Gleichmut

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22. Dezember 1839

„Freuet euch allezeit im Herrn, und wiederum sage ich, freuet euch“ (Phil 4,4).

An anderen Stellen der Schrift wird die Er­wartung der Wiederkunft Christi als ein Grund zu ernster Furcht und Scheu und als ein Aufruf zum Wachen und Beten bezeichnet, in den mit dem Vorspruch verknüpften Versen hingegen wird uns eine andere Seite der christlichen Haltung vor Augen gestellt und werden uns andere Pflichten auferlegt. „Der Herr ist nahe“, und was nun? – Nun, wenn dem so ist, dann müssen wir „uns freuen im Herrn“; müssen uns auszeichnen durch „Mäßigung“; dann dürfen wir nicht „ängstlich be­sorgt sein“; müssen von Gottes Güte und nicht von Menschen erbitten, was immer wir brauchen; müssen überfließen in „Danksagung“; und müssen pflegen oder vielmehr erbitten und werden er­langen von oben „den Frieden Gottes, der jeden Begriff übersteigt“, „unsere Herzen und unsere Gedanken zu bewahren durch Christus Jesus“. Dies nun ist eine Sicht christlicher Haltung, die klar und vollständig genug ist, um eine Deutung zu ermöglichen. So mag es von Nutzen sein nach­zuweisen, daß der Gedanke an den kommenden Christus nicht nur zur Furcht führt, sondern auch zu einer ruhigen und heiteren Geisteshaltung. Nichts ist wohl beachtenswerter, als daß ein Apostel, – ein Mann der Arbeit und des Blutes[1], ein Kämp­fer gegen unsichtbare Mächte und ein Schauspiel für Menschen und Engel, mehr noch, ein Mann wie Paulus, dessen natürliche Anlage so feurig, ernst und heftig war, – ich meine, nichts ist auffallen­der und bezeichnender, als daß der heilige Paulus uns diese Charakterisierung eines Christen gegeben haben soll. Es wäre nicht zu verwundern, es ist nicht zu verwundern, wenn ein Schriftsteller von heutzutage von Frieden, Ruhe, Besonnenheit und Heiterkeit spricht als von der Seelenstimmung, die einem Christen ziemt. Aber wenn wir bedenken, daß der heilige Paulus von Geburt ein Jude und durch Erziehung ein Pharisäer war, daß er zu einer Zeit schrieb, da die Christen mehr denn je sich in heftiger und unausgesetzter geistiger Erregung befanden; da es Verfolgungen und Gerüchte von Verfolgungen in Überfülle gab; da alles um sie in Unruhe zu sein schien; da nichts seine feste Ordnung hatte; da es keine Kirchen gab, die sie trösten, keinen regelmäßigen Gottesdienst, der ihr Herz beruhigen, kein Heim, das sie erquicken konnte; und wenn wir ferner bedenken, daß das Evangelium voll ist von hohen und edlen, und wenn man so sagen darf, gar ritterlichen Grund­sätzen und Beweggründen und tiefen Geheim­nissen; und wenn wir dazu bedenken, daß gerade das Thema, das der Apostel mit seinen Ermahnungen verbindet, jenes furchtbare Ereignis, näm­lich die Wiederkunft Christi ist, dann ist es wohl der Beachtung wert, daß er in einer solchen Zeit, unter einer solchen Heilsordnung und mit einer solchen Zukunft vor Augen ein Bild christlicher Haltung entwirft, das nichts weiß von Erregung und Kampf, das so voll ist von Ruhe, so still und so gelassen, als hätte der große Apostel in einem abgeschiedenen Kloster oder in einem ländlichen Pfarrhaus geschrieben. Hier zeigt sich sicherlich der Finger Gottes; hier liegt der Beweis für über­natürliche Einflüsse, die den menschlichen Geist von der Umwelt unabhängig machen. Das ist der Gedanke, der sich also zuerst aufdrängt. Der zweite ist der: wie tief und lauter ist doch der echte christ­liche Geist – wie schwer, in ihn einzudringen, wie groß zu umfassen, wie unmöglich auszuschöpfen. Wer würde solch eine Haltung und solch einen Gleichmut von dem feurigen Apostel der Heiden erwarten? Wir wissen, daß Paulus Großes voll­bringen, leiden und wirken, predigen und beken­nen, hoch und schlicht sein konnte; aber wir hätten glauben mögen, dieses alles sei im Lichte seiner Auffassung die Grenze und die Vollendung der christlichen Haltung, und es bleibe in ihm selbst kein Raum mehr für die Gefühle, die wir auf Grund des Vorspruches und der folgenden Verse ihm zuschreiben müssen.

