Formeln des Privatgebetes

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20. Predigt, 20. Dezember 1829

„Herr, lehre uns beten wie auch Johannes seine Jünger gelehrt hat“ (Lk 11,1)

Diese Worte drücken die natürlichen Gefühle des erwachten Geistes aus, der sein großes Bedürfnis nach Gottes Hilfe wahrnimmt, jedoch nicht richtig versteht, was seine einzelnen Bedürfnisse sind, oder wie sie behoben werden sollen. Die Jünger Johannes des Täufers und die Jünger Christi erwarteten beide die Belehrung ihres Meisters: wie man beten soll. Vergeblich war es, die Pflicht zur Buße den einen und die Pflicht zum Glauben den andern zu predigen; vergeblich, Gottes Gnadenerweise und Seine Gerichte sowie ihre eigenen Pflichten ihnen kundzutun. Sie schienen alles Erforderliche zu haben, um aus sich Gebete zu formen, jedoch sie konnten es nicht. Ihre Herzen waren voll, aber sie blieben stumm. Sie konnten keine Bitte vorbringen außer der: Lehre uns beten. Sie kannten die Wahrheit, aber sie wußten sie nicht zu gebrauchen. Es ist ein Unterschied, in der Religion unterwiesen zu werden oder sie so in der Ausübung zu beherrschen, daß sie völlig unser eigen ist.

Ihr Bedürfnis ist seither immer das Bedürfnis der Christen gewesen. Wir alle benötigen in der Kindheit und sehr viele auch später eine Anleitung zum Beten; und daher der Gebrauch der Gebetsformeln, welche immer in der Kirche in Übung waren. Johannes lehrte seine Jünger, Christus gab Seinen Aposteln jenes Gebet, das durch den Namen Gebet des Herrn ausgezeichnet ist; und nachdem Er zur Höhe aufgestiegen war, hat der Heilige Geist uns vortreffliche Andachtsübungen durch den Mund jener Heiligen gegeben, die Er von Zeit zu Zeit zu Vorstehern Seiner Kirche erhoben hat. Nach den Worten des heiligen Paulus „wissen wir nicht, um was wir bitten sollen, noch wie wir es sollen“; aber „der Geist kommt unserer Schwachheit zu Hilfe“ (Rom 8, 26). Das tut Er nicht nur, indem Er unsere Gedanken führt, sondern auch indem Er unsere Worte lenkt.

Das ist, darf ich sagen, der Ursprung der Gebetsformeln, über die ich heute sprechen möchte; nämlich über diese zwei unleugbaren Wahrheiten: erstens, daß alle Menschen die gleichen seelischen Bedürfnisse haben, und zweitens, daß sie diese nicht aus sich selbst ausdrücken können.

In diesen letzten Zeiten sind mitunter selbstweise Denker aufgetreten, welche den Gebrauch von Gebetsformeln in Frage gestellt und es für besser gehalten haben, aufs Geratewohl aus ihren eigenen Gedanken heraus zu beten und dabei sich der Worte zu bedienen, welche ihnen während ihres Gebetes gerade in den Sinn kommen. Es dürfte also gerechtfertigt sein, daß wir einen guten Grund zur Hand haben für den Gebrauch solcher Formeln, welche wir uns zu eigen machten, weil sie uns überliefert wurden. Nicht als ob die Tatsache, daß wir sie empfangen haben, nicht schon ein ganz hinreichender Grund wäre, sie zu gebrauchen, noch daß (mit den Worten des heiligen Paulus) „weder wir, noch die Kirche Gottes irgend eine andere Sitte gekannt haben“ (1 Kor 11, 16), noch daß die besten Christen sie immer in Gebrauch hatten; denn dies ist ein reichlich befriedigender Grund; – nicht als ob wir ferner hoffen könnten, mit noch so guten Gründen etwaige Fragesteller zu überzeugen, was uns sehr wahrscheinlich nicht gelänge; denn es bedeutet ein hohes Maß von Überspanntheit, wenn einer mit Überlegung den Gebrauch von Formeln ablehnt, und wahrscheinlich findet er die Anerkennung unserer Gründe gerade so schwierig wie die Billigung der Übungen, für die wir uns einsetzen. Daher können wir von solchen Menschen nach dem Beispiel des heiligen Paulus nur sagen, „wenn einer unwissend ist, laßt ihn unwissend sein“ (1 Kor 14, 38); das läßt sich nicht ändern. Aber es dürfte dienlich sein, euch zu zeigen, wie vernünftig die Übung ist, damit ihr selbst eurerseits besseren Gebrauch davon macht; denn wenn wir wissen, warum wir etwas tun, tun wir es unter gleichen Voraussetzungen wahrscheinlich mit größerer Befriedigung, als wenn wir unwissend gehorchen.

