichts Reineres zu Gebote, das ihnen für die Bedürfnisse des Tages und Jahres dienen könnte. Irgendein Licht müssen sie sich ver­schaffen, und in Ermanglung von etwas Besserem schaffen sie sich ihr eigenes. Der Mensch, ein ver­nunftbegabtes Wesen, kann eben deshalb nicht ein­fach aufs Geratewohl leben; in einem gewissen Sinn muß er nach einem Prinzip, nach einer Regel leben, muß sich zu einem Lebensziel bekennen, einen Zweck haben, eine Norm aufstellen und sich solche Vorbilder wählen, die sie seiner Ansicht nach verwirklicht haben. Sein Verstand macht ihn nicht etwa (wie man manchmal sagt) unabhängig; er zwingt ihm eine Abhängigkeit von bestimmten Prinzipien und Gesetzen auf, damit seinem eige­nen Anspruch Genüge werde. Naturnotwendig muß er zu irgend etwas aufschauen, und kann er keinen Gegenstand für seine Verehrung finden, dann schafft er sich einen. Wird ihm die Wahrheit nicht von oben her gelehrt, dann ist er sein eigener Lehrer des Irrtums oder lernt Falsches von seinem Nachbarn. Er schafft sich selber seine Götzen, wenn er den Ewigen Gott und Seine Heiligen nicht kennt. Welches von beiden nun, meine Brüder, glaubt ihr wohl, werden unsere eigenen Landsleute besitzen? Sind sie im Besitz des wahren Gegenstan­des der Anbetung oder besitzen sie einen falschen? Haben sie sich etwas geschaffen, was keine Wirk­lichkeit hat, oder haben sie das entdeckt, was wirklich ist? Wandeln sie unter den Lichtern des Himmels oder gleichen sie jenen, die in Höhlen geboren sind und dort leben und die sich ihr Licht nach bestem Vermögen aus Steinen oder dem Me­tall der Erde schlagen?

Schaut euch um, meine Brüder, und gebt euch selbst die Antwort. Besehet euch die Gegenstände, die diese Leute anpreisen, überprüfet ihre Maßstäbe, wäget ihre Ideen und Urteile ab, und dann sagt mir, ob sich nicht eben aus ihrem Begriff des Wün­schenswerten und Vorzüglichen klar ergibt, daß Größe, Gutheit, Heiligkeit, Hoheit und Wahrheit ihnen unbekannt sind; und daß sie jene hohen Attribute der göttlichen Natur nicht nur nicht an­streben, sondern sie nicht einmal bewundern. Das ist es, worauf ich Gewicht lege, nicht, was sie augenblicklich tun oder was sie sind, sondern was sie verehren, was sie anbeten, welches ihre Götter sind. Ihr Gott ist der Mammon; ich will damit nicht sagen, daß alle nach Reichtum streben, viel­mehr, daß alle sich vor dem Reichtum beugen. Es ist der Reichtum, dem die Masse der Menschen in­stinktiv huldigt. Sie beurteilen das Glück nach dem Reichtum, und nach dem Reichtum bemessen sie das Ansehen. Ganze Massen gibt es, meine ich, die es sich nie träumen lassen, selber einmal reich zu wer­den, die aber dennoch vor dem Reichtum ein unfreiwilliges Ehrfurchtsgefühl und eine Scheu emp­finden, als ob der Reiche auch ein guter Mensch sein müßte. Sie möchten den Blick eines bestimmten Reichen auf sich ziehen; sie freuen sich bei einer Gelegenheit mit ihm gesprochen zu haben; sie möchten solche kennenlernen, die mit ihm bekannt sind, gut Freund sein mit seinen Angestellten, sie sind stolz darauf, sein Haus betreten zu haben, ja ihn von Angesicht zu Angesicht zu kennen. Nicht als ob ihnen, ich wiederhole es, je der Gedanke käme, daß auch sie eines Tages den gleichen Reich­tum gewinnen könnten wie er, nicht als wollten sie den Reichtum sehen, denn der Mensch, der ihn be­sitzt, mag sich kleiden, mag leben und aussehen wie die anderen; nicht als erhofften sie sich einen Vorteil davon: nein, ihre Verehrung ist uninteres­siert, es ist eine Verehrung, die aus einer ehrlichen, echten und herzlichen Bewunderung des Reichtums um seiner selbst willen kommt, ähnlich der lauteren Liebe, die heilige Menschen für den Schöpfer des Alls empfinden. Es ist eine Verehrung, die aus einem tiefen Glauben an den Reichtum kommt, aus der innersten Empfindung ihres Herzens, daß einer, wenn er nur reich ist, sich von allen andern unter­scheidet, gleich, wie einer sonst aussehen mag – armselig, gemein, verkommen, verlebt, vulgär; oder ob er unwissend, krank, schwachsinnig sei; ob er den Stempel eines Tyrannen oder des Lasters tragen mag. Ist er reich, dann hat er eine Gabe, einen Zauber, eine Allmacht; hat er Reichtum, dann vermag er alles.

