Gerechtigkeit nicht aus uns, sondern in uns

Veröffentlicht in: Predigten | 0

19. Januar 1840

„Durch Ihn seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott zur Weisheit geworden ist, nämlich zur Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung; damit, wie geschrieben steht, wer sich rühmt, sich im Herrn rühme“

(1 Kor 1,30.31).

Der heilige Paulus ist bestrebt, in dem Kapi­tel, dem diese Worte entstammen, den Eigen­dünkel der Korinther zu demütigen. Sie hatten Gaben empfangen; sie vergaßen nicht, daß sie diese besaßen; sie gebrauchten, sie mißbrauchten sie; sie vergaßen, nicht daß sie diese besaßen, wohl aber, daß sie ihnen geschenkt worden waren. Sie glaubten offenbar, sie hätten ein Anrecht auf diese Gaben, weil sie Menschen mit größerer Geistesbildung waren als die anderen, mit höherer Erkenntnis, mit feinerer Gesittung. Korinth war ein reicher Ort; es war ein Ort, wo alle Nationen sich trafen und die Leute viel von der Welt sahen; und es war ein Ort der Wissenschaft und der Philosophie. Es hatte auch wirklich etwas Gutes an sich, was Athen nicht hatte. Die Weisen Athens hörten den Apostel und verachteten ihn, aber von Korinth sagte Christus Selbst zu ihm: „Ich habe viel Volk in dieser Stadt“ (Apg 18,10). Obwohl es Auserwählte Gottes in Korinth gab, so stellten sich doch an einem Ort mit so viel Ausschweifung und weltlicher Weisheit dem einfachen, demütigen Glau­ben so große Schwierigkeiten in den Weg, daß selbst die Auserwählten, wäre es möglich, hätten verführt werden können, – Schwierigkeiten, die bewirkten, daß die Geretteten nur „wie durch Feuer“ gerettet werden können (1 Kor 3,15). Ob­wohl der Apostel ihnen bei ihrer Bekehrung zwei­fellos eine klare Vorstellung von ihrer eigenen äußersten Nichtigkeit gegeben hatte, obwohl sie das auch zugestanden, empfanden sie doch nicht, daß ihre Gaben von Gott kamen (denn wir kön­nen kaum annehmen, daß sie auch noch in vielen Worten behaupteten, sie seien ihre eigenen). Sie schienen sie sozusagen zu beanspruchen oder we­nigstens ihren Besitz als eine Selbstverständlichkeit anzusehen; sie handelten, als wären sie ihr Eigen­tum, nicht mit Demut und Dankbarkeit gegen ihren Geber, nicht in verantwortungsvoller Ge­sinnung, nicht mit Furcht und Zittern, sondern als wären sie die Herren, als hätten sie unbeschränkte Macht, mit ihnen zu tun, was sie wollten, als könnten sie diese aus sich und für sich gebrauchen. Auch unsere körperlichen Kräfte und Glieder kom­men von Gott, aber sie sind so sehr Teile unseres ursprünglichen Gebildes oder (wenn ich so sagen darf) unseres Wesens, daß wir, obwohl wir bei ihrem Gebrauch immer in Dankbarkeit unser Herz zu Gott erheben sollten, sie dennoch benutzen als unsere Werkzeuge, Organe und Diener. Sie ent­springen aus uns und haben gleichsam Halt durch uns, und wir gebrauchen sie für unsere eigenen Zwecke. Das scheint nun die Art gewesen zu sein, wie die Korinther ihre übernatürlichen Gaben ge­brauchten, nämlich so, als wären sie Teile ihrer selbst – wie natürliche Fähigkeiten, anstatt zu beachten, daß es Kräfte in ihnen sind, die aber nicht aus ihnen sind, sondern vom Geber alles Guten kommen; – sie gebrauchten sie nicht mit Scheu, nicht mit Ehrfurcht, nicht mit Andacht. Sie betrachteten sich nicht als Glieder des Reiches der Heiligen und abhängig von einem unsichtbaren Herrn, sondern als bloße Glieder einer irdischen Gemeinschaft, immer noch als Reiche, Gelehrte, Philosophen und Sophisten, die gewisse zusätzliche Gaben besaßen, die ihre bisherige Stellung durch die Annahme des Christentums erhöht hatten. Sie wurden stolz, da sie doch hätten dankbar sein sollen. Sie hatten vergessen, daß sie, um