Ich nehme nun an, daß keiner eine Schwierigkeit hat, was den Gebrauch von Gebetsformeln im öffentlichen Gottesdienst angeht; denn fast der gesunde Menschenverstand wird uns sagen: wenn eine Vielzahl wie ein Mann beten soll, wenn ihre Gedanken zusammengehen sollen, dann müssen sie zuvor über den Inhalt ihrer Gebete, ja über die Worte ihrer Gebete einig sein, falls irgend eine Sicherheit, Gemütsruhe, Leichtigkeit und Regelmäßigkeit in ihren gemeinsamen Andachten herrschen soll. Bei frei erfundenen Gebeten gegenwärtig sein heißt: Gebete hören. Ja, es könnte geschehen, oder vielmehr, es würde oft geschehen, daß wir nicht verständen, was gesagt wurde; und in diesem Fall betet der Betreffende kaum „in einer vom Volk verstandenen Sprache“ (wie es unser Artikel ausdrückt1); er betet viel eher für das Volk, als daß er mit ihm betet und seinen Gottesdienst führt. Beim öffentlichen Gebet ist die Notwendigkeit der Formeln einleuchtend. Es ist aber nicht auf den ersten Blick so offensichtlich, daß wir auch beim Privatgebet geschriebene Formeln benützen müssen, anstatt ex tempore (wie man es nennt) zu beten. Daher gehe ich dazu über, auch ihren Nutzen zu zeigen.

1. Wir wollen den Rat des Weisen im Gedächtnis behalten. „Sei nicht vorschnell mit deinem Mund und dein Herz übereile sich nicht, etwas vor Gott zu äußern; denn Gott ist im Himmel und du auf der Erde; darum seien deine Worte wenige“ (Prd 5, 1). Gebete, im Augenblick geformt, werden leicht ehrfurchtslos. Wir wollen, kurz bevor wir beten, erwägen, in wessen Gegenwart wir eintreten, – in die Gegenwart Gottes. Wie bedürfen wir da demütiger, schlichter und unterwürfiger Gedanken!, wie es sich für Geschöpfe geziemt, die stündlich von Seiner Güte erhalten werden; wie es sich für verlorene Sünder geziemt, die überhaupt kein Recht haben zu reden, sondern im Schweigen sich Ihm, der heilig ist, unterwerfen müssen; – und noch mehr für Seine dankbaren Diener, die Er um den Preis Seines Blutes vom Verderben losgekauft hat. Als solche sollen wir bescheiden zu Seinen Füßen sitzen wie Maria, um Seinen Willen kennenzulernen und zu tun, und wie die Büßerin beim großen Gastmahl des Mannes Ihn schweigend anbeten und Ihm den Dienst leisten ohne Verwirrung, gleichsam mit unseren Tränen Seine Füße waschen und sie mit kostbarem Öl salben, da wir viel gesündigt haben und einer weitgehenden Verzeihung bedürfen. Daher muß man, um die Ehrfurchtslosigkeit vieler und unpassender Worte und ungezogener, halbreligiöser Gedanken zu vermeiden, aus dem Buch oder Gedächtnis und nicht nach freier Erfindung beten.

