Die Religion des Tages

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24. Predigt, 26. August 1832

„Laßt uns dankbar sein, dadurch können wir Gott wohlgefällig mit Ehrfurcht und frommer Scheu dienen. Denn unser Gott ist ein verzeh­rendes Feuer“ (Hebr 12,28.29).

In jedem Zeitalter des Christentums, seitdem es zum erstenmal gepredigt worden ist, hat es etwas gegeben, was man eine Religion der Welt nennen kann. Sie ahmt die eine wahre Religion so sehr nach, daß sie den Unbeständigen und Unbedachtsamen täuscht. Die Welt stellt sich nicht der Religion als solcher entgegen. Ich möchte sagen, sie hat sich ihr niemals entgegengestellt. In Sonderheit hat sie zu allen Zeiten im einen oder anderen Sinn das Evangelium Christi aner­kannt, sich an das eine oder andere seiner Merk­male gehalten und vorgegeben, dieses dem prak­tischen Leben einzuverleiben. In Wirklichkeit hat sie aber, weil sie die anderen Teile der heiligen Lehre vernachlässigte, selbst jene entstellt undverdorben, welche sie ausschließlich voranstellte, und so hat sie es fertiggebracht, das Ganze weg zu erklären, – denn wer sich nur an eine Vorschrift des Evangeliums unter Ausschluß der übrigen hält, beachtet in Wirklichkeit überhaupt keine.

Unsere Pflichten halten sich gegenseitig das Gleichgewicht. Obwohl wir zwar zu sündig sind, um sie alle vollkommen zu erfüllen, so können wir doch in einem gewissen Maß ihnen allen nachkommen und im ganzen das Gleichgewicht halten. Dagegen nur dieses oder jenes Gebot erfüllen, heißt un­seren Geist in eine falsche Richtung lenken und ihn schließlich auf die Erde niederzerren, und das ist gerade das Ziel des Widersachers, des Teufels. Es ist sein Ziel, unsere Kraft zu brechen, uns zur Erde niederzuzwingen, – uns daselbst zu fesseln. Die Welt ist ihm Werkzeug zu diesem Zweck; aber er ist zu klug, um diese in offenen Wider­spruch zum Wort Gottes zu setzen. Nein, er gibt vor, ein Prophet wie die Propheten Gottes zu sein. Er nennt seine Diener auch Propheten, und diese mischen sich unter den zerstreuten Rest der wahren Kirche, unter die vereinzelten Michäas[i], die auf der Erde verblieben sind und im Namen des Herrn reden. In einem gewissen Sinn künden sie die Wahrheit, aber es ist nicht die ganze Wahr­heit. Wir wissen aber schon aus der gewöhnlichen Lebenserfahrung, daß die halbe Wahrheit oft die gröbste und verderblichste Lüge ist. Sogar in der ersten Zeit der Kirche, während die Verfolgung noch wütete, stellte der Teufel eine Gegenreligion unter den Philosophen des Tages auf, zum Teil dem Christentum ähnlich, aber in Wahrheit seine erbitterte Gegnerin. Diese Reli­gion aber täuschte und ließ die im Glauben Schiff­bruch leiden, welche die Gottesliebe nicht in ihren Herzen hatten. Die Zeit schritt weiter und der Teufel ersann ein zweites Trugbild des wahren Christus, welches viele Jahre hindurch im Tempel Gottes blieb. Das Zeitalter war roh und gewalttätig. Satan machte sich die dunklere Seite des Evangeliums zunutze: seine schreckliche Dunkelheit, seine furchtbare Herrlichkeit, seine souveräne, unbeugsame Ge­rechtigkeit: und hier gipfelt sein Bild der Wahr­heit in den Satz: „Gott ist ein verzehrendes Feuer“; wir wissen, daß der Text es sagt. Wir wissen aber noch mehr, nämlich daß Gott auch die Liebe ist. Satan jedoch fügte dieses seiner Religion nicht hinzu, die so zu einer Religion der Furcht wurde. Die Religion der Welt war damals eine furchtbare Religion: Aberglaube und Grausamkeit nahmen überhand. Die edle Festigkeit, die gnä­dige Härte des wahren Christen wurden durch Schreckgespenster verdrängt mit düsterem Blick und stolzer Stirn; und diese waren die Vorbilder oder Tyrannen eines betörten Volkes. Welches ist Satans Kunstgriff in diesen Tagen? Ein ganz anderer; aber vielleicht ein umso ver­derblicherer. Ich will versuchen, ihn zu entlarven oder besser, einige Bemerkungen zu seiner Ent­larvung nahezulegen für jene, die es der Mühe wert erachten, es zu versuchen; denn die Frage ist zu umfassend und zu schwierig für eine Gelegen­heit wie die gegenwärtige, und schließlich kann keiner für einen anderen den Irrtum entdecken; jeder muß es für sich selbst tun; wir können nur einander helfen.

