Über den Wert der Zeit

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„Ein neues Jahr eröffnet sich uns nun; es redet zu den Nachdenklichen und findet Gehör bei denen, die wachsame Ohren haben und auf Christi Ankunft harren. Das alte Jahr ist dahin, ist tot und liegt nun im Grabe der Vergangenheit; aber nicht dass es verfiele und vergessen wäre, es ist vielmehr festgehalten im Blick der Allwissenheit Gottes“ (DP VII 15).[1]

Diese Worte, die John Henry Newman am 1. Januar 1832 an die Gläubigen richtete, können uns anregen, mit Newman ein wenig über die Bedeutung der uns geschenkten Zeit nachzusinnen.

Die Kürze der Zeit

Newman sagt einmal über das Amt des Predigers: „Sein ganzes Tun ist dazu bestimmt, die Menschen daran zu erinnern, dass die Zeit kurz, der Tod gewiss und die Ewigkeit lang ist“ (DP VIII 150). Dieses pointierte Wort will nicht die Weltverantwortung des Christen leugnen oder abwerten. Es hat vielmehr zum Ziel, auf die ewigen und bleibenden Werte aufmerksam zu machen und an die Vergänglichkeit des Zeitlichen zu erinnern, das unaufhaltsam in das „Grab der Vergangenheit“ fällt. In unseren Tagen wird der Gedanke an die Kürze der Zeit nicht selten verdrängt. Eine gewisse Mentalität will den Menschen vormachen, dass ihr Leben auf Erden kein Ende hätte. Was an Vergänglichkeit und Tod erinnert, wird beiseite geschoben und als störend empfunden. Für Newman war der Gedanke an den Tod ein Gedanke, vor dem der Mensch zwar von Natur aus zurückschreckt, der aber nützlich und heilsam ist. In einer Predigt über die Flüchtigkeit der Zeit beschreibt er, wie der Mensch im Angesicht des Todes die Bedeutung der ihm gegebenen Zeit erfasst: „Wie grenzenlos wichtig erscheint ihm der Wert der Zeit, jetzt, da sie ihm nichts mehr gilt. Nichts mehr; denn mag er auch jahrhundertelang auf Christus warten müssen, er kann jetzt seinen Zustand nicht mehr ändern von bös zu gut oder von gut zu bös. In dem Zustand, in dem er stirbt, muss er für immer verbleiben… Was für eine Wertschätzung der Zeit werden wir uns bilden, während wir das Gericht erwarten! Ja, uns geht es an; – dies alles ist, ich wiederhole, unsere persönlichste Angelegenheit“ (DP VII 12). Unsere Zeit auf Erden ist kurz. Wir müssen gut und verantwortungsbewusst mit ihr umgehen, denn sie ist „der Same der Ewigkeit“ (DP VII 13). Deshalb gilt: „Nutzen wir jeden fliehenden Tag und jede fliehende Stunde“ (DP IV 297). „Die Zeit, vor allem die Zeit alter Menschen, ist zu kostbar, um vergeudet zu werden für Dinge, die nicht einem Ruf der Pflicht entsprechen“.[2]

Die Fülle der Zeit

Der Prediger von Oxford spricht aber nicht nur von der Vergänglichkeit der Zeit, die dem menschlichen Leben seinen Ernst verleiht. Im Glauben sieht er die Zeit ganz auf Christus hin und von Christus her, der ihre Mitte ist. Die Zeit vor Christus, die Sehnsucht des menschlichen Herzens, die Erkenntnis der Philosophen und die Verkündigung der Propheten finden in der Menschwerdung des Sohnes Gottes ihr Ziel und ihre Erfüllung. „Das ist Sinn und Zweck des Kommens Jesu Christi, alle Elemente des Guten, die über die ganze Welt hin verstreut sind, zu sammeln, sich zu eigen zu machen, von sich her zum Leuchten zu bringen, in sich zu verwandeln und umzugestalten. Er war gekommen, um allen Dingen einen neuen und besseren Anfang zu geben als es Adam getan hatte, um Ursprung und Quelle zu sein, woraus alles Gute von nun an fließen sollte. Darum heißt es: Der allmächtige Gott ‚hat beschlossen, die Fülle der Zeiten heraufzuführen, in Christus alles zu vereinen, alles, was im Himmel und auf Erden ist‘ (Eph 1,10)“.[3]