Glieder der Kirche zu sein, wie kleine Kinder hätten wer­den müssen; daß sie alles hätten aufgeben müssen, um Christus zu gewinnen; daß sie hätten arm im Geiste werden müssen, um wahre Reichtümer zu erlangen; daß sie die Philosophie hätten ablegen müssen, wenn sie Weisheit im Kreise der Voll­kommenen künden wollten. Daher erinnert sie der heilige Paulus daran, daß „nicht viele Weise nach dem Fleische, nicht viele Mächtige, nicht viele An­gesehene berufen werden“ (1 Kor 1,26); und daß alle wahre Kraft, alle wahre Weisheit aus Christus fließt, der „die Kraft Gottes und die Weisheit Gottes ist“ (1 Kor 1,24); und daß alle, die wirk­lich Christen sind, ihrer eigenen Kraft und ihrer eigenen Weisheit entsagen und zu Ihm kommen, damit er der Quell und Ursprung ihrer Kraft und ihrer Weisheit sei; damit sie von Ihm abhingen und sich auf Ihn stuften, nicht auf sich selbst; damit sie in Ihm seien oder Ihn in sich trügen; damit sie (gleichsam) Seine Glieder seien; damit sie sich einfach in Ihm, nicht in sich rühmten. Weil nämlich die Weisheit der Welt in Gottes Augen nur Tor­heit ist und die Kraft der Welt nur Schwäche, hatte Gott Seinen Eingeborenen Sohn dazu bestimmt, der Erstgeborene der Schöpfung, Norm und Ur­sprung des wahren Lebens zu sein; Weisheit und Kraft Gottes zu sein, und „Gerechtigkeit, Heili­gung und Erlösung“ Gottes allen jenen, die in Ihm befunden werden. „Durch Ihn“, sagt er, „seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott zur Weis­heit geworden ist, nämlich zur Gerechtigkeit, Hei­ligung und Erlösung; damit, wie geschrieben steht, wer sich rühmt, sich im Herrn rühme“. In jedem Zeitalter der Kirche, nicht nur in der Frühzeit, waren die Christen der Versuchung ausgesetzt, auf ihre Gaben stolz zu sein oder wenig­stens zu vergessen, daß es Gaben waren, und sie für eine Selbstverständlichkeit zu nehmen. Immer waren sie der Versuchung ausgesetzt zu vergessen, daß sie Verantwortung tragen, daß sie Empfänger von Gaben sind, die sie vervollkommnen müssen, zu vergessen, daß sie die Pflicht haben zu fürchten und zu zittern, während sie diese vervollkommnen. Anderseits zeigt der heilige Paulus, wie sie sich im Bewußtsein ihrer Vorrechte verhalten sollten, wenn er zu den Philippern sagt: „Wirket euer Heil mit Furcht und Zittern, denn Gott ist es, der in euch sowohl das Wollen als das Vollbringen wirkt nach Seinem Wohlgefallen“ (Phil 2,12.13). Gott ist in euch zur Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung durch den Geist Seines Sohnes, und ihr dürft euch Seiner Einsprechungen, Seines Wirkens in euch bedienen, nicht als wären sie eure eigenen (Gott bewahre!), nicht wie ihr euch eures eigenen Geistes oder eurer eigenen Glieder bedienen wür­det, ohne Ehrfurcht, sondern als Seine Gegenwart in euch. Alle eure Erkenntnis ist von Ihm; alle guten Gedanken stammen von Ihm; alle Kraft zu beten ist von Ihm; eure Taufe ist von Ihm; die verwandelten Gestalten sind von Ihm; euer Wachs­tum in Heiligkeit ist von Ihm. Ihr gehört euch nicht zu eigen, ihr seid mit einem hohen Preis erkauft worden, und eine geheimnisvolle Kraft wirkt in euch. O daß wir all das so empfänden, wie wir davon überzeugt sind! Einer der ersten Grundsätze christlicher Erkennt­nis und christlicher Gesinnung lautet also: alles Gute in uns, alles, was wir an geistlichem Leben und an Gerechtigkeit besitzen, Christus, unserem Heiland, zuschreiben; glauben, daß Er in uns wirkt, oder um das Gleiche genauer darzulegen, glauben, daß die heilsamen Gaben der Wahrheit, des Lebens, des Lichtes und der Heiligkeit nicht aus uns sind, obwohl sie in uns sein müssen. Ich will mich nun über jeden dieser zwei Punkte ver­breiten.