Welches ist heute die Religion der Welt? Sie hat die lichtere Seite des Evangeliums angenommen – seine Botschaft des Trostes, seine Vorschriften der Liebe; dagegen sind alle dunkleren, tieferen Ein­blicke in des Menschen Lage und Zukunft ziemlich vergessen. Das ist die Religion, die für ein zivili­siertes Zeitalter natürlich ist, und geschickt hat sie Satan in ein Trugbild der Wahrheit gekleidet und ausgeschmückt. Wenn die Vernunft ausgebildet wird, der Geschmack geformt ist und die Nei­gungen und Gefühle verfeinert sind, wird natür­lich eine allgemeine Anständigkeit und Anmut sich über das Antlitz der Gesellschaft verbreiten, ganz unabhängig vom Einfluß der Offenbarung. Jene Schönheit und Erlesenheit des Denkens, die in Büchern so anziehend ist, dehnt sich dann auf die Lebensführung aus, auf alles, was wir haben, alles, was wir tun, und alles, was wir sind. Unser Benehmen ist höflich; wir vermeiden es, zu ver­letzen und zu beleidigen, unsere Worte werden korrekt; wir kommen unseren jeweiligen Pflichten sorgfältig nach. Unser Sinn für Schicklichkeit zeigt sich sogar in unseren häuslichen Einrichtungen, in der Ausschmückung unserer Häuser, in unseren Unterhaltungen und so auch in unserem religiösen Bekenntnis. Das Laster wird nun unschicklich und abstoßend für die Vorstellung, oder, wie es manchmal landläufig heißt, „es ist aus der Mode“. So wird feines Benehmen allmählich zum Prüf­stein und Maßstab der Tugend gemacht, die, wie man glaubt, keinen inneren Anspruch mehr auf unser Herz besitze, und nur soweit Daseinsberech­tigung habe, als sie zur Ruhe und zum Trost anderer führt. Das Gewissen wird nicht mehr als ein unabhängiger Schiedsrichter der Handlungen anerkannt, seine Autorität wird wegerklärt; teil­weise wird es in den Seelen der Menschen durch das sogenannte sittliche Empfinden verdrängt, das nur als die Liebe zum Schönen betrachtet wird; teilweise durch den Nützlichkeitsstandpunkt, der alsbald in den Einzelheiten der Lebensführung an seine Stelle tritt. Nun ist das Gewissen ein stren­ger und finsterer Richter: es spricht uns von Schuld und von der zu gewärtigenden Strafe. Wenn also seine Schrecken verschwinden, dann verschwinden auch im Credo der heutigen Zeit jene Schreckbilder vom göttlichen Zorn, von denen die Schrift übervoll ist. Man erklärt sie weg. Alles ist hell und heiter. Die Religion ist angenehm und leicht; Wohlwollen ist die Haupttugend; Un­duldsamkeit, Frömmelei und Übereifer sind die schlimmsten Sünden. Härte ist absurd; – sogar Festigkeit wird mit unfreundlichen, argwöhnischen Augen betrachtet. Andererseits wird jede offene Ausschweifung mißbilligt! Trunkenheit gilt als eine Schande; Fluchen und Verwünschen ist ge­mein. Außerdem wird einem gebildeten Geist, der seine freie Zeit mit der Mannigfaltigkeit der Lite­ratur und des Wissens ausfüllt, der sich neugierig den sich immer mehr häufenden Entdeckungen der Naturwissenschaft und den immer frisch auf­tretenden politischen oder sonstigen Nachrichten aus fremden Ländern zuwendet, die Religion ge­wöhnlich aus Mangel an Neuigkeiten langweilig erscheinen. Daher sucht und belohnt man eifrig neue Anregungen. Neue religiöse Themen in der Religion, neue Systeme und Pläne, neue Lehren und neue Prediger sind notwendig, um jene Gier zu befriedigen, welche die sogenannte Allgemein­bildung geschaffen hat. Der Geist wird krankhaft empfindlich und wählerisch; er ist unzufrieden mit