Reichtum ist der eine Götze des Tages; Berühmtheit der zweite. Wiederum sage ich, ich spreche nicht von dem, was sich die Menschen tatsächlich zum Ziel setzen, sondern von dem, zu was sie auf schauen, was sie verehren. Es mag einer die Gele­genheit gar nicht haben, das zu erstreben, was er dennoch bewundert. In keinem der früheren Zeit­alter kannte man die Berühmtheit in der Form, wie es heute der Fall ist – heute, wo tagtäglich Neuig­keiten aus allen Teilen der Welt, private Neuig­keiten wie öffentliche, ich möchte sagen, für jeden einzelnen aus der Gemeinschaft erreichbar sind, für den ärmsten Handwerker und den abgelegensten Bauern, und zwar durch so gleichförmige, so sich gleichbleibende, so selbstverständliche Vorgänge, daß sie beinahe den Charakter eines Naturgesetzes tragen. Und so ist Berühmtheit oder das Aufsehen-Machen in der Welt nach allgemeiner Ansicht ein großes Gut in sich geworden und ein Grund zu Verehrung. Es gab eine Zeit, da die Menschen nur mit hohen Kosten sich zur Schau stellen konnten, und die Welt pflegte mit Bewunderung aufzuschauen zu denen, die ein großes Hauswesen, viele Diener, viele Pferde, reich ausgestattete Häuser, Gärten und Parkanlagen hatten; sie tut es auch heute noch, wenn sie dazu Gelegenheit hat; denn solche Pracht­entfaltung ist das Glück weniger und verhältnis­mäßig wenige können Zeugen davon sein. Be­rühmtheit oder Zeitungsruhm, wie man es nennen kann, hat bei der Menge den Klang, wie ihn Stil und Mode, um die Sprache der Welt zu gebrau­chen, bei jenen haben, die den höheren Kreisen an­gehören oder in ihren Bereich kommen; sie wird ihnen zu einer Art Götze, der um seiner selbst wil­len angebetet wird ohne Bezug auf die Gestalt, in der sie ihnen begegnet. Es kann guter Ruf oder schlechter Ruf sein, es mag die Berühmtheit eines großen Staatsmannes sein, eines großen Predigers, eines großen Unternehmers, eines großen Naturwissenschaftlers, eines großen Verbrechers – eines Mannes, der sich um die Schulreform gemüht hat oder um die Reform der Krankenhäuser, der Ge­fängnisse oder Arbeitshäuser oder eines Mannes, der dem Nachbarn die Frau geraubt hat. Das spielt keine Rolle; wenn man nur viel von ihm spricht und viel von ihm liest, so schätzt man ihn hoch ein – ja, er mag gerechterweise den Tod eines dem Gesetze Verfallenen gestorben sein, man macht dennoch eine Art Märtyrer aus ihm. Man zeigt seine Kleider, seine Handschrift, die Umstände sei­ner Schuld, die Werkzeuge seiner Bluttat rund, man gafft sie an, man bewahrt sie sogar als ebenso viele Andenken auf; denn bei den Menschen dreht sich die Frage nicht darum, ob jemand groß, gut, weise oder heilig ist, auch nicht darum, ob er nied­rig, gemein oder hassenswert ist, sondern nur dar­um, ob er im Munde der Menschen ist, ob er die Aufmerksamkeit der vielen auf sich gezogen hat, ob er Außerordentliches vollbracht hat, ob er in den neuesten Publikationen (sozusagen) kanonisiert worden ist. Nicht alle können berühmt werden, die Menge derer, die der Berühmtheit huldigen, ver­langt nicht danach; ich spreche ja nicht vom Tun der Menschen, sondern von der Art, wie sie urtei­len. Aber von Zeit zu Zeit gibt es Beispiele von verbrecherischen Menschen, die so der Leiden­schaft der Berühmtheit verfallen sind, daß sie so­gar eine verabscheuungswerte und böse Tat voll­bringen, nicht aus Liebe zu ihr, nicht aus Neigung oder Abneigung gegen die betroffene Person, son­dern einfach, um dem unlauteren Drang nachzu­geben, von sich reden zu machen oder angestaunt zu werden. „Das sind, o Israel, deine Götter“ (Ex 32, 4). Leider, leider! Dieses große und noble Volk, für Höheres geboren, zur Ehrfurcht geboren, sieh, wie es im Fackellicht der Höhle auf und ab­geht oder dem Irrlicht im Sumpf nachspürt, ohne die Erkenntnis seiner selbst, seiner Bestimmung, seiner Befleckung, seiner Nöte, denn es entbehrt die erhabenen Leuchten des Himmels, zu sehen, zu be­fragen und zu bewundern.