1. Was immer wir haben, ist nicht aus uns, sondern aus Gott. Es bedarf sicher nicht vieler Worte, das zu beweisen. Unsere sich selbst überlassene Natur wird in der Schrift dargestellt als die Quelle vielen Übels, aber nie als Quelle von etwas Gutem. In der Schrift lesen wir viel von dem Bösen, das aus dem natürlichen Herzen kommt, aber gar nichts von dem Guten, das aus ihm kommt. Wann kehrte sich die Mehrzahl der Menschen nicht von Dem ab, der ihr Leben ist? Wann waren die Heiligen nicht in der Minderheit und die Unheiligen in der Mehrheit? Und was beweist das anderes, als daß das Gesetz der Menschennatur zum Bösen neigt, nicht zum Guten? Wie der Baum, so seine Früchte; ist die Frucht schlecht, so muß der Baum schlecht sein. Wann war das Antlitz der menschlichen Ge­sellschaft, das die Frucht der menschlichen Natur ist, anders als schlecht? Wann war die Macht der Welt eine Verfechterin der göttlichen Wahrheit? Wann ihre Weisheit deren Deuterin? Oder ihre Führerschicht deren Abbild? Sollen wir auf die Frühzeit der Welt zurückblicken? Welche Frucht finden wir da? „Die Erde war verderbt vor Gott und mit Ungerechtigkeit erfüllt“ (Gn 6,ll). „Gott sah, daß die Bosheit der Menschen groß war auf Erden und alles Trachten ihres Herzens immerdar auf das Böse gerichtet. Und es reute den Herrn, daß Er den Menschen gemacht auf Erden, und es tat Ihm in Seinem Herzen leid“ (Gn 6,5.6). Wer­den wir wohl nach der Flut eher Gutes in der menschlichen Natur finden als zuvor? „Und der Herr sprach: Siehe, es ist ein Volk und eine Sprache unter allen; und das haben sie begonnen zu tun, und sie werden von ihren Gedanken nicht ablassen… So zerstreute sie der Herr von da in alle Länder“ (Gn 11, 6-8). Sollen wir zu den Zei­ten Davids übergehen? „Der Herr schauet vom Himmel auf die Menschenkinder, um zu sehen, ob einer verständig sei und Gott suche. Alle sind ab­gewichen, allesamt unnütz geworden; keiner ist, der Gutes tut, auch nicht einer“ (Ps 13,2.3). So schaute Gott dreimal vom Himmel herab, und dreimal war der Mensch derselbe, Gottes Feind, ein Rebell gegen seinen Schöpfer. Wir wollen sehen, ob Salomon dieses schreckliche Zeugnis ab­schwächt. Er sagt: „Das Herz der Menschenkinder ist voll Bosheit, und Torheit wohnt in ihrem Herzen ihr Leben lang, und dann gehen sie zu den Toten“ (Prd 9,3). Sollen wir den Propheten Isaias fragen? Er antwortet: „Wir alle wurden wie ein Unreiner und alle unsere gerechten Taten sind wie schmutzige Lappen; und wir alle verwelken gleich einem Blatt; und unsere Sünden rissen uns dahin wie der Wind“ (Is 64,6). Oder Jeremias? „Das Herz ist trügerisch, mehr als alles, und hoffnungs­los schlecht“ (Jer 17,9). Oder wie äußerte sich unser menschgewordener Herr Selbst über die Früchte des Herzens? Er sagte: „Aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mordtaten, Ehebrüche, Hurereien, Diebstähle, falsche Zeugnisse und Gotteslästerun­gen“ (Mt 15,19). Und hat Sein Kommen die Welt gebessert? Wie wird es sein, wenn Er wieder kommt? „Wenn der Menschensohn kommt, wird Er wohl Glauben finden auf Erden?