Man kann den Einwand machen, daß dieser Grund für die Benützung der Formeln zu weit geht; daß es unrecht wäre, jemals ohne solche zu beten; daß dies aber eine überstrenge Fessel für die christliche Freiheit sei. Doch ich antworte darauf, daß die Ehrfurcht in unseren Gebeten hinreichend gesichert ist, wenn wir zu den für das Gebet festgesetzten Zeiten Formeln gebrauchen. Denn so wird unserer Frömmigkeit den Tag über eine bestimmte Färbung und Prägung verliehen; ja, es fließen uns die Bitten und Stoßgebete, deren wir bedürfen, selber zu. Und noch mehr werden unsere Seelen gerade zu der Zeit, da wir uns ihrer bedienen, durch ihre Macht beeinflußt, so daß wir bei gegebener Gelegenheit selbst in der Lage sind, natürlich und schlicht zu solchen zusätzlichen Bitten überzugehen, die von zu eigener oder privater Natur sind, als daß sie sich für eine Niederschrift in bestimmten Worten eigneten.

2. Zweitens sind Gebetsformeln unerläßlich, um uns vor der Unehrerbietigkeit der Zerstreuung zu bewahren. Wenn wir ohne festgelegte Worte (sei es aus dem Buch oder aus dem Gedächtnis) beten, schweift unser Geist vom Gegenstand ab; andere Gedanken kommen uns in die Quere und wir gehen ihnen nach. Wir verlieren dann die Gegenwart Dessen aus den Augen, an den wir uns richten. Diese geistige Zerstreuung wird zum guten Teil mit Gottes Hilfe durch Gebetsformeln verhindert. So besteht einer ihrer Hauptvorteile darin, die Aufmerksamkeit festzuhalten.

3. Ferner sind sie dienlich, um uns vor der Unehrerbietigkeit überheblicher Gedanken zu sichern. Hierüber läßt sich viel sagen; denn gelegentlich werden die Gebetsformeln getadelt gerade wegen jener Besonderheiten, die ihre Auszeichnung sind. Man legt ihnen zur Last, daß sie den Erguß der Andacht verhindern, wogegen tatsächlich jener sogenannte Erguß in sich selbst falsch ist und eingedämmt werden sollte. Am ungestümsten in ihrer Gegnerschaft sind (wie zu erwarten ist) jene Personen, welche mehr als andere die Einschränkung derselben nötig hätten. Sie kleiden manchmal ihren Einwand in folgende Form, die einer kurzen Betrachtung wert ist. Sie behaupten, „wenn es jemand Ernst ist, wird er bald Worte finden; da besteht keine Notwendigkeit einer festgelegten Gebetsformel. Und wenn es ihm nicht Ernst ist, kann eine Formel ihm nichts nützen“. Nun, daß jemand, dem es Ernst ist, bald Worte finden wird, ist wahr oder nicht wahr, je nachdem, was man unter „Ernst“ versteht. Gewiß, zu bestimmten Zeiten starker Erregung, sei es bei Kummer oder Freude, sei es bei Gewissensbissen oder Furcht, eilen unsere religiösen Gefühle voraus und lassen jede Form von Worten hinter sich. In diesen Fällen besteht kein Bedürfnis nach Gebetsformeln, ja es ist vielleicht unmöglich, Gebetsformeln für Christen zu schreiben, die von solchen Gefühlen hin und her geworfen werden. Denn jeder fühlt in seiner eigenen Weise, – vielleicht keine zwei genau gleich – und wir können ebensowenig niederschreiben, wie man zu solchen Zeiten beten soll, als wir Regeln dafür geben können, wie man weinen oder fröhlich sein soll. Je besser sie als Menschen sind, umso besser werden sie in einer derartigen schwierigen Zeit beten. Jedoch besser machen kann man sie nicht; sie müssen sich selbst überlassen werden. Auch wenn gute Menschen ehedem Gebetsformeln für Personen in einer solchen Lage niedergeschrieben hätten, so wären diese ohne Zweifel mehr als Muster und Hilfe gedacht, oder als Ermahnungen und (wenn möglich) Beruhigungsmittel für den erregten Geist, denn als Gebete, die wörtlich und ganz bis ins kleinste benützt werden sollten. Nach allgemeiner Regel sollten Gebetsformeln nicht in einer heftigen und leidenschaftlichen Sprache geschrieben, sondern sollten ruhig, gelassen und kurz sein. Unseres Heilands eigenes Gebet ist in dieser Hinsicht unser Vorbild. Wie klein die Zahl seiner Bitten! Wie klar im Ausdruck! Wie ehrfurchtsvoll! Und wie tief zu gleicher Zeit und wie allumfassend! – Ich gebe also bereitwillig zu, daß es Zeiten gibt, da das Herz alle geschriebenen Worte verdrängt; wie z. B. als der Kerkermeister ausrief: „Was soll ich tun, um gerettet zu werden“ (Apg 16, 30). Ja, ich wollte vielmehr behaupten, daß eine Gebetsformel es nicht versuchen sollte, den ungestümen Drang nachzuahmen, dem alle Seelen (und daher auch die religiösen Seelen) bisweilen in dieser veränderlichen Welt unterworfen sind – damit es nicht scheint, als ermutige man sie noch dazu.