Und doch, welch ein Wandel, meine Brüder, wenn die gütige Hand Gottes sie durch irgendein wun­derbares Werk der Vorsehung an den Eingang der Grube führt und herauf in das selige Tageslicht! Welche Wandlung an ihnen, wenn sie erstmals mit den Augen der Seele, mit dem inneren Blick, der aus der Gnade kommt, Jesus, die Sonne der Ge­rechtigkeit, erblicken, den Himmel der Engel und Erzengel, in dem Er wohnt, den hellen Morgen­stern, der da Seine gebenedeite Mutter ist; wenn sie die endlose Lichtflut schauen, die auf die Erde herabfällt, sich an ihr bricht und sich im Fallen in eine Unendlichkeit von Schattierungen auflöst, die Seine Heiligen sind; das uferlose Meer, das das Abbild Seiner göttlichen Unermeßlichkeit ist; so­dann den stillen, ruhigen Mond in der Nacht, das Bild Seiner Kirche; die schweigenden Sterne, die gleich guten und heiligen Menschen auf ihrer ein­samen Pilgerfahrt zur ewigen Ruhe dahinziehen! Das war die Überraschung, das Entzücken, das die begnadeten Apostel überfiel, als unser Herr sie einmal mit hinaufnahm auf die Höhe des Tabor. Er ließ die kranke Welt, die geplagte, ruhelose Menge am Fuße des Berges zurück, nahm sie mit Sich hinauf und wurde vor ihnen verklärt. „Sein Antlitz glänzte wie die Sonne und Seine Kleider waren weiß wie Schnee“; und sie erhoben ihre Augen und erblickten Ihm zur Seite je eine leuch tende Gestalt: es waren die beiden Heiligen des Alten Testamentes Moses und Elias, die mit Ihm sprachen. Wahrhaftig, ein Blick in den Himmel! die heiligen Apostel wurden mit einem neuen Kreis von Ideen, einem neuen Bereich des Schauens ver­traut gemacht, bis Petrus, hingerissen von der Vision, ausrief: „Herr, hier ist gut sein; lasset uns drei Hütten bauen“ (Mt 17, 2 ff.). Wie gern hätte er diese himmlische Herrlichkeit für immer fest­gehalten; im Vergleich zu ihr mußte alles auf Er­den verbleichen und dahinschwinden, das Hellste, das Schönste, das Edelste, und im Verderben enden; Eitelkeit war ihr wesentlichstes Gut, Unrat ihr reichster Gewinn, Verdruß ihre höchste Freude und Ekel und Abscheu ihre Sünde. So ähnlich ist auf seine Art der Kontrast, dessen Zeuge die erwachte Seele wird, der Kontrast zwischen den Gegenstän­den ihrer Bewunderung und ihres Strebens in der natürlichen Ordnung und jenen, die sie überwälti­gen, wenn sie in die Gemeinschaft mit der unsicht­baren Kirche eingetreten ist, wenn sie hinzugetre­ten ist „zum Berge Sion und zur Stadt des leben­digen Gottes, zum himmlischen Jerusalem, zu der Menge vieler tausend Engel, zu der Gemeinde der Erstlinge, die in den Himmeln aufgezeichnet sind, zu Gott,‘ dem Richter aller, zu den Geistern der vollendeten Gerechten und zu Jesus, dem Mittler des Neuen Bundes“ (Hebr 12, 22 ff.). Von diesem Tag an hat sie ein neues Leben begonnen. Ich spreche jetzt nicht von einer moralischen Bekeh­rung, die sich in ihr vollzieht; ob sie den Antrieb fühlt oder nicht (so gewiß wir das annehmen), sich in ihrem Handeln nach dem Geschauten zu richten. Blicket nur auf den Wandel, der sich in ihren An­sichten und Wertungen der Dinge vollziehen muß, sobald sie das Wort Gottes gehört und den Glau­ben daran gewonnen hat, sobald sie einsieht, daß Reichtum