“ (Lk l8,8). Wohin also die menschliche Natur neigt, ist ganz klar, und wie das Ende, meine ich, muß der An­fang sein. Wenn das Ende schlecht ist, so ist es auch der Anfang; wenn das Ziel verfehlt ist, so ist die erste Richtung falsch. „Aus der Fülle des Her­zens redet der Mund“ (Mt 12,34), und die Hand vollbringt es; und so wie die Tat und das Wort ist, so ist das Herz. Nichts kann also, wenn wir auf die Schrift hören, um nicht von der Erfahrung zu sprechen, sicherer sein als dies, daß die jetzige Natur des Menschen böse ist und nicht gut; daß Böses von ihr kommt und nicht Gutes. Wenn Gutes von ihr kommt, ist es eine Ausnahme und ist daher nicht aus ihr, sondern nur in ihr; zuerst wird es ihr geschenkt und dann kommt es von ihr; ist nicht aus ihr von Natur, sondern in ihr durch die Gnade. Unser Herr sagt ausdrücklich: „Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist. Verwundere dich nicht, daß Ich dir sage: Ihr müßt aufs neue geboren werden“ (Joh 3,6.7). Und ferner: „Ohne Mich könnt ihr nichts tun“ (Joh 15,5); und der heilige Paulus: „Ich vermag alles in Christus, der mich stärkt“ (Phil 4,13). Und weiter im vorliegen­den Brief: „Wer gibt dir einen Vorzug? Und was hast du, das du nicht empfangen hast? Hast du es aber empfangen, warum rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“ (1 Kor 4,7). Das ist jene große Wahrheit, die die Grundlage jeder wahren Lehre über den Weg zum Heil bildet. Jede Unterweisung über Pflicht und Gehorsam, über den Erwerb des Himmels und über das Amt Christi uns gegenüber, ist hohl und ohne Bestand, wenn sie nicht darauf aufgebaut ist, nämlich auf die Lehre von unserer ursprünglichen Verderbtheit und Hilflosigkeit; und folglich von der Erbschuld und der Erbsünde. Christus Selbst ist zwar das Fundament, aber ein zerknirschtes, demütiges und ein sich selbst verleugnendes Herz ist (sozusagen) der Grund und Boden, auf den das Fundament gelegt werden muß; und es heißt nur auf Sand bauen, wenn man seinen Glauben an Christus be­kennt, hingegen nicht zugesteht, daß wir ohne Ihn nichts tun können. Das ist sogenannter Pelagianismus, dessen Namen wohl viele von uns gehört haben. Ich will zwar nicht genau darlegen, worin jene Häresie besteht, aber ich meine, ich darf sie. volkstümlich gesprochen, den Glauben nennen, demzufolge „heilige Wünsche, gute Ratschläge und gerechte Taten“ von uns kommen können, aus uns sein können, ebenso wie in uns: in Wahrheit aber sind sie von Gott allein. Von Ihm und nicht von uns selbst stammt jene Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung, die in uns ist, – von Ihm stammt die Tilgung unserer inneren Schuld und die Ein­pflanzung einer neuen Natur. Wenn die Menschen es aber für ausgemacht halten, daß sie von Natur aus der Gegenstand des göttlichen Wohlgefallens sind, – wenn sie ihre außerordentlichen Gaben und Kräfte als etwas Natürliches ansehen, – wenn sie auf ihre Taufe schauen wie auf eine gewöhn­liche Handlung, die ihre Früchte wie selbstver­ständlich hervorbringt, – wenn sie zur Kirche kommen, ohne zu spüren, welch hohe Gnade es für sie bedeutet, kommen zu dürfen, – wenn sie die Notwendigkeit des Gebetes um Gottes Gnade nicht verstehen, – wenn sie alles zu einem System machen und die Vorsehungswege der freien Güte Gottes dem Gesetz von Ursache und Wirkung un­terwerfen, – wenn sie annehmen, daß die Er­ziehung alles bewirkt und daß die Erziehung in ihrer Hand liegt, – wenn sie, kurz gesagt, wenig halten von der Kirche Gottes, die der große Kanal der göttlichen Gnaden ist, und auf das Evangelium schauen wie auf eine Art Literatur oder Philoso­phie, die in gewissen Dokumenten enthalten ist, die sie gebrauchen können, wie sie die Belehrung anderer Bücher gebrauchen: dann sind sie, um kein anderes Beispiel des gleichen Irrtums zu erwähnen, praktisch Pelagianer, denn sie machen sich zu ihrem eigenen Mittelpunkt, anstatt von Gott und Seinen Anordnungen abzuhängen.