Noch ist die Frage nicht völlig erledigt. Zugegeben, daß es Zeiten gibt, da ein dankbares oder verwundetes Herz alle Gebetsformeln sprengt, so sind jene doch nicht häufig. Erregtsein ist nicht die gewöhnliche Geistesverfassung, sondern die außergewöhnliche, der Zustand des Hin und Wieder. Ja, mehr als das, es sollte nicht die gewöhnliche Geistesverfassung sein. Wenn wir daher in uns diese Erregung schüren, diesen unaufhörlichen Andrang und Wechsel der Gefühle, und dies und nur dies für religiösen Ernst nehmen, schaden wir unseren Seelen und, in einem gewissen Sinn möchte ich sogar sagen, betrüben wir den friedlichen Geist Gottes, der still und ruhig Sein göttliches Werk in unseren Herzen wirken möchte. Ein besonderer Vorteil der Gebetsformeln liegt darin, daß sie uns, wenn es uns Ernst ist, wie es uns immer sein sollte, abhalten von eigenwilliger Ernsthaftigkeit, daß sie die Erregung glätten, uns beruhigen, uns erinnern, was und wo wir sind, uns zu einer lauteren und heiteren Haltung und zu jener tiefen und ungestörten Gottes- und Nächstenliebe führen, die in Wirklichkeit die Erfüllung des Gesetzes ist und die Vollendung der menschlichen Natur.

Ferner fragt sich, ob die Formeln auch nützlich sind, wenn es uns nicht Ernst ist. In diesem Fall trifft das Gesagte ebenfalls zu, je nachdem wir es auffassen, oder auch nicht. Denn es gibt Grade der Ernsthaftigkeit. Wir wollen uns daran erinnern, daß die Fähigkeit zu beten, da sie eine Gewohnheit ist, wie andere Gewohnheiten durch Übung erworben werden muß. Um schließlich gut zu beten, müssen wir damit beginnen, mangelhaft zu beten, denn unser ganzes Tun ist mangelhaft. Ist das nicht klar? Wer würde bei irgendeinem anderen Werk, bevor er es tut, zuwarten, bis er es vollkommen tun kann? Der Gedanke ist unsinnig. Jedoch solche, die aus dem eben erwähnten Grund Einwände gegen die Gebetsformel erheben, fallen in diesen sonderbaren Irrtum. Wenn wir allerdings zu Gott beten und Ihn preisen könnten wie die Engel, bedürften wir nicht der Gebetsformeln; aber Formeln sollen jene, die unzulänglich beten, lehren, besser zu beten. Sie sind Hilfen für unsere Frömmigkeit, da sie uns lehren, um was und wie wir beten sollen, wie der heilige Johannes und unser Herr jeweils ihre Jünger lehrten; ohne Zweifel, sogar der beste unter uns betet nur armselig und bedarf der Hilfe. Die Leute indessen, von denen ich spreche, glauben, daß das Gebet nichts anderes ist als der Ausdruck eines heftigen Gefühls, nicht die Tat einer Gewohnheit, sondern eine Erregung, und daher erscheint solchen natürlich gerade die Ansicht vom Lernen des Betens unsinnig. Doch diese Nachgiebigkeit gegen das Gefühl gründet, wie gesagt, in Wahrheit auf einem Irrtum.