Und doch ist er, der „mehr arbeitete als alle“ seine Brüder (1 Kor 15,10), auch ein Beispiel der Ein­fachheit, Sanftmut, des Frohsinns, der Dankbarkeit und Heiterkeit des Geistes. Diese Haltungen waren für den heiligen Paulus besonders charakteristisch und sind auch in seinen Briefen stark hervorgeho­ben. Zum Beispiel: „Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern lasset euch herab zu Menschen niedrigen Standes. Haltet euch nicht selbst für klug … Befleißet euch des Guten vor allen Men­schen. Wenn es möglich ist, so habt, so viel an euch liegt, Frieden mit allen Menschen“ (Röm 12,16-18). Er verlangt, daß „Greise nüchtern, ernst, klug, gesund im Glauben, in der Liebe, in der Geduld seien“. „Die älteren Frauen desgleichen … nicht verleumderisch, nicht dem Wein ergeben, Muster alles Guten, damit sie die jungen Frauen belehren können, besonnen zu sein, ihre Männer und ihre Kinder zu lieben, klug, keusch, häuslich und gütig zu sein, ihren Männern gehorsam“ (Tit 2, 2-6); und daß „die jungen Männer maßvoll seien“ Auch ist es bedeutsam, daß er diese Ermahnung schließt mit der Betonung des gleichen Grundes, der im Vers nach dem Vorspruch angegeben ist: „Indem wir erwarten die selige Hoffnung und die Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Got­tes und Heilandes, Jesus Christus“ (Tit 2,13). Gleicherweise sagt er, daß die Diener Christi „Reinheit der Lehre, Würde, Aufrichtigkeit, ge­sunde Worte, die nicht verurteilt werden können“, zeigen müssen (Tit 2,7.8); daß sie „untadelig, nicht eigenwillig, nicht zornmütig seien, … den Guten in Liebe zugetan, besonnen, gerecht, heilig und enthaltsam“ (Tit 1,7.8). Alles das schildert einen scheinbar fast gewöhnlichen Charakter; ich meine, einen so stetigen, so ruhigen, so anspruchslosen, so schlichten. Er offenbart so wenig Auffallendes oder Außerordentliches. Er ist so weltvergessen, so gelassen und so aufrichtig.

Beachtenswert ist auch, daß der Prophet Isaias diese Haltung als das Merkmal der christlichen Zeiten voraussagte: „Der Gerechtigkeit Wirkung ist Friede, der Gerechtigkeit Frucht Ruhe und Sicherheit auf ewig. Dann wohnet mein Volk in der Schöne des Friedens, in sicheren Hütten, in überschwenglicher Ruhe“ (Is 32, 17.18).

Wir wollen nun also mehr im einzelnen erwägen, was das für eine Geisteshaltung ist und welches ihr Fundament. Es scheint folgendes zu sein: – der Herr ist nahe; hienieden ist eure Ruhe nicht; eure Heimat ist nicht hier. Handelt daher wie Leute, die nicht in ihrem Eigentum wohnen; die nicht in ihrem eigenen Hause sind; die nicht ihr eigenes Hab und Gut und ihre Einrichtung um sich haben; die folglich sich mit allem behelfen und zufrieden sind mit dem, was ihnen unter die Hände kommt und nicht nach Dingen trachten, die auf ihre Art die besten sein mögen. „Das jedoch sage ich, Brüder: Die Zeit ist kurz“ (1 Kor 7,29). Was liegt daran, was wir essen, was wir trinken, wie wir uns kleiden, wo wir wohnen, was man von uns denkt, was aus uns wird, da wir nicht daheim sind? Man spürt es jeden Tag, selbst in dieser Welt, daß wir, wenn wir die Heimat ver­lassen, eine Zeitlang unstet sind. Dieses ist nun das Empfinden, das der Glaube an Christi Wie­derkunft in uns hervorruft. Es ist nicht der- Mühe wert, uns hier auf die Dauer niederzulassen; es ist nicht der Mühe wert, Zeit und Gedanken an solch eine Sache zu verschwenden. Wir werden uns kaum eingerichtet haben, dann müssen wir wieder wei­terziehen.