und Berühmtheit, Einfluß und hoher Rang nicht die ersten Segnungen und nicht die wah­ren Maßstäbe des Guten sind – daß vielmehr Hei­ligkeit und all ihr Gefolge – heilige Reinheit, hei­lige Armut, heroische Tapferkeit und Geduld, Selbsthingabe zugunsten  anderer,  Weltverleug­nung, die Gunst des Himmels, der Schutz der En­gel, das Lächeln der seligen Jungfrau, die Gnaden­gaben, der Einbruch der Wunder, die Gemeinschaft der Verdienste -, daß dieses alles die hohen und kostbaren Dinge sind, die Dinge, die des Blickes wert sind, die Dinge, die Ehrfurcht erheischen. So können weltlich Denkende, auch die wohlhabend­sten, sofern sie katholisch sind, nicht dieselben sein – außer sie hätten ihren Glauben gänzlich ver­loren – wie Menschen, die außerhalb der Kirche stehen; sie haben eine instinktive Verehrung für jene, die die himmlischen Spuren an sich tragen und loben, was sie selbst nicht nachahmen. Menschen dieser Art haben eine Vorstellung vor Augen, die einer protestantischen Nation fehlt: sie haben die Vorstellung von einem Heiligen; sie ha­ben den Glauben an die Existenz, sie erfassen die Wirklichkeit der Existenz jener seltenen Diener Gottes, die in der katholischen Kirche von Zeit zu Zeit aufstehen wie Engel in Verkleidung und die ein Licht um sich herum verbreiten, indes sie ihren Weg himmelwärts schreiten. Vielleicht bleibt das Tun solcher Katholiken hinter dem zurück, was recht und gut ist, aber sie wissen, was wahr ist; sie wissen, was sie denken, wissen, wie sie urteilen müßten. Sie haben einen Maßstab für ihre Lebens­grundsätze, und es ist das Vorbild und das Beispiel der Heiligen, nach dem sie ihn bemessen können. Ein Heiliger kommt zur Welt wie jeder andere auch, von Natur aus ein Kind des Zornes, aber zur Wiedergeburt der Gnade Gottes bedürftig. Er wird getauft, wie jeder andere auch; wie jedes an­dere Kind liegt er hilflos und ohne den Gebrauch der Sinne da, und wie jedes andere Kind gelangt er zu den Jahren der Unterscheidung. Bald aber begin­nen seine Eltern und die Nachbarn zu sagen: „Ein merkwürdiges Kind, anders als die anderen Kin­der.“ Seine Geschwister und Spielkameraden haben ihm gegenüber eine Scheu, ohne zu wissen warum; sie haben ihn gern und nicht gern; wahrscheinlich lieben sie ihn sehr trotz seiner Eigenheit, vielleicht aber ist es mehr Respekt als Liebe. Käme aber ein heiliger Priester dazu oder andere, die Gott schon lange in Gebet und Gehorsam gedient haben, diese würden sagen: „Das ist wahrhaftig ein wunder­sames Kind, dieses Kind verspricht, ein Heiliger zu werden.“ Und so wächst der Heilige heran, ganz gleich ob er anfänglich von seinen Eltern gebührend geschätzt wird oder nicht; denn so ist es bei jegli­cher Größe, daß sie, eben weil sie groß ist, von den gewöhnlichen Geistern nicht sofort erfaßt werden kann; Zeit, Abstand und Überlegung sind für den Beschauer erforderlich, damit er sie überhaupt er­kenne, und deshalb offenbart dieser besondere Erbe der Herrlichkeit, von dem ich rede, eine Zeit­lang wenigstens keine sehr bestimmte Auffällig­keit, außer es begebe sich von Zeit zu Zeit (wie es manchmal geschieht) etwas Wunderbares, das ihn hervorhebt. Er ist zum Gebrauch der Vernunft ge­kommen, und, wie wunderbar, er ist nie in Sünde gefallen. Andere Kinder beginnen den Gebrauch des Verstandes damit, daß sie ihn mißbrauchen; sie verstehen, was recht ist, aber nur, um dagegen zu han­deln. Anders bei ihm-nicht als sündigte er nicht in vielen Dingen, wenn wir ihn dem erhabenen Strahl der göttlichen Reinheit aussetzen, aber er sündigt nicht freiwillig