In vielen Ansprachen verkündet Newman das Wunder der Menschwerdung Gottes. Er spricht von der Gottheit des Herrn und seiner Existenz, „als es noch keine Zeit gab“ (DP II 40), und legt Zeugnis ab von seinem Eintreten in die Zeit, „in diese sterbliche Welt“ (DP II 43), um uns Menschen der Sterblichkeit zu entreißen und das Tor zur Ewigkeit zu öffnen. „Von Geburt ist er der Eingeborene und das Ebenbild Gottes; durch die Annahme unseres Fleisches wurde er nicht befleckt, sondern er erhob mit sich die menschliche Natur, da er von der niedrigen Krippe zur Rechten der Kraft aufstieg. Dabei erhob er auch die menschliche Natur, denn als Mensch hat er uns erlöst, als Mensch ist er über alle Geschöpfe gesetzt, da er mit dem Schöpfer eins ist. Als Mensch wird er Menschen am Jüngsten Tage richten“ (DP II 51).

Mit Christus hat die Endzeit begonnen. Er hält die Zeit in seinen Händen und gibt jedem Augenblick einen Wert für die Ewigkeit. Die Zeit nach Christus ist deshalb eine Gnadenzeit, eine von der Gegenwart des Herrn erfüllte Zeit. Er, der in den Schoß des Vaters heimgekehrt ist, bleibt zugleich gegenwärtig in der Zeit und nimmt uns gnadenhaft hinein in die Ewigkeit. Durch die Kirche und ihre Priester leben wir in der Gegenwart Christi, denn „was sie tun, tut er; wenn sie taufen, tauft er; wenn sie segnen, segnet er. Er ist in allen Handlungen seiner Kirche, und die eine wie die andere ihrer Handlungen sind in einem gleich wahren Sinn seine Handlungen, denn alle sind die seinigen. So sind wir in allen Zeiten des Evangeliums nahe seinem Kreuz. Wir stehen sozusagen unter ihm und empfangen seine Segnungen frisch von ihm; nur dass, seitdem die Zeit, geschichtlich gesprochen, weiter geschritten ist und der Heilige fern von uns ist, gewisse äußere Formen notwendig sind, um uns wieder unter seinen Schatten zu bringen; und um diese Segnungen in Wirklichkeit zu kosten, kosten wir sie durch ein Geheimnis, auf sakramentale Weise“ (DP VI 261f.).

Das Geheimnis der Menschwerdung des Sohnes Gottes ist nicht etwas, das der Vergangenheit angehört. Der Herr lebt in seiner Kirche und die Kirche in ihm. Er ist unser Halt für die Zukunft. Newman ruft uns zu: „‚Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt‘ (Joh 1,14). Das ist die herrliche, unerforschliche und unbegreifliche Wahrheit, von der unsere ganze Hoffnung für die Zukunft abhängt“ (DP X 96).

Das Geschenk der Zeit

Als Christen sind wir gerufen, die Gnade jedes Augenblickes zu nutzen und dem Ruf Christi im Glauben zu folgen. „Die Zeit bleibt für keinen stehen; das Wort des Rufes ergeht und ist vorbei; wenn wir den Augenblick nicht ergreifen, ist er verloren. Christus war auf seinem Weg zum Himmel. Er wandelte am Galiläischen Meer; er ‚ging weiter‘ (Mt 9,9); er ‚ging vorbei‘ (Mk 2,14); er blieb nicht stehen; alle Menschen müssen sich ihm anschließen, oder er beruft andere an ihre Stelle“ (DP VIII 27). Der Herr schenkt Gnade für die Zeit, aber nicht unbegrenzt Zeit, um die Gnade zu beantworten. Er will, dass wir die Gnade ergreifen in der Zeit, in der sie uns angeboten wird. Newmans Konversion ist ein sprechendes Beispiel dafür. Als er bei der Abfassung seiner Studie „Über die Entwicklung der Glaubenslehre“ erkannte, dass es sich bei den neueren katholischen Lehren nicht um Korruption, sondern um Entwicklung des Glaubensgutes handelt, beschloss er ohne weiteres Zögern, in die katholische Kirche einzutreten. Die unvollendet gebliebene Studie schloss er mit dem „Nunc dimittis“ und den Worten: „Die Zeit ist kurz, die Ewigkeit ist lang“.[4]