2. Und zweitens: ebenso gewiß wie Wahrheit und Gerechtigkeit nicht aus uns sind, ebenso gewiß ist es, daß sie auch in uns sind, wenn wir Christi sind; sie sind uns nicht bloß dem Namen nach gegeben und angerechnet, sondern sie sind uns wirklich durch die Tätigkeit des Heiligen Geistes eingepflanzt. Als unser Herr und Heiland Jesus Christus in unserem Fleisch auf die Erde kam, brachte Er eine vollkommene Sühne, „ein Schlachtopfer, eine Gabe und ein Sühnopfer für die Sünden der ganzen Welt dar“. Er wurde von einer Frau geboren. Er wirkte Wunder, Er fastete und wurde in der Wüste versucht, Er litt und wurde gekreu­zigt, Er war tot und wurde begraben, Er erstand wieder von den Toten, Er stieg zur Höhe auf und „lebt immer“ (Hebr 7,25) beim Vater, – und das alles um unseretwillen. Und wie Seine Menschwer­dung und Sein Tod unser Heil bezwecken sollten, so vollendete Er auch wirklich das Werk, das jene Erniedrigung beabsichtigte. Alles geschah, was geschehen mußte, abgesehen von dem, was nicht zu einer Zeit geschehen konnte, da jene noch nicht am Leben waren, für die es geschah. Alles geschah für uns, außer der tatsächlichen Bewilligung der Gnade, die uns, jedem einzeln, geschenkt wird. Er rettete uns zum voraus, aber die Rettung war nicht wirksam, weil wir damals noch nicht lebten. Alles übrige aber wurde damals vollendet. Satan wurde besiegt; die Sünde gesühnt, die Schuld be­zahlt, Gott versöhnt; Gerechtigkeit, Heiligung, Er­lösung, Leben, alles wurde für die Söhne Adams bereitgestellt und alles, was noch zu tun blieb, bestand nur darin, jedem einzelnen diese gött­lichen Gaben zu schenken und zu vermitteln. Das geschah nicht, weil nicht alles auf einmal geschehen konnte; es konnte nicht sogleich an den Einzelmenschen geschehen, sollte doch nach Gottes Rat­schluß das Heil eine persönliche Gabe sein. Er erneuerte nicht ein für allemal das ganze Men­schengeschlecht und Er veränderte nicht unmittel­bar bei Christi Tod die Lage der Welt in Seinen Augen. Die Sonne ging am Ostertag nicht über einer neuen Welt auf, noch erstand Er aus dem Grab über einer neuen Welt, sondern über der alten Welt, der wie zuvor sündigen, rebellischen und verworfenen Welt. Die Menschen waren immer noch, was sie gewesen waren, sowohl in sich wie in Seinen Augen. Sie waren schuldig und verderbt vor Seiner Kreuzigung und so blieben sie es nach­her; so sind sie es bis heute, es sei denn, Er lasse Sich in Seiner freien Güte und nach Seinem unum­schränkten Willen dazu herab, das Geschenk Seines Leidens diesem oder jenem zu vermitteln. Durch Sein Leiden stellte Er das Heil bereit, gab es aber nicht weg; es muß eine Schenkung oder Vermitt­lung stattfinden für alle jene, die gerettet werden sollen. Das Geschenk des Lebens ist ebenso wahr­haftig in uns, wie es nicht aus uns ist; es ist nicht nur von Ihm, sondern es ist für uns. Das muß man wohl bedenken, denn wie es solche gibt, die mei­nen, Leben, Gerechtigkeit und Heil seien aus uns, so gibt es andere, die annehmen, sie seien nicht in uns; und wie es viele gibt, die mehr oder weniger vergessen, daß die Rechtfertigung aus Gott ist, so gibt es genau so viele, die mehr oder weniger ver­gessen, daß die Rechtfertigung im Menschen sein muß, wenn sie ihm nützen soll. Und es ist schwer zu sagen, welcher der beiden Irrtümer der größere ist. – Es gibt aber auch noch einen weiteren Grund für die Behauptung, daß Christus durch Seinen Tod die gnadenvolle Heilsvermittlung nicht voll­endete: den Grund, daß der Heilige Geist kam, um sie zu vollenden. Er überließ uns nicht uns selbst, als Er zur Höhe aufstieg; so weit war das Werk noch nicht getan. Er sandte Seinen Geist. Wäre alles an den einzelnen vollzogen worden, wozu sollte sich der Heilige Geist gewürdigt haben zu kommen? Aber der Geist kam, um in uns zu voll­enden, was Christus zwar in