oder schwer – er ist vor schwerer Sünde bewahrt geblieben, er trennt sich nie von Gott durch eine Sünde, oder ist vielleicht doch nur bisweilen oder auch nie das Opfer einer freiwilli­gen Sünde geworden, sei sie auch noch so leicht, ja er geht der Gelegenheit zur Sünde aus dem Wege und widersteht der Versuchung. Er lebt immerfort in der Gegenwart Gottes und wird dadurch vor dem Bösen bewahrt, denn „der Böse rührt ihn nicht an“ (1 Joh 5,18J. Auch unterscheidet er sich nicht notwendig von den anderen Kindern, mindestens nicht in anderen oder gewöhnlichen Dingen; er mag unwissend sein, gedankenlos, unbekümmert um die Zukunft, vorschnell, stürmisch; er ist ein Kind und hat die Schwächen, Fehler, Ängste und Hoffnungen des Kindes. Er mag die Re­gung des Zornes fühlen, ein vorschnelles Wort sagen, seine Eltern beleidigen, er mag hitzig und launisch sein und noch ohne feste Anschau­ungen, wie die Erwachsenen sie haben. Das zuge­geben besagt nicht viel; solche Dinge sind Zufäl­ligkeiten und sind vereinbar mit dem Vorhanden­sein eines bestimmten Einflusses der Gnade, die sein Herz mit Gott verbindet. Wären doch die mei­sten Menschen in ihrer besten Zeit so fromm wie die Heiligen in ihren schlechtesten! Dabei kann es Heilige gegeben haben, die sogar vor den eben genannten Unvollkommenheiten bewahrt geblieben sind. Es hat Heilige gegeben, deren Verstand die alles vermögende Gnade Gottes schon gleich von der Taufe an so wunderbar geöffnet zu haben scheint, daß sie ihrem Herrn und Heiland „ein lebendiges, heiliges und wohlgefälliges Opfer“, einen „vernünftigen Dienst“ bereits in ihrer Kind­heit dargebracht haben (Rom 12,1). Gleichwohl sind alle Akte der Schwäche und Sünde bei dem Kind, wie ich sie mir vorstelle, nur Ausnahmen in seinem täglichen Dasein; der Lauf eines jeden Ta­ges ist fromm. Während andere Kinder leichtsinnig sind und ihre Gedanken beim Gebet nicht sammeln können, sind ihm Gebet, Lobpreis und Besinnung Speise und Trank. Es begibt sich öfters in die Kirche und sucht das Allerheiligste auf; man sieht es vor einem Heiligenbild knien; es schaut die selige Jungfrau oder die Heiligen, zu denen es Ver­ehrung hat. Es lebt in inniger Freundschaft mit seinem Schutzengel und schreckt schon vor dem Schatten von Weltsinn und Unreinheit zurück. Und so wird es zum besonderen Zeugen der unsichtba­ren Welt und füllt die Leere jener Vorstellungen und Träume vom Übernatürlichen aus, wie man sie in Gedichten oder Erzählungen finden kann, die es Jugendlichen so sehr angetan haben und zu de­nen sie sich, noch ehe die Welt sie verdirbt, un­widerstehlich hingezogen fühlen. Das Kind wächst heran und hat genau dieselben Versuchungen, vielleicht sogar stärkere als die ande­ren. Menschen von dieser Welt, fleischlich gesinnte, ungläubige Menschen glauben nicht, daß die Ver­suchungen, die sie selber befallen und denen sie nachgeben, überwindbar sind. Sie vernünfteln sich in die Auffassung hinein, daß schon ihre Natur zur Sünde treibe und daß demnach das Sündigen kein Fehler sei: das heißt, sie leugnen die Existenz der Sünde. Und wenn sie dann von den Heiligen oder heiligmäßigen Menschen im allgemeinen lesen, dann ziehen sie infolgedessen den Schluß, daß diese entweder keine solchen Versuchungen hatten, wie sie ihnen begegnet sind, oder daß sie sie auch nicht überwunden hätten. Entweder sehen sie einen solchen als einen Heuchler an, der im privaten die Sünden begeht, die er öffentlich leugnet, oder, falls sie den Anstand haben, solche Verleumdungen zu vermeiden, vertreten sie die Ansicht, daß er die