Das Geschenk der Zeit ist kostbar. Wir sollen es nicht gedankenlos, sondern bewusst und dankbar annehmen. Die Zeit bietet uns die Chance, Christus ähnlich zu werden und zur Fülle des Lebens in ihm zu gelangen. „Das also ist der Nutzen für die Gegenwart, den das Christentum uns bietet, nicht nur eine Erneuerung unserer moralischen Natur nach dem Bilde des ursprünglichen Adam, sondern eine Verschmelzung all ihrer Kräfte und Strebungen zu dem einen, vollkommenen Menschen, ’nach dem Maße des Bildes der Fülle Christi‘ (Eph 4,13)“.[5] In den uns geschenkten Jahren sind wir gerufen, uns durch Christi Gnade und eine großherzige Antwort in Glaube und Bekehrung umgestalten zu lassen. „Hienieden heißt leben sich wandeln, und vollkommen sein heißt sich oft gewandelt haben“.[6] Durch viele Entwicklungen hindurch führt Gottes Geist die Kirche und jeden Gläubigen mehr und mehr in die Wahrheit ein. Deshalb kann die Wahrheit „die Tochter der Zeit“[7] genannt werden.

Ein solches Leben in der Wahrheit Christi ist ein Leben in Heiligkeit. Es macht die Gläubigen und damit die Kirche schön, einladend und anziehend. Es besteht nicht in außergewöhnlichen Dingen, sondern in der treuen Erfüllung der gewöhnlichen Pflichten eines jeden Tages. In beinahe kindlicher Einfachheit schreibt Newman im hohen Alter: „Wenn du mich fragst, was du tun musst, um vollkommen zu sein, so sage ich dir: erstens – bleibe nicht im Bette liegen, wenn es Zeit ist, aufzustehen; die ersten Gedanken weihe Gott, mache einen andächtigen Besuch beim allerheiligsten Sakrament, bete fromm den Angelus, iss und trink zu Gottes Ehre, bete mit Sammlung den Rosenkranz, sei gesammelt, halte böse Gedanken fern, mache deine abendliche Betrachtung gut, erforsche täglich dein Gewissen, geh zur rechten Zeit zur Ruhe; und du bist bereits vollkommen“.[8]


[1] J. H. NEWMAN, Pfarr- und Volkspredigten, Band I-VIII (= DP I – VIII), Predigten zu verschiedenen Anlässen (= DP X), herausgegeben von der Newman-Arbeitsgemeinschaft der Benediktiner von Weingarten, Stuttgart 1948-1960.

[2] Vgl. The Letters and Diaries of John Henry Newman, herausgegeben von Ch. St. DESSAIN u.a., Band XX, London 1970, 237.

[3] Vgl. J. H. NEWMAN, Lectures on the Doctrine of Justification, Westminster 1966, 193f.

[4] J. H. NEWMAN, Über die Entwicklung der Glaubenslehre, Mainz 1969, 383.

[5] J. H. NEWMAN, Zur Philosophie und Theologie des Glaubens, Mainz 1964, 45.

[6] J. H. NEWMAN, Über die Entwicklung der Glaubenslehre, Mainz 1969, 41.

[7] Ebd., 47.

[8] J. H. NEWMAN, Gott – das Licht des Lebens. Gebete und Meditationen, herausgegeben von G. BIEMER und J. D. HOLMES, Mainz 1987, 152.