den Dingen, wie sie sind, und begierig nach der Abwechslung als solcher, als ob Veränderung an sich eine Erleichterung sein müßte. Nun möchte ich, daß ihr das Christentum einen Augenblick aus euren Gedanken schlagt und er­wägt, ob ein solcher Zustand der feinen Bildung, wie ich ihn zu beschreiben versucht habe, nicht gerade das ist, wozu Menschen, ganz unabhängig von der Religion, durch den bloßen Einfluß von Erziehung und Bildung kommen können; dann weiter, ob nichtsdestoweniger diese bloße feine Geistesbildung so ziemlich alles ist, was in unseren Tagen Religion genannt wird. Mit anderen Wor­ten, ist es nicht so, daß Satan alles so zusammen­gestellt und ausgeschmückt hat, was unter Um­ständen das rein natürliche Erzeugnis des mensch­lichen Herzens ist, das seinen Zwecken als das Gegenbild der Wahrheit dienen kann? Ich leugne keineswegs, daß dieser Geist der Welt Worte ge­braucht und Überzeugungen äußert, die er sich nicht zu eigen gemacht hätte, hätte die Schrift sie ihm nicht nahegelegt. Auch leugne ich nicht, daß er eine allgemeine Färbung vom Christentum her­nimmt, so daß er wirklich von diesem gewisse Spuren erhält, ja, in einem gewissen Maß aufge­lichtet und erhöht wird. Ferner gebe ich durchaus zu, daß viele, in denen dieser üble Geist sich zeigt, nur teilweise von ihm angesteckt und im Grunde gute, wenn auch unvollkommene Christen sind. Und doch spricht sich hierin eine tatsächliche Lehre aus, nur teilweise neutestamentlich, aufgebaut auf weltliche Grundsätze, die zwar vorgibt, das Evan­gelium zu sein, aber eine ganze Seite des Evan­geliums fallen läßt, nämlich seinen strengen Cha­rakter, und es als hinreichend ansieht, wohlwollend, höflich, offen, korrekt im Benehmen und zart­fühlend zu sein; – obgleich diese Haltung keine wahre Gottesfurcht einschließt, keinen glühenden Eifer für Seine Ehre, keinen tiefen Haß  der Sünde, keinen Abscheu beim Anblick der Sünder, keinen Unwillen und kein Mitleid ob der Läste­rungen der Häretiker, keine eifernde Bindung an die wahre Lehre, keine besondere Empfindsam­keit in der Wahl der geeigneten Mittel, die zum Ziele führen, vorausgesetzt, daß die Ziele gut sind; keine Treue zur heiligen apostolischen Kirche, von der das Credo spricht, keinen Sinn für eine außerhalb des Geistes liegende Autorität der Re­ligion: mit einem Wort, keine Ernsthaftigkeit, – eine Haltung, die daher weder heiß noch kalt, sondern (in der Sprache der Schrift) lau ist. So ist die heutige Zeit das gerade Gegenteil zu jenen Zeitaltern, die man gemeinhin die dunklen nennt; und zusammen mit den Fehlern jener Zeiten haben wir auch ihre Tugenden verloren. Ich sage ihre Tugenden; denn sogar die damals vorherr­schenden Irrtümer, z. B. Verfolgungsgeist, Furcht vor religiöser Forschung, blinder Eifer, waren schließlich nur Verkehrungen und Übersteigerun­gen wirklicher Tugenden, wie des Eifers und der Ehrfurcht. Anstatt sie einzuschränken und zu läu­tern, haben wir sie mit Stumpf und Stiel ausge­rottet. Warum? Weil wir nicht aus Liebe zur Wahrheit gehandelt haben, sondern unter dem Einfluß der Zeit. Die alte Generation ist ver­gangen .und ihr Charakter mit ihr; eine neue Ordnung der Dinge ist entstanden. Die mensch­liche Gesellschaft hat einen neuen Rahmen und begünstigt und entwickelt eine neue geistige Hal­tung. Diese neue Haltung wird vom Feind unserer Seele geschaffen, um den Gehorsam des Christen so genau als möglich nachzuahmen, indes