4. Ferner sind Formeln nützlich, um unserem Gedächtnis nachzuhelfen und um uns sofort vollständig und in der rechten Reihenfolge vor Augen zu stellen, um was wir zu beten haben. Daraus folgt nicht, daß es dann am leichtesten ist zu beten, wenn das Herz wirklich erfüllt ist von dem Gedanken an Gott und wach für die Wirklichkeit des Unsichtbaren. Im Gegenteil, je tiefere Einsicht wir in Seine Majestät und in unsere unzähligen Nöte haben, desto weniger werden wir unsere Gedanken in Worte kleiden können. Der Zöllner konnte nur sagen „Gott sei mir Sünder gnädig“ (Lk 18, 13); das war genug, um wohlgefällige Annahme zu finden; aber einen so kargen Dienst anbieten heißt nicht die Gabe des Gebetes, das Vorrecht des erlösten und erhöhten Gotteskindes, betätigen. Wen Christus mit Seiner Gnade erleuchtet hat, der ist Erbe von allem. Er nimmt Anteil an der Vielzahl weltlicher Angelegenheiten. Er hat einen unbegrenzten Pflichtenkreis nach innen und außen, er hat eine herrliche Aussicht vor sich. Die Heiligen sollen im Jenseits die Welt richten; sollen sie nicht hier Kenntnis nehmen von deren Taten? Sind sie nicht in einem gewissen Sinn Ratgeber und vertraute Diener ihres Herrn, Fürsprecher am Throne der Gnade, die geheimen Sachwalter, durch und für die Er Seine erhabene Vorsehung lenkt und die Völker zu ihrem Schicksal führt? Und ist das Ziel ihrer Wünsche einfach nur die Verzeihung und wohlgefällige Annahme für sie selbst (wie ausnehmend große Segnungen das auch sein mögen)? Wenn das alles wäre, könnten sie mit dem Gebet des Zöllners zufrieden sein. Ist ihnen nicht vielmehr geboten, zur Vollkommenheit fortzuschreiten, den ihnen gegebenen Geist zu nutzen, ihr eigenes Herz zu weiten und zu reinigen und die menschliche Natur zur Fülle ihrer Fähig­keiten zu entfalten nach dem Bilde des Gottes­sohnes? Wer besitzt hinreichende Kraft, an alle diese Dinge auf einmal zu denken? Wessen Geist ist nicht bei dem Blick auf sein eigenes unermeßliches Vorrecht überwältigt, so daß er nach Worten des Gebetes und der Fürbitte sucht, sie sorgfältig zusammenstellt entsprechend der Zahl und der Beschaffenheit der verschiedenen Bitten, die er vorzubringen hat? Daher kommt es, daß derjenige, welcher planlos betet, tatsächlich einen großen Teil des Vorrechtes verliert, mit dem die Taufe ihn beschenkt hat.

5.  Der Vorteil einer Formel als Hilfe für das Gedächtnis tritt ferner noch mehr in Erscheinung, wenn wir die Ansprüche dieser Welt in Anschlag bringen, von denen die meisten Menschen umringt sind. Die Sorgen und Geschäfte des Lebensdrücken mit einer Wirklichkeit auf uns, die wir nicht übersehen dürfen. Werden wir die Dinge der kommenden Welt den zufälligen Gedanken unseres eigenen Geistes überlassen, welche in diesem Augenblicke kommen und im nächsten gehen und nicht zur Hand sein können, wenn die Zeit da ist, sie anzuwenden, wie unwirkliche Erscheinungen, die keinen Gehalt und keine Dauer haben? Diese Welt ist Satans wirksame Gestalt, sie ist das Werkzeug, durch das er seine mannigfachen Schlingen ordnet und verlockend auslegt; und diese werden ohne Zweifel uns ganz einfangen, sofern wir nicht auch den geistlichen Dingen, um die wir beten und uns mühen, Gestalt geben. Wie kurz sind die Zeiten, welche die meisten Menschen für das Gebet übrig haben? Ehe sie ihr Gedächtnis und ihren Geist sammeln können, ist ihre freie Zeit fast vorbei, sogar wenn sie die Kraft haben, die Gedanken dieser Welt, welche sie gerade vorher beschäftigten, fallen zu lassen. Die Gebetsformeln tun diese Arbeit für sie. Sie halten das Feld besetzt, damit der Satan die Zeiten der Andacht nicht schmälern kann. Sie sind wie ein feststehendes Denkmal, zu dem wir zurückkommen können wie zu einem Tempel Gottes und wo wir alles für unsere Gottesverehrung bereit finden, sobald wir eintreten, selbst wenn die uns morgens und abends zugemessene Zeit noch so beschränkt ist.