Da dies offensichtlich der allgemeine Sinn der Schriftstelle ist, wollen wir im Folgenden auf ihre einzelnen Teile eingehen.

1. „Seid nicht ängstlich besorgt“, sagt er. Petrus sagt: „Alle eure Sorge werf et auf Ihn“ (1 Petr 5,7); Christus Selbst sagt: „Sorget nicht ängstlich“, oder bekümmert euch nicht „um den morgigen Tag, denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen“ (Mt 6, 31.34). Dies ist natürlich die Geistesverfas­sung, die sich direkt aus dem Glauben daran er­gibt, daß „der Herr nahe ist“. Wer würde sich heute irgendwie um Verlust oder Gewinn küm­mern, wenn er sicher wüßte, daß Christus morgen erschiene? Kein einziger. Gut denn, der echte Christ empfindet, wie er empfände, wenn er sicher wüßte, daß Christus morgen hier wäre. Denn er weiß ge­wiß, daß Christus zum mindesten zu ihm kommen wird, wenn er stirbt; und der Glaube nimmt den Tod voraus und handelt gerade so, wie wenn jener ferne Tag, wenn er wirklich fern ist, vorbei und vorüber wäre. Früher oder später wird Christus sicher kommen: und wenn Er schließlich gekommen ist, liegt nichts daran, wieviel an Zeit vor Seiner Ankunft verging; – wie lange diese Periode auch sein mag, sie hat ihr Ende. Das Gericht kommt, ob früher oder später, und der Christ ist sich bewußt, daß es kommt; d. h. die Zeit spielt bei seiner Be­rechnung keine Rolle, noch kommt sie seiner Sicht der Dinge in die Quere. Wenn man hofft, seine Pläne und Projekte ausführen zu können, dann kümmert man sich um sie; weiß man aber, daß nichts aus ihnen wird, dann gibt man sie auf oder verhält sich gleichgültig gegen sie. So geht es auch mit allen Vorahnungen, Ängsten, Verdrießlichkeiten, Leiden und Verbitterungen in dieser Welt. „Die Zeit ist kurz“ (1 Kor 7, 29). Bis­weilen hat man schon den guten Gedanken ange­regt als Beruhigungsmittel für den Geist, wenn er auf etwas erpicht oder aus irgendeinem Anlaß gereizt oder verärgert ist, sich die Frage vorzulegen: was wirst du von all dem ein Jahr später spüren? Es ist ganz klar, daß Dinge, die uns jetzt im höchsten Maße erregen, uns dann überhaupt nicht mehr interessieren; daß Pläne, die uns jetzt mit starker Hoffnung und Furcht erfüllen, uns dann nicht mehr bedeuten als Dinge, die sich am anderen Ende der Erde ereignen. So geht es mit allen menschlichen Hoffnungen, Befürchtungen, Freuden, Leiden, Eifersüchteleien, Enttäuschungen und Erfolgen, wenn der letzte Tag kommt. Sie haben kein Leben in sich; sie sind wie die ver­welkten Blumen eines Banketts, die uns nur an­grinsen. Oder wenn wir auf dem Sterbebett liegen, was nützt es uns, reich oder groß oder glücklich oder einflußreich gewesen zu sein? Alles ist dann Eitelkeit. Nun, was alle von dieser Welt in jenem Augenblick halten, das ist die Haltung des Christen schon jetzt. Er schaut auf die Dinge, wie er einst auf sie schauen wird, mit uninteressiertem und gelassenem Blick, und die Zufälligkeiten des Le­bens können ihn weder besonders schmerzen noch freuen, weil sie Zufälligkeiten sind.