ist all die Zeit hindurch die Ähnlichkeit mit ihm nur zufällig. Mittlerweile setzt die heilige Kirche wie von Anfang an ihren Lauf himmelwärts fort. Sie ist verachtet von der Welt, beeinflußt sie jedoch, verbessert sie zum Teil, hält sie zum Teil zurück und gewinnt in einigen glücklichen Fällen ihr die Opfer wieder ab und stellt sie fest und für immer in die Reihen der treuen, hier auf Erden streiten­den Schar, die zu der Stadt des großen Königs pilgert. Gott gebe uns die Gnade, unser Herz zu prüfen, damit wir nicht durch den Trug der Sünde geblendet werden! Damit wir nicht Satan dienen, der sich in einen Engel des Lichtes verwandelt hat, während wir der wahren Erkenntnis zu folgen glauben, damit wir nicht die Auserwählten Christi unbeachtet lassen und mißhandeln und am Jüng­sten Tage jene schreckliche Frage zu stellen haben, während die Wahrheit über uns hereinbricht, „Herr, wann haben wir Dich als Fremdling und Gefangenen gesehen?“ Wann haben wir Dein heiliges Wort und Deine Diener verachtet und unterdrückt gesehen, „und haben Dir nicht ge­dient?“ (Mt 25, 44).

Nichts zeigt überzeugender die Macht der heu­tigen, soeben beschriebenen Religion, als ein Blick auf die verschiedenen Menschenklassen, die ihrem Einfluß unterstehen. Wir werden finden, daß sie ihre Macht und ihr Leben sowohl auf die ausge­sprochen Religiösen wie Irreligiösen ausdehnt.

1. Viele religiöse Menschen haben lange, mit Recht oder Unrecht, ein tausendjähriges Reich der Rein­heit und des Friedens für die Kirche erwartet. Ich will nicht sagen, mit oder ohne Grund, denn gute Menschen können wohl über eine solche Frage verschieden denken. Aber, es sei dem wie ihm wolle, für jene, die es erwartet haben, ist es eine Versuchung geworden, die Religion der Welt an zunehmen und anzuerkennen, wie ich sie eben ge­kennzeichnet habe. Sie haben ihre Anschauung von Christi Reich mit der Eleganz und Feinheit bloßer menschlicher Zivilisation mehr oder weni­ger gleichgesetzt und haben jedes Anzeichen eines verbesserten Anstandes, jede zweckmäßige bürger­liche Einrichtung, jedes wohltätige und vernünf­tige Staatsgesetz als Zeichen ihres kommenden Herrn begrüßt. Da sie entschlossen waren, ihr Ziel zu erreichen, nämlich eine umfassende und herrliche Ausbreitung und Bekennung des Evan­geliums, sind sie wenig um die angewandten Mittel besorgt gewesen. Sie haben Menschen be­günstigt und mit ihnen zusammengearbeitet, die offen unchristliche Grundsätze vertraten. Sie haben Dinge angenommen und verteidigt, die sie als Reformen und Verbesserungen der bestehenden Zustände betrachteten, obwohl Unrecht begangen werden mußte, um sie durchzuführen, oder längst gehegte Lebensregeln verletzt werden mußten, die vielleicht in ihrem Ursprung indifferent, aber durch langen Gebrauch geheiligt waren. Sie haben die Wahrheit der Nützlichkeit geopfert. Sie haben sich sonderbarerweise vorgestellt, daß böse Men­schen die unmittelbaren Werkzeuge der nahenden Ankunft Christi sein sollen; und haben (gleich den enttäuschten Juden vor nicht langer Zeit in einem fremden Land), wenn nicht für ihren Messias (wie die Juden), so doch für ihren Elias, ihren refor­mierenden Täufer, den Herold Christi, Kinder dieser Welt und Söhne des Belial genommen, auf denen von Anfang an die Drohung des Apostels liegt, die erklärt, „wenn einer den Herrn Jesus Christus nicht liebt, sei er ausgeschlossen. Maranatha“ (1 Kor 16, 22).