6. Dieser Nutzen der Gebetsformeln wird über unser Schätzungsvermögen hinaus groß für jene vielen Menschen, die, nachdem es eine Weile gut mit ihnen ging, in Sünde fallen. Wenn sogar gewissenhafte Menschen fortwährend Hilfe nötig haben, um an die kommende Welt erinnert zu werden, wie äußerst dringend brauchen sie dann jene, die sie zu vergessen suchen! Es kann nicht geleugnet werden, so schrecklich der Gedanke daran ist, daß weitaus die größere Zahl derer, die das Mannesalter erreichen, eine Weile (wenigstens) den Gott verläßt, der sie erlöst hat. Wenn solche dann in ihrer Jugend keine Gebete oder Psalmen gelernt oder benützt haben, um Ihn damit zu verehren, was hält sie davon ab, in ihren Seelen ganz den Gedanken an die Religion auszulöschen? Aber gerade hier haben die Formeln der Kirche immer ihren Kindern dazu gedient, sie sowohl auf dem Weg der Sünde zu hemmen, wie auch ihnen die richtigen Worte bei ihrer Reue in den Mund zu legen. Gelegentliche Worte und Wendungen ihres Gottesdienstes haften ihrem Gedächtnis an, sie tauchen in Augenblicken der Versuchung oder der Not auf, um sie zurückzuhalten oder sie zurückzugewinnen. Infolgedessen soll in den unreligiösesten Kreisen ein Unterschied sichtbar sein zwischen denen, die die Gelegenheit gehabt haben, unsere öffentlichen Formeln in ihrer Jugend zu gebrauchen, und denen, die nicht das Glück gehabt haben, sich in religiösen Eindrücken so zu festigen. Daher hat diese Wanderer inmitten der gedankenlosesten Lustbarkeit und des verwegensten Truges der Ausschweifung eine Art geheimer Ehrfurcht begleitet, die sie zurückhält vor jener Gottlosigkeit und ehrfurchtslosen Gesinnung, in der die anderen versucht haben, sich die Schuld und Gefahr ihres Handelns zu verheimlichen.

Sollten sie eine so hohe Gnadengunst erfahren, Reue zu empfinden, was für Freunde finden sie nun wohl inmitten ihres Dunkels an den Worten, die sie in ihrer Kindheit gelernt haben! Es ist jene liebevolle Stimme, die ihnen hilft, Worte zu finden, die sie sonst nicht vorzubringen wüßten, und ihren Geist auf jene Glaubenswahrheiten hinführt und sammelt, auf die sie schauen sollten, die sie aber nicht aus sich selbst finden können. So legt sie (gleichsam) mit der Kraft des Heiligen Geistes Fürbitte für sie ein, während die Natur nur stöhnen und in Geburtswehen liegen kann. Sie sind Sünder durch ihre eigenen, freiwilligen Missetaten und haben die Erwartung der Strafe vor Augen, erleuchtet von nur wenigen und matten Hoffnungsstrahlen. Was soll sie in dieser Lage abhalten von fieberkranker Unrast und von maßloser Furcht, was soll sie zu einem ruhigen und ergebenen Warten auf ihren Richter bewegen und zu so bescheidenen Anstrengungen, Ihm, wenn auch unzulänglich, zu gehorchen, wie es sich für einen Büßer geziemt? Was anders, als jene Worte, die lange in ihren Seelen begraben waren und nun wieder auferstehen werden mit dem Leben ihrer unverdorbenen Kindheit? Es bedarf keiner großen Erfahrung an Krankenbetten, um die Wahrheit dieser Tatsachen zu bestätigen. Gesegnet ist in der Tat die Kraft dieser Formeln, denen es auf diese Weise gelingt, den Sünder aus seiner gewohnten Bahn herauszubringen und vor ihn die Bilder seiner Jugend zu stellen, seine längst verstorbenen Erzieher, ihren Wandel und ihre Lehre, ihre frommen Übungen und ihr friedliches Ende. Mag all dies eine Gefühlsregung sein und nur eine Zeitlang andauern, so kann sie doch ausgenützt und in einen ständigen Gedanken an Personen und Taten umgewandelt werden, die zwar abgeschieden sind, aber in Gott weiterleben. Nützt er aber jene durch entsprechendes Handeln aus, so wird sie ein dauernder Grund werden, die künftige Welt zu suchen, eine dauernde Überzeugung, die ihn aus den Werken der Finsternis zurückerobert und ihn zu der demütigen Hoffnung auf künftige wohlgefällige Aufnahme bei seinem Heiland und Richter erhebt.