2. Eine andere Seite dieser eben besprochenen Hal­tung ist das, was unsere Bibelübersetzung Mäßi­gung nennt; „eure Mäßigung werde allen Men­schen kund“ (Phil 4,5), oder wie es genauer wieder­gegeben werden kann, eure Rücksichtnahme, eure Freundlichkeit oder euer Gleichmut. Nach dem heiligen Paulus gehört es zur Haltung eines Chri­sten, im Ruf der Ehrlichkeit, Gelassenheit und der Feinfühligkeit gegen andere zu stehen. Es ist wahr, sobald und in dem Maße wie jemand glaubt, daß Christus wiederkommt, und er seine eigene Stellung als die eines Fremdlings auf Erden erkennt, der nur für eine bestimmte Zeit eine Wohnstätte auf ihr gemietet hat, wird er sich dem Lauf der menschlichen Ereignisse gegenüber gleichgültig zeigen. Er vermag sie als Zuschauer zu betrachten, nicht als Mitspieler. Sie bedeuten ihm nichts. Er kann sie abwägen und ohne Parteilichkeit beur­teilen. Das ist gemeint mit: „unsere Mäßigung“ werde allen Menschen kund. Menschen, die in der einen oder anderen Richtung starke Interessen haben, können keine gelassenen Zuschauer und ehrlichen Richter sein. Sie sind parteiisch; sie ver­teidigen eine Gruppe von Leuten und greifen eine andere an. Sie hegen Vorurteile gegen jene, die nicht mit ihnen übereinstimmen oder die ihnen im Wege stehen. Sie können keine Zugeständnisse machen noch Mitgefühl für sie an den Tag legen. Der Christ aber kennt keine gespannten Erwar­tungen, keine bitteren Verdrießlichkeiten. Er ist gerecht, gleichmütig, rücksichtsvoll gegen alle, denn er ist nicht versucht, anders zu sein. Er kennt keine Gewalttätigkeit, keine Feindseligkeit, keinen blin­den Eifer, keine Parteilichkeit. Er weiß, daß sein Herr und Heiland triumphieren muß; er weiß, daß Er eines Tages vom Himmel kommen wird, und niemand kann sagen, wie bald. Da er also das Ziel kennt, auf das alle Dinge hinstreben, kümmert er sich weniger um den Weg, der zu ihm hinführt. Wenn wir einen Roman lesen, hält uns der Gang der Erzählung so lange in Spannung, bis wir wissen, wie sie ausgeht; aber sobald wir das wissen, hört das Interesse auf. So geht es beim Christen. Er weiß, daß der Kampf Christi bis zum Ende dauert; daß Christi Sache am Ende triumphiert; daß Seine Kirche bestehen wird, bis Er kommt. Er weiß, was Wahrheit und was Irrtum ist, wo Sicher­heit und wo Gefahr ist; und diese ganz klare Erkenntnis befähigt ihn, Zugeständnisse zu machen, Schwierigkeiten einzugestehen, Gerechtigkeit gegen die Irrenden zu üben, ihre guten Seiten anzuer­kennen, mit der mehr oder weniger guten Be­handlung zufrieden zu sein, wie er sie selbst von anderen erfährt. Er fürchtet sich nicht; die Furcht nämlich macht den Menschen blind, gewalttätig und fanatisch; aber wie es das Vorrecht des Christen ist, über Hoffnung und Furcht, Zweifel und Eifer­sucht erhaben zu sein, so muß er auch geduldig, ruhig, einsichtig und unparteiisch sein; – und zwar derart, daß gerade diese Freundlichkeit seinen Charakter in den Augen der Welt kennzeichnet, „allen Menschen kund“ ist.