2. Andererseits ist die Art der Lehre, welche ich die Religion des Tages genannt habe, besonders geeignet, skeptischen Geistern zu gefallen. Sie sind das andere Extrem zu den eben erwähnten; sie waren nie darum besorgt, ihrem Gewissen zu ge­horchen, sie bilden den Verstand aus, ohne das Herz in Zucht zu halten, und nehmen sich heraus, über alles frei nachzusinnen, was Religion sein sollte, ohne zur Schrift zu gehen und dort zu entdecken, was sie wirklich ist. Manche Leute dieser Art be­trachten die Religion beinahe als ein Hindernis im Fortschritt unserer sozialen und politischen Wohlfahrt, aber sie wissen, daß die menschliche Natur sie braucht. Daher wählen sie die vernünf­tigste Form der Religion (so nennen sie es) aus, die sie finden können. Andere sind weit ernster eingestellt, aber sie sind durch schlechtes Beispiel oder sonst wie verdorben. Sie alle aber verwerfen das, was sie die finstere Seite der Religion nennen; sie alle vertrauen mehr auf sich selbst als auf Gottes Wort, und darum kann man sie in eine Reihe stellen. Sie möchten die gefällige, tröstliche Religion annehmen, wie sie einem feingebildeten Zeitalter natürlich ist. Sie legen großen Nachdruck auf Werke über natürliche Theologie und glauben, daß alle Religion darin enthalten ist. Es gibt da­gegen in Wahrheit keine größere Täuschung als anzunehmen, solche Werke seien in sich selbst überhaupt in einem wahren Sinn religiös. Religion ist, wie richtig bemerkt wurde, etwas, das uns an­geht: ein System von Geboten und Verheißungen Gottes an uns. Aber was haben wir mit Sonne, Mond und Sternen zu tun oder mit den Gesetzen des Weltalls? Wie können sie uns unsere Pflicht lehren? Wie können sie zu Sündern sprechen? Sie sprechen zu Sündern überhaupt nicht. Sie wurden geschaffen, bevor Adam fiel. Sie „tun die Herrlichkeit Gottes kund“ (Ps 18, 2), aber nicht Seinen Willen. Sie sind alle vollkommen und harmonisch; aber dieser Glanz und diese Vortrefflichkeit, die sie in ihrer eigenen Geschöpflichkeit zur Schau stellen, und die darin sichtbare göttliche Güte sind von geringer Bedeutung für den gefallenen Menschen. Wir sehen da nichts von Gottes Zorn, von dem das Gewissen eines Sünders laut spricht. So kommt es, daß es keinen gefähr­licheren (obwohl gewöhnlichen) Betrug Satans geben kann, als uns wegzuführen von unseren ver­borgenen Gedanken, uns das eigene Herz ver­gessen zu lassen, das uns von einem Gott der Ge­rechtigkeit und Heiligkeit kündet, und unsere Auf­merksamkeit nur auf einen Gott zu lenken, der die Himmel schuf. Dieser ist zwar unser Gott, aber nicht der Gott, wie Er uns Sündern geoffenbart ist, sondern wie Er Seinen Engeln und Seinen Auserwählten im Jenseits erstrahlt. Wenn jemand sich soweit betrogen hat, daß er sein Geschick dem anvertraut, was der sichtbare Himmel ihm darüber sagt, anstatt sein Gewissen zu befragen und ihm zu gehorchen, was ist dann die Folge? Er mißdeutet und verkehrt alsbald den ganzen Sinn der Schrift. Man kann nicht leugnen, daß die Erfüllung der religiösen Pflichten nach der Erklärung der Schrift zwar dem Heiligen an­genehm ist, doch für die Menschen im allge­meinen als schwierig und widerwärtig dargestellt wird; sie ist allen Menschen von Natur aus un­möglich und wird von wenigen verwirklicht, trotz des Beistandes der Gnade, infolge ihrer freiwilli­gen Verderbtheit. Man erklärt, die Religion sei gegen die Natur, sei gegen unseren ursprünglichen Willen, sie brauche Gottes Hilfe, um uns dahin zu bringen, sie zu lieben und ihr zu gehorchen, und sie werde gewöhnlich zurückgewiesen und be­kämpft trotz dieser Hilfe. Es wird uns ausdrück­lich gesagt, daß „das Tor eng und der Weg schmal ist, der