Versuchungen noch nie an sich erfahren habe, und sehen ihn als einen kalten und simplen Menschen an, der nie über seine Kindheit hinausgewachsen sei, der engen Geistes sei und Welt und Leben nie kennengelernt habe, der verachtenswert sei, so­lange er noch keinen Einfluß besitze, und gefähr­lich und verabscheuungswürdig wegen seiner Un­wissenheit, wenn er zu Macht oder Einfluß gekom­men ist. Nein, meine Brüder, lest nur das Leben der Heiligen, und ihr werdet sehen, wie falsch und eng solch ein Standpunkt ist. Diese Menschen, die wahrhaftig meinen, sie wüßten so gut Bescheid über die Welt und so gründlich Bescheid über die Natur des Menschen, sie wissen nichts von dem einen großen, weitreichenden Phänomen im Men­schen: von der Menschennatur, wenn sie unter der Wirksamkeit der Gnade steht; sie wissen nichts von der zweiten Natur, von der übernatürlichen Gnade, die durch den allmächtigen Geist über die erste, gefallene Natur hereinbricht; sie haben den Heiligen noch nie getroffen, nie über ihn gelesen und sich nie einen Begriff von ihm gebildet. Der Heilige hat, wie gesagt, dieselben Versuchun­gen wie die anderen; vielleicht größere, denn er soll ja wie im Feuerofen erprobt werden, weil er reich werden soll an Verdiensten, weil eine strahlende Krone für ihn im Himmel aufbewahrt ist; er hat seine Versuchungen und unterscheidet sich von den anderen nicht darin, daß er vor ihnen bewahrt bleibt, sondern daß er gegen sie gewapp­net ist. Die Gnade besiegt die Natur; sie besiegt sie freilich nur in all denen, die gerettet werden; kei­ner wird Gottes Antlitz drüben schauen, der nicht hienieden die schwere Sünde jeder Art von sich ge­wiesen hat; aber die Heiligen siegen mit einer Ent­schlossenheit und einer Kraft, einer Willigkeit und einem Erfolg, wie sie keinem anderen zukommen. In den Lebensbeschreibungen der Heiligen lest ihr, meine Brüder, die wunderbaren Berichte ihrer Kämpfe und ihrer Triumphe über den Feind. Sie sind, wie gesagt, wie die Helden in den Erzählun­gen – so gefällig, so vornehm, so königlich ist ihr Gehaben. Ihre Handlungen sind so schön wie die im Roman, aber zugleich so wirklich wie Tatsa­chen. Da ist der heilige Benedikt, der schon als Knabe Rom verließ und sich in die benachbarten Apenninen begab. Drei Jahre lebte er dort in Ge­bet, Fasten und Einsamkeit, indes der Böse ihm mit der Versuchung zusetzte. Als sie eines Tages so hef­tig wurde, daß er fürchtete, sie nicht mehr aushalten zu können, warf er sich in seinem dünnen Eremitenrock in die Dornen und in das Gestrüpp und lenkte so den Strom der Gedanken ab und kasteite das wankelmütige Fleisch durch den Schmerz der Stiche und Wunden. Da ist der heilige Thomas, der engelgleiche Doktor, wie man ihn nennt, gleich hei­lig und gelehrt oder vielmehr um so gelehrter in der theologischen Wissenschaft, je heiliger er war. „Schon von Jugend auf strebte er nach Weisheit, hob zur Höhe seine Hände und lenkte seine Seele zu ihr hin und gab sie seinem Herzen gleich von Anfang zum Besitz“ (Sir 51, 20. 26-28). Als nun einmal der Satansknecht sich sogar in seine Zelle wagte, und keine andere Waffe zur Hand war, er­griff er ein brennendes Scheit aus dem Herd und vertrieb den Bösen erschreckt und besiegt aus sei­ner Nähe. Da ist jener arme Junge aus der ersten Zeit der Verfolgung, den die gottlosen Heiden mit Stricken fesselten und dem Anblick des Bösen sinn­fällig gegenüberstellten; er aber biß sich in seiner Qual die Zunge ab und spie sie der Versucherin ins Gesicht, damit die Stärke des Schmerzes ihn vor der Verführung bewahre.