3. Freude und Fröhlichkeit sind ebenfalls Grund­züge des Christen gemäß der Mahnung im Vor­spruch, „freuet euch allezeit im Herrn“, und dies trotz der schauervollen Angst, die der Gedanke an den Jüngsten Tag in ihm hervorrufen sollte. Ge­rade mittels dieser starken Gegensätze drückt die Schrift aus, welches die wirkliche Bedeutung ihrer verschiedenen Teile ist. Wenn uns nur geboten wäre, uns zu fürchten, dann hätten wir sklavische Furcht oder düstere Verzweiflung mit Gottesfurcht verwechselt; und wenn uns nur geboten wäre, uns zu freuen, hätten wir vielleicht zügellose Freiheit und Vertraulichkeit mit Freude verwechselt; wenn wir aber geheißen sind, uns zu fürchten wie auch uns zu freuen, gewinnen wir so viel auf den ersten Blick, daß unsere Freude nicht unehrerbietig, noch unsere Furcht kleinmütig werde; daß keines der beiden Gefühle das wird, was es für sich allein wäre, obgleich beide bleiben müssen. Das ist es, was wir bei solchen Gegensätzen sofort erkennen. Ich behaupte nicht, daß diese Tatsache es uns irgendwie leichter macht, die entsprechenden ein­zelnen Forderungen miteinander zu verbinden; das ist eine weitere und schwierigere Aufgabe; aber so viel gewinnen wir unmittelbar davon, nämlich eine bessere Erkenntnis der einzelnen Forderungen. Und nun spreche ich von der Verpflichtung zur Freude, und ich behaupte, wie groß auch das Ge­heiß, sich zu fürchten und zu zittern bei dem Ge­danken an den Tag des Gerichtes, sein mag, und natürlich ist es ein ernstes Geheiß, so kann doch dieses Gebot das Gebot, sich zu freuen, nicht auf­heben; es kann ihm nur soweit ins Gehege kom­men, als es erklärt, was mit „Freude“ gemeint ist. Die Pflicht, in der Erwartung der Ankunft Christi uns zu freuen, würde auch dann noch gelten, wenn es keine Mahnung gäbe, uns davor zu fürchten. Das Geheiß, uns zu fürchten, vervollkommnet nur unsere Freude; jene Freude allein ist echt christ­liche Freude, die von der Furcht geformt und belebt ist und dadurch nüchtern und ehrfürchtig wird.

Wie Freude und Furcht zusammengehen, das kön­nen Worte nicht zeigen. Handlungen und Taten allein vermögen es. Es möge einer nur versuchen, nach den Worten Christi und Seiner Apostel sich zu fürchten und sich zugleich zu freuen, und mit der Zeit wird er das Wie lernen; aber hat er es gelernt, wird er so wenig wie zuvor erklären kön­nen, wie ihm beides möglich ist. Er ist scheinbar nicht konsequent, und man kann leicht beweisen, daß dem so ist, zur Zufriedenheit ungläubiger Menschen, wie ja auch die Schrift als nicht folge­richtig bezeichnet wird. Er wird zum Widerspruch, wie die Schrift es verlangt. Dies trifft verschiedent­lich auf Menschen von fortgeschrittener Heiligkeit zu. Sie werden der gegensätzlichsten Fehler beschuldigt: sie seien stolz und doch anspruchslos; allzu einfältig und doch verschlagen; sie hätten ein zu enges und zugleich ein zu weites Gewissen; sie seien zurückgezogen und doch weltlich; sie hingen bei der Erklärung zu sehr am Buchstaben der Schrift und machten doch Zusätze zur Schrift, ja schalteten die Schrift aus Weltmenschen oder Leute von geringerer Religiosität können sie nicht ver­stehen und lieben es, jene zu kritisieren, die schein­bar nicht konsequent sind, aber doch nur nach der Lehre der Schrift leben.

Kehren wir jedoch zu der Frage von Freude und Furcht zurück. Man kann einwenden, daß zum mindesten jene, die in Sünde fallen oder in frühe­ren Zeiten schwer gesündigt haben, nicht diese freudige und heitere Haltung haben können, die der heilige Paulus verlangt. Ich gebe es zu. Aber was heißt das anderes als sagen, der heilige Paulus gebiete uns, nicht in Sünde zu fallen? Wie Paulus uns vor Traurigkeit und Schwermut warnt, so warnt er uns natürlich vor jenen Dingen, die den Menschen traurig und schwermütig machen; und daher hauptsächlich vor der Sünde, die ein beson­derer Feind der Fröhlichkeit ist. Es ist nicht so, daß Trauer ob der Sünde schlecht ist, wenn wir gesündigt haben, sondern das Sündigen ist ver­kehrt, das die Trauer verursacht. Hat jemand gesündigt, kann er nichts Besseres tun als darüber trauern. Er soll trauern; insofern er trauert, ist er gewiß nicht im vollkommenen Zustand eines Chri­sten; aber es ist seine Sünde, die diesen verwirkt hat. Und doch ist selbst hier Trauer nicht unverein­bar mit Freude. Denn es gibt wenige Menschen, die es wirklich ernst nehmen in ihrer Trauer, und erst nach einer gewissen Zeit vermögen sie, ihres Ernstes sich bewußt zu werden; und wenn nun jemand weiß, daß er es ernst nimmt, weiß er auch, daß Gott voll Erbarmen auf ihn sieht; und dies gibt ihm hinreichenden Grund zur Freude, auch wenn die Furcht bleibt. Der heilige Petrus konnte an Christus appellieren: „Herr, Du weißt alles; Du weißt, daß ich Dich liebe“ (Joh 21,17). Wir natürlich können nicht so vorbehaltlos appellieren – immer­hin können wir furchtsam appellieren -, wir können sagen, wir hofften demütig, daß wir, wie groß auch unsere vergangenen Sünden und unsere jetzige Selbstverleugnung sein mögen, doch im Grunde wünschen und uns abmühen, die Welt aufzugeben und Christus zu folgen; und in dem Maße, wie dieser aufrichtige Sinn unseren Geist beherrscht, im selben Grad werden wir uns freuen im Herrn, auch während wir uns fürchten.