zum Leben führt, und daß es wenige gibt, die ihn finden“ (Mt 7, 14); daß wir uns „mühen“ oder uns wehren müssen, „durch das enge Tor einzugehen“, weil „viele es nur versuchen einzu­treten“ (Lk 13, 24) – was aber nicht genug ist, da sie nur suchen und daher nicht finden; und ferner, daß die, welche nicht das ewige Leben er­langen, „zur ewigen Strafe eingehen werden“ (Mt 25, 46). Dies ist die dunkle Seite der Religion, und die Menschen, die ich beschrieben habe, können den Gedanken daran nicht ertragen. Sie weichen davor zurück als vor etwas allzu Schreck­lichem. Sie verstehen sich leicht zu der Annahme, daß diese nachdrücklichen Weisungen der Schrift nicht für unsere Zeit passen oder nur bildlich sind. Sie haben keine Sprache in ihrem Herzen, die ihnen antwortet. Ihr Gewissen ist zum Schweigen gebracht worden. Die einzige Kunde, die sie über Gott erhalten haben, stammt aus der natürlichen Theologie, und diese spricht nur vom Wohlwollen und Harmonie. Daher wollen sie dem klaren Wort der Schrift nicht glauben. Sie versteifen sich auf jene Teile der Schrift, die ihre eigenen Meinungen zu begünstigen scheinen; sie bestehen darauf, daß uns geboten sei, uns „zu freuen immerdar“ (Phil 4, 4). Sie bringen vor, daß es unsere Pflicht ist, uns hier zu erheitern (mit Maß natürlich) an den Gü­tern dieses Lebens, – daß wir nur dankbar sein sollen, während wir sie benützen, – daß wir uns nicht zu beunruhigen brauchen, – daß Gott ein Gott des Erbarmens ist, – daß Besserung vollauf genügt, um für unsere Übertretungen zu sühnen, – daß das Ungeordnete unserer Jugend eine über­wundene Sache ist, – daß wir es vergessen und Gott es daher auch vergißt, – daß die Welt im großen ganzen für die Religion viel übrig hat, – daß wir schwärmerisches Wesen vermeiden sollen, – daß wir es mit unserem Ernst nicht übertreiben sollen, – in Dingen der menschlichen Natur groß­zügig sein sollen und alle Menschen lieben sollen. Das ist tatsächlich zu allen Zeiten das Credo ober­flächlicher Menschen, die sich ein wenig mit Den­ken abgeben, überhaupt kein Gefühl haben und sich selbst für aufgeklärt und weise halten. Ein Teil dessen, was sie sagen, ist falsch, ein Teil ist wahr, aber verkehrt angewandt. Der Grund aber, weshalb ich es hier angeführt habe, ist der, zu zeigen, wie genau es übereinstimmt mit der so­eben beschriebenen religiösen Eigenart eines zivili­sierten Zeitalters. Es paßt genau so gut dazu wie das der (sogenannten) religiösen Welt, welche das entgegengesetzte Extrem ist.

Eine weitere Bemerkung will ich über diese aus­gesprochen rationalen Christen machen. Sie gehen, es sei bemerkt, oft dazu über, die Geheimnisse des Evangeliums zu leugnen. Wir wollen den Vor­spruch nehmen: – „Unser Gott ist ein verzehren­des Feuer“. Angenommen, solche Leute stießen auf diese Worte oder hörten, wie sie als Beweis­grund geltend gemacht würden gegen ihre eigenen Lehren von dem reinen genugtuenden Charakter unserer Erwartungen in der kommenden Welt, und angenommen, sie wüßten nicht, in welchem Teil der Bibel sie vorkommen, was würden sie sagen? Zweifellos würden sie zuversichtlich be­haupten, daß diese nur auf die Juden und nicht auf die Christen sich beziehen; daß sie nur den göttlichen Urheber des mosaischen Gesetzes be­schreiben (Dt 4,24); daß früher Gott in Schrecknissen zu den Juden sprach, weil sie ein rohes und tierisches Volk waren, daß aber die Zivilisation uns zu ganz anderen Menschen gemacht hat; daß an unsere Vernunft, nicht an unsere Angst appelliert wird und daß das Evangelium Liebe ist. Und doch, trotz dieser ganzen Beweisführung kommt der Text im Brief an die Hebräer vor, geschrieben von einem Apostel Christi.