7. So groß ist die Macht der Gedankenverbindung, wenn wir das Böse der vergangenen Jahre wieder gutmachen und uns die Kindesunschuld ins Gedächtnis rufen. Doch das ist nicht alles, was wir aus den Gebeten, die wir benützen, gewinnen können, noch sind die reuigen Sünder die einzigen, die einen Nutzen davon haben. Wir wollen bedenken, welch lange Zeit hindurch unsere Gebete die mustergültigen Formeln der Frömmigkeit in der Kirche Christi gewesen sind, und dann werden wir einen neuen Grund, sie zu lieben, und eine neue Quelle des Trostes finden, wenn wir sie gebrauchen. Ich weiß, jeder wird hier anders fühlen entsprechend seiner besonderen Gedankenrichtung. Gibt es doch, wenn wir bei dem Gedanken verweilen, sicher wenige unter uns, die es als ein Vorrecht empfänden, die nämlichen Bitten, die Christus sprach, zu gebrauchen, wie wir es tun (z. B. im Gebet des Herrn). Er gab das Gebet und gebrauchte es. Seine Apostel gebrauchten es; alle Heiligen haben es seither gebraucht. Wenn wir es gebrauchen, scheinen wir in ihre Gemeinschaft einzugehen. Wer glaubt nicht, einem in der Geschichte berühmten Mann näher getreten zu sein, wenn er sein Haus, seinen Hausrat, seine Handschrift oder gar seine Bücher sieht? So bringt das Gebet des Herrn uns Christus und Seinen Jüngern in allen Zeitaltern näher. Was Wunder also, wenn in vergangenen Zeiten gute Menschen diese Gebetsformel für so heilig hielten, daß ihnen eine öftere Wiederholung unmöglich schien, im Gedanken, daß eine besondere Gnade ihren Gebrauch begleite. Doch wir können es nicht oft genug benützen; es enthält eine Art Zusicherung in sich, daß Christus uns lauscht; nicht oft genug, solange wir unsere Gedanken auf seine Bitten heften und unseren Geist ebenso wie unsere Lippen gebrauchen, wenn wir es immer wieder beten. Was vom Gebet des Herrn gilt, gilt entsprechend von den meisten Gebeten, welche die Kirche uns zu gebrauchen lehrt. Es gilt auch von den Psalmen und Glaubensbekenntnissen. Sie alle sind uns heilig geworden, weil sie uns erinnern an die verstorbenen Heiligen, die sie gebraucht haben und denen wir einst im Himmel zu begegnen hoffen. Eine Warnung gebe ich zum Schluß, was den Gebrauch dieser Ausführungen angeht. Hütet euch davor, daß eure Religion nur Sache des Gefühls sei, nicht der Übung. Man kann mit großer Anschaulichkeit von den alten Heiligen und der heiligen apostolischen Kirche sprechen, ohne die Glut oder die ausgesuchte Art seiner Frömmigkeit im Benehmen durchbrechen zu lassen. Manch einer gefällt sich darin, fromm zu sein in anmutsvoller Sprache; er liebt religiöse Erzählungen und Gesänge, jedoch ist er trotz allem kein besserer Christ. Die Werke eines jeden Tages, das sind die Beweise, ob unsere herrlichen Betrachtungen für unser Heil von Nutzen sind oder nicht. Wer eine einzige Tat des Gehorsams um Christi willen vollbringt, auch wenn er keine hohen Gedanken und keine erlesenen Gefühle hat, ist ein besserer Mensch und kehrt eher gerechtfertigt nach Hause als der beredteste Prediger und der feinfühligste Hörer der Herrlichkeit des Evangeliums, wenn er seine Erkenntnis nicht in die Tat umsetzt.