4. Weiter, auch der Friede ist ein Teil dieser gleichen Haltung. „Der Friede Gottes“, sagt der Apostel, „der jeden Begriff übersteigt, bewahre eure Herzen und eure Gedanken in Christus Jesus“ (Phil 4,7). Es gibt vieles im Evangelium, was uns beunruhigen, vieles, was uns aufrütteln, vieles, was uns erschüt­tern soll, aber Ende und Ausgang alles dessen ist Friede. „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden“ (Lk 2,14). Man kann allerdings fragen, ob nicht Kampf, Unruhe und Ungewißheit das Los des Christen hienieden seien; ob Paulus nicht selber sage, daß er „in Sorge“ oder in Angst „um alle Kirchen“ sei (2 Kor 11,28), und ob er nicht in seinen Briefen an die Galater und Korinther viele seelische Pein deutlich an den Tag lege und zugestehe? „Von außen erlitten wir Kampf, von innen Furcht“ (2 Kor 7,5). Ich gebe es zu; er offenbart gewiß bis­weilen eine große geistige Erregung; aber bedenket folgendes. Habt ihr je eine Wasserfläche gesehen und dabei die Kräuselungen auf der Oberfläche beobachtet? Glaubt ihr diese Unruhe dringe in die Tiefe? Ja, ihr habt furchtbare Unwetter auf dem Meer gesehen oder davon gehört; Szenen des Grauens und des Elends, die in keiner Hinsicht ein passendes Bild sind für die Tränen und Seufzer eines Apostels um seine Herde. Doch selbst diese heftigen Erschütterungen reichen nicht in die Tiefe. Der Grund des Ozeans, die weiten Reiche des Wassers, die die Erde umgürten, sind ebenso ruhig und lautlos im Sturm wie bei Windstille. So ist es bei den Seelen der Heiligen. Sie haben einen Quell des Friedens, der in ihnen unergründlich sprudelt; und obgleich die stündlichen Ereignisse sie erregt erscheinen lassen, sind sie es doch in ihrem Herzen nicht. Sogar Engel freuen sich über reumütige Sün­der und trauern, wie wir deshalb annehmen dürfen, über unbußfertige Sünder, – doch wer will be­haupten, daß sie nicht vollkommenen Frieden haben? Auch Gott Selbst würdigt Sich, zu reden von Seiner Trauer, Seinem Zorn und Seiner Freude, – ist Er jedoch nicht der Unveränderliche? Und ebenso hatte, um Menschliches mit Göttlichem zu sozusagen sich in sich selbst freuen, denn es ist die göttliche Gnade in ihm, die Gegenwart des ewigen Trösters, in denen er sich freut. Er kann es ertra­gen, er findet es angenehm, allezeit allein zu sein, – „nie weniger allein, als wenn er allein ist“. Er kann des Nachts sein Haupt aufs Kissen legen und mit überströmendem Herzen vor Gott bekennen, daß ihm nichts mangelt, daß er „genug und mehr als genug hat“ (Phil 4,18), daß Gott ihm alles ge­wesen ist und daß es nichts gibt, was Gott ihm nicht geben könnte. Er braucht zwar mehr Dank­barkeit, mehr Heiligkeit, mehr Himmlisches, aber der Gedanke, daß er mehr haben kann, ist kein betrübender, sondern ein freudiger Gedanke. Das Wissen, daß er Gott noch näher kommen kann, hindert nicht seinen Frieden. So sieht der Friede des Christen aus, wenn er mit schlichtem Herzen und dem Kreuz vor Augen an Den sich wendet und Dem sich empfiehlt, bei dem die Nacht so hell ist wie der Tag. Der heilige Paulus sagt: „Der Friede Gottes wird unsere Herzen und unsere Gedanken bewahren“; mit „Bewahren“ ist gemeint, unser Herz „beschützen“ oder „mit einem Wachtrupp versehen“, um gleichsam die Feinde abzuhalten. Und er spricht von unseren „Herzen und Ge­danken“ im Gegensatz dem, was die Welt an uns sieht. Viel Schlimmes mag man über einen Christen sagen und ihm antun, aber er besitzt ein verborgenes Schulz- oder Zaubermittel und darum achtet er nicht auf jenes.