Sich vollendet hatte, aber im Hinblick auf uns unvollendet ließ. Ihm ist es anvertraut, uns einzeln zu vermitteln, was Christus für uns getan hat. Wie also Seine Sen­dung einerseits beweist, daß die Rettung nicht aus uns ist, so beweist sie anderseits, daß sie in uns gewirkt werden muß. Denn wenn alle Gnaden­gaben beim Geist ruhen und wenn die Gegenwart des Geistes in uns ist, so müssen folglich diese Gaben in uns sich zeigen und auswirken. Wenn Christus unsere einzige Hoffnung ist und Christus uns durch den Geist gegeben wird und der Geist eine innere Gegenwart bedeutet, so ruht unsere einzige Hoffnung auf einer inneren Wandlung. Wie ein in einem Raum aufgestelltes Licht seine Strahlen nach allen Seiten aussendet, so durch­tränkt uns die Gegenwart des Heiligen Geistes mit Leben, Stärke, Heiligkeit, Liebe, Gottgefälligkeit und Gerechtigkeit. Gott schaut uns in Gnaden an, weil Er in uns „die Gesinnung des Geistes“ sieht; denn wer diese Gesinnung hat, trägt Heiligkeit und Gerechtigkeit in sich. Fortan sind alle seine Gedanken, Worte und Werke, weil im Geist ge­tan, wohlgefällig, angenehm und gerecht vor Gott; und was auch an Schwachheit in ihm zurückbleibt, das verhüllt die Gegenwart des Geistes. Dieser göttliche Einfluß, der die Fülle der Gnade Christi in sich trägt, um uns zu reinigen, hat auch die Kraft des Blutes Christi, um uns zu rechtfertigen. Verlieren wir nie diesen großen und einfachen Gedanken aus dem Auge, den uns die ganze Schrift vorstellt. Was Christus vor 1800 Jahren wirklich im Fleisch getan hat, wird in jedem einzelnen von uns bis hin zum Ende der Zeit im Ab­bild und zur Ähnlichkeit gewirkt. Er wurde ge­boren aus dem Geist, auch wir werden geboren aus dem Geist. Er wurde durch den Geist geheiligt, so auch wir. Er wurde der vielgeliebte Sohn ge­nannt, als der Heilige Geist auf Ihn herabstieg; auch wir rufen, Abba, Vater, in dem Geist, der in unser Herz gesandt ist. Er wurde vom Geist in die Wüste geführt; Er vollbrachte große Taten durch den Geist; Er übergab Sich dem Tod durch den ewigen Geist; Er wurde durch den Geist von den Toten erweckt;  Er wurde bei  Seiner Auf­erstehung durch den Geist als der Sohn Gottes erwiesen. Auch wir werden von dem gleichen Geist in und durch die Versuchungen dieser Welt ge­führt; auch wir vollbringen Werke des Gehorsams durch den Geist; wir sterben der Sünde, wir er­stehen wieder zur Gerechtigkeit durch den Geist; und wir werden zu Kindern Gottes erklärt, – erklärt, verkündet und behandelt als Gerechte, – und alles das durch unsere Auferstehung zur Hei­ligkeit im Geist. Oder, um die gleiche Wahrheit mit anderen Worten auszudrücken; Christus Selbst würdigt Sich, im Abbild und Mysterium alles an jedem von uns zu wiederholen, was Er im Fleisch tat und litt. Er wurde in uns gebildet, in uns ge­boren, Er leidet in uns, ersteht in uns und lebt in uns; und das nicht in einer Folge von Ereignissen, sondern alles zugleich: denn Er kommt zu uns als Geist, immer sterbend, immer auferstehend, immer lebend. Wir empfangen fortwährend un­sere Geburt, unsere Rechtfertigung, unsere Erneue­rung, wir sterben fortwährend der Sünde und er­stehen fortwährend zur Gerechtigkeit. Seine ganze Heilsvermittlung in allen ihren Teilen ist immerfort in uns allzumal; und diese göttliche Gegen­wart bildet in jedem von uns das Anrecht auf den Himmel; das ist es, was Er anerkennen und an­nehmen wird am Jüngsten Tag. Er wird Sich Selbst anerkennen, – Sein Bild in uns, – als spiegelten wir Ihn wider und als würde Er in uns auf den ersten Blick die Seinigen erkennen; jene nämlich, die Ihm Sein Bild zurückgeben. Er drückt uns ein das Siegel Seines Geistes, um zu bestätigen, daß wir Sein sind. Wie das Bild des Königs diesem die Münze zueignet, so trennt uns das Bild Christi in uns von der Welt und überweist uns dem Him­melreich.