Taten wie diese, meine Brüder, eröffnen den Him­mel und sind ein plötzliches Aufleuchten überna­türlicher Herrlichkeit am Dunkel des Himmels. Sie weiten unseren Geist mit Vorstellungen, die er zu­vor nicht hatte, und zeigen der Menge, was Gott tun kann und was der Mensch sein kann. Ohne Zweifel waren nicht alle Heiligen so in ihrer Ju­gend; denn es gibt im Gegenteil auch solche, die erst nach einer sündhaften Jugend durch die er­habene Gnade Gottes zur Umkehr gekommen sind, die aber, einmal bekehrt, sich in nichts unterschei­den von denen, die Ihm stets gedient haben – nicht in der Größe ihrer Gaben, nicht in der Wohlgefälligkeit vor Gott, nicht in Weltverachtung oder in der Verbundenheit mit Christus, noch in der Treue, mit der sie gehorchten, in nichts außer in der Strenge ihrer Buße. Andere sind zu heroischer Größe berufen worden nicht aus einem Leben in Laster und Gottlosigkeit, sondern aus einem Leben der üblichen Untadelhaftigkeit oder aus einem Zu­stand der Lauheit oder aus der Oberflächlichkeit – und diese haben Ländereien und Besitztum, Ehren, Stellungen und Ansehen dahingegeben um Christi willen. Könige sind von ihrem Thron her abgestiegen, Bischöfe haben Rang und Einfluß darangegeben, Gelehrte haben den Stolz ihres Gei­stes hingeopfert, um arme Mönche zu werden, um von roher Nahrung zu leben, um sich in demütige Trauerkleider zu hüllen, um aufzustehen und zu beten, während andere noch schliefen, um ihre Zunge durch Schweigsamkeit, um ihre Glieder durch mühsame Arbeit abzutöten und um sich einem unbedingten Gehorsam einem anderen ge­genüber zu weihen. In der Frühzeit waren es die Märtyrer, viele von ihnen noch Kinder, sogar Mädchen, die eher die grausamsten, ausgedehnte­sten und mannigfaltigsten Torturen aushielten, als daß sie den Glauben an Christus verleugnet hätten. Dann kamen die Heidenmissionare, die sich aus Liebe zu den Seelen mitten unter die Wilden stürzten und ihr Leben aufs Spiel setzten oder gar hinopferten bei dem Versuch, das Reich ihres Herrn und Heilandes zu verbreiten, und de­nen es, lebend oder sterbend, durch ihr Leben oder ihren Tod gelang, ganze Nationen für die Kirche zu gewinnen. Andere haben sich in Zeiten des Krie­ges und der Gefangenschaft dem Loskauf der christlichen Sklaven aus der Hand heidnischer oder mohammedanischer Herren oder Eroberer gewid­met; andere der Pflege der Kranken zu Pestzeiten oder in Krankenhäusern; andere der Unterweisung der Armen, andere der Erziehung der Jugend, wie­der andere der unermüdlichen Arbeit auf der Kan­zel und im Beichtstuhl, andere widmeten sich from­men Studien oder der Meditation, andere einem Leben der Fürbitte und des Gebetes. Gar mannig­faltig sind die Heiligen, und gerade ihre Mannig­faltigkeit ist ein Zeichen für die Meisterschaft Got­tes; so mannigfaltig sie aber sind und so vielfältig die besondere Richtung ihrer Pflichterfüllung sein mag, sie waren Helden hierin. Sie gelangten zu solch edler Selbstbeherrschung, sie haben ihr Fleisch derart gekreuzigt und die Welt derart verleugnet, sie sind so mild, so edel, so zartfühlend, so mitlei­dig, so gütig, so heiter, so