Das sind ein paar Andeutungen über jene Geistes­haltung, die sich für die Jünger Dessen ziemt, der einst „aus einer reinen Jungfrau geboren“ wurde und der ihnen gebot, „wie neugeborene Kinder zu verlangen nach der unverfälschten Milch des Wortes, damit sie dadurch wachsen mögen“ (1 Petr 2,2), Der Christ ist heiter, zugänglich, freundlich, sanft, zuvorkommend, lauter, anspruchslos; erkennt keine Verstellung, keine Geziertheit, keinen Ehrgeiz, keine Eigenbrötelei; denn er hat bezüglich der Welt weder Hoffnung noch Furcht. Er ist ernst, nüchtern, ver­ständig, gesetzt, mäßig, mild, dabei aber so wenig ungewöhnlich oder auffallend in seinem Beneh­men, daß er auf den ersten Blick leicht als ein ge­wöhnlicher Mensch angesehen werden mag. Manche Leute glauben, Religion bestehe in Ekstasen oder wohlgesetzten Reden; – zu diesen gehört er nicht. Aber man muß anderseits zugeben, daß es eine Allerwelts-Geisteshaltung gibt, die sich ruhig, ge­lassen und lauter zeigt, jedoch sehr weit von wahrer christlicher Haltung entfernt ist. Besonders heut­zutage ist es für die Menschen sehr leicht, wohl­wollend, freigebig und leidenschaftslos zu sein. Es kostet nichts, leidenschaftlos zu sein, wenn man nichts fühlt, heiter zu sein, wenn man nichts zu fürchten hat, großmütig oder freigebig zu sein, wenn das, was man gibt, einem nicht zu eigen gehört, und wohlwollend und rücksichtsvoll zu sein, wenn man keinen Grundsatz und keine Überzeu­gung hat. Die Menschen sind heutigentags mäßig und ausgeglichen, nicht weil der Herr nahe ist, sondern weil sie nicht spüren, daß Er am Kommen ist. Ruhe ist eine Gnade, aber nicht in sich, sondern nur wenn sie aufgepfropft ist auf den Stamm des Glaubens, des Eifers, der Selbsterniedrigung und Bereitschaft.

Möge es uns beschieden sein, im Lauf der Jahre Gnade auf Gnade zu häufen und Stufe um Stufe emporzusteigen, ohne die tiefere zu übersehen, nachdem man die höhere erreicht hat, oder die höhere zu erstreben, bevor man die tiefere erreicht hat. Die erste Tugend ist der Glaube, die letzte die Liebe; zuerst kommt der Eifer, darnach kommt die Liebenswürdigkeit. Zuerst kommt die Verdemütigung, dann kommt der Friede; zuerst kommt die Bereitschaft, dann die Ergebung. Mögen wir alle Tugenden nach und nach in uns zur Reife bringen; – in Furcht und Zittern, wachend und büßend, weil Christus kommt; freudig, dankbar und unbekümmert um die Zukunft, weil Er schon da ist.

PPS V, 5 „Equanimity“, Dt. Übersetzung in: Deutsche Predigten, Bd. V, 5. 74-89.


[1] Anspielung auf David, 2 Sam 16.7 und 1 Chr 22,8.