Die Schrift ist voll von Stellen, die zeigen, daß das Heil solch eine innere Gabe ist. Zum Beispiel: Was ist es, das uns errettet von der Verwerfung? „Erkennet ihr nicht“, sagt der heilige Paulus, „daß Jesus Christus in euch ist, es sei denn, ihr seid ver­worfen?“ (2 Kor 13,5). Was ist unsere Hoffnung? „Christus in uns, die Hoffnung auf die Herrlich­keit“ (Kol 1,27). Was ist es, das heiligt und recht­fertigt? „Der Name des Herrn Jesus und der Geist unseres Gottes“. Was macht unsere Gaben wohl­gefällig? „Weil sie geheiligt sind durch den Hei­ligen Geist“ (Röm 15,16). Was ist unser Leben? „Der Geist ist Leben um der Gerechtigkeit willen“ (Rom 8,10). Wie können wir das Gesetz erfüllen? „Die Gerechtigkeit des Gesetzes wird in uns erfüllt, indem wir nicht nach dem Fleisch wandeln, son­dern nach dem Geist“ (Röm 8,4). Wer rechtfertigt uns? „Die Frucht des Geistes besteht in jeglicher Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit“ (Eph 5,9).

Zum Schluß. – Ich habe gesagt, daß es zwei entgegengesetzte Irrtümer gibt: der eine hält daran fest, daß das Heil nicht aus Gott ist; der andere, daß es nicht in uns ist. Nun ist bemerkenswert, daß die Anhänger des einen wie des anderen Irr­tums, wie groß ihre Unterschiede auch in anderer Hinsicht sind, darin übereinstimmen: sie berauben das christliche Leben seines Geheimnischarakters. Wer glaubt, daß er Gott aus sich gefallen könne oder daß der Gehorsam ganz aus eigener Kraft geleistet werden könne, hat natürlich nicht mehr Schauer, Ehrfurcht und Staunen in seiner persön­lichen Religion, als wenn er seine Glieder bewegt und seine Vernunft gebraucht, obgleich er auch da sehr wohl Schauer empfinden könnte. Und ebenso mag auch jener, der bekennt, daß das Leiden, dem Christus Sich einmal am Kreuz unterzog, unbe­dingt sein eigenes persönliches Heil sicherte, zwar in jenem Kreuz ein Mysterium sehen (wie er sollte), aber er wird kein Mysterium sehen und wenig feierlichen Ernst spüren im Gebet, in den heiligen Riten oder in seinen Bemühungen um den Gehor­sam. Er wird in Gottes Gegenwart sich frei, ge­wöhnlich und anmaßend benehmen. Keiner der beiden Irrenden wird „sein Heil mit Furcht und Zittern wirken“ (Phil 2,12); denn keiner wird sich völlig bewußt sein, daß Gott in ihm ist, „um zu wollen und zu tun“, obwohl er die Worte ge­braucht. Der eine wie der andere wird zufrieden sein mit einer niederen Pflichtauffassung: der eine, weil er nicht glaubt, daß Gott mehr verlangt; der andere, weil er meint, Christus habe in Seiner Person alles getan. Keiner von beiden wird Gottes Gesetz ehren und hochschätzen: der eine, weil er das Gesetz so weit herabdrückt, daß er es aus seiner eigenen Kraft erfüllen kann; der andere, weil er annimmt, Christus habe das GeseJ3 entfernt, da­durch daß Er an seiner Statt es erfüllte. Jene allein empfinden Ehrfurcht und wahren Ernst, die glau­ben, daß das Gesetz bleibt; daß es den Anspruch erhebt, von ihnen erfüllt zu werden; und daß es in ihnen durch die Kraft der göttlichen Gnade er­füllt werden kann. Damit will nicht gesagt sein, daß irgendein Lebender sich erhebt zu jener voll­kommenen Erfüllung, wohl aber, daß eine solche Erfüllung nicht unmöglich ist; daß sie in allen wahren Christen begonnen hat; daß sie alle nach ihr streben, in sie hineinwachsen und Gott ge­fallen, weil und je mehr sie ähnlich werden Ihm, der das Gesetzvollkommen erfüllte, als Er in un­serem Fleisch auf die Erde kam.

aus: Pfarr-und Volkspredigten, Band V, 10. Schwabenverlag Stuttgart 1953, 153-168.