voll des Gebetsgeistes, so eifrig, so versöhnlich, sie haben solch große und langwierige Schmerzen erduldet, haben in so ge­waltigen Mühsalen durchgehalten, haben solch heldenmütige Bekenntnisse abgelegt, sie haben solch ein Übermaß an Wundern gewirkt, sie wur­den mit solch seltenen Erfolgen gesegnet, daß sie zum Werkzeug wurden, um für uns eine Norm der Wahrheit, der Großherzigkeit, der Heiligkeit und der Liebe darzustellen. Sie sind nicht immer unsere Vorbilder, wir sind nicht immer gehalten, ihnen zu folgen; nicht stärker als wir verpflichtet sind, einige Vorschriften unseres Herrn buchstäblich zu erfül­len, wie zum Beispiel jene, die Wange herzurei­chen oder den Mantel herzugeben; nicht mehr als wir dem Lauf der Sonne, des Mondes oder der Sterne am Himmel folgen können. Doch obschon sie nicht immer unser Beispiel sind, so sind sie stets für uns die Norm für Recht und Gut; sie sind für uns als ein Denkmal aufgestellt und uns als Lehr­stück gegeben. Sie erinnern uns an Gott, sie führen uns in die unsichtbare Welt, sie lehren uns das, was Christus liebt, sie treten für uns den Weg aus, der himmelan führt. Sie sind für uns, die wir sie sehen, das, was Reichtum, Berühmtheit, Rang und Name für die Masse der Menschen sind, die im Dunkel leben – Gegenstand unserer Verehrung und unserer Huldigung.

Wer kann über diese beiden Dinge einen Zweifel hegen? Unsere Staatsreligion hat viele Anziehungspunkte; sie führt zu Anständigkeit und Ordnung, zu Schicklichkeit in der Haltung, zu Gerechtigkeit im Denken, zu edlem Hausgeschmack; aber sie hat keine Kraft, die Menge nach oben zu führen und ihr das himmlische Jerusalem vor Augen zu stel­len. Sie kommt aus der reinen Natur und ihre Lehre stammt aus der Natur. Natürlich bedient sie sich religiöser Worte, sonst ließe sie sich nicht Re­ligion nennen; aber das Übernatürliche kann sie weder der Vorstellungskraft mitteilen, noch ins Herz einprägen, noch dem Gewissen nahebringen; sie kann dem populären Denken keine großen Ge­danken verleihen, die von jedem und von allen an­erkannt werden als Allgemeingut und als Grund­prinzipien oder Dogmen, die einen Ausgangspunkt bilden, die man allseits als selbstverständlich an­nimmt und die von Jahrhundert zu Jahrhundert als Bilder und Beispiele für die ewige Wahrheit weitergeleitet werden. Sie legt in keinem wahren Sinn Gewicht auf das Unsichtbare; und als Folge davon werden die Schauseiten dieser Welt, mate­riell wahrnehmbare Gegenstände, zu Idolen und zum Ruin ihrer Kinder, von Seelen, die für Gott und den Himmel geschaffen wurden. Sie ist macht­los, der Welt und der Lehre der Welt zu wider­stehen; sie vermag nicht den Irrtum durch die Wahrheit zu ersetzen; sie hinkt nach, wo sie führen sollte. Es gibt nur einen wirklichen Gegenspieler gegen die Welt und das ist der Glaube der Ka­tholiken; Christus hat diesen Glauben aufgestellt, und der Glaube wird sein Werk auf Erden voll­bringen, wie er es schon immer getan hat, bis Er wiederkommt.

5. Vortrag: Predigten vor Katholiken und Anderslgäubigen. (Discourses to Mixed Congregations), Schwabenverlag Stuttgart 1964, pp. 99-120.