Ich will schließen mit einer erschöpfenderen Dar­stellung dessen, was ich unter der dunklen Seite der Religion verstehe und welches Urteil über Aberglauben und Düsterkeit gefällt werden sollte. Ich will hier nicht davor zurückschrecken, meine feste Überzeugung zu äußern, daß es ein Gewinn für dieses Land wäre, wenn es weit abergläubischer, bigottischer, düsterer und hitziger in seiner Religion wäre, als es sich gegenwärtig zeigt. Nicht natürlich, daß ich die damit verbundene Geistes­haltung für wünschenswert erachte, denn das wäre eine offensichtliche Torheit; aber ich halte sie für weit wünschenswerter und hoffnungsvoller als eine heidnische Verstocktheit und eine kalte, selbstgenügsame und selbstkluge Gelassenheit. Zweifellos sind Seelenfrieden, ein ruhiges Ge­wissen und ein heiteres Antlitz die Gabe des Evangeliums und das Kennzeichen eines Christen; aber die gleichen Wirkungen (oder vielleicht die scheinbar gleichen) können aus ganz verschiedenen Ursachen entstehen. Jonas schlief im Sturm, – so auch unser Herr. Der eine schlief in einer sünd­haften Sicherheit, der andere im „Frieden Gottes, der jeden Begriff übersteigt“ (Phil 4, 7). Die bei­den Zustände können nicht miteinander vermengt werden, sie sind vollkommen verschieden; und so verschieden ist die Ruhe des Weltmenschen von jener des Christen. Nehmt nun den Fall der See­leute an Bord des Schiffes; sie schrien Jonas an, „was fällt dir ein, du Schläfer?“ (Jon 1, 6). In gleicher Weise sagten die Apostel zu Christus: „Herr, wir gehen zugrunde“ (Mt 8,25). Das ist der Fall der Abergläubischen; sie stehen zwischen dem falschen Frieden des Jonas und dem wahren Frieden Christi; sie stehen höher als der eine, aber weit unter dem andern. Wenn ich das auf die jetzige Religion der gebildeten Welt anwende, die so voll von Sicherheit, Heiterkeit, Anständigkeit und Wohlwollen ist, mache ich die Beobachtung, daß diese Erscheinungen entweder von hoher Re­ligiosität oder von dem Mangel daran herrühren; sie können die Frucht eines oberflächlichen Geistes und eines verblendeten Gewissens sein, oder jenes Glaubens, welcher Frieden mit Gott hat durch unsern Herrn Jesus Christus. Wäre hier zu wäh­len, so könnte ich es dem gesunden Menschenver­stand überlassen zu entscheiden (falls man sich dazu bringen könnte, ernsthaft zu denken), auf welche der beiden die Einstellung der heutigen Zeit paßt. Was mich angeht, kann ich nicht im Zweifel sein in Anbetracht dessen, was ich von der Welt sehe, daß sie aus dem Schlaf des Jonas wächst und daher nur ein Traum von Religion ist. Sie ist weit geringer im Wert gegenüber der wohl-begründeten Unruhe der Abergläubischen, die wach sind und ihre Gefahr sehen, obwohl sie nicht so weit im Glauben gelangen, daß sie seine Heil­mittel anwenden.

Denket daran, ich bitte euch, meine Brüder, und nehmt es euch zu Herzen, soweit ihr mit mir über­einstimmt, denn am Jüngsten Tage werdet ihr verantwortlich sein, darum, daß ihr es gehört habt. Ich möchte nicht gern hart sein; aber da ich weiß, „daß die Welt im argen liegt“ (1 Joh 5,19), halte ich es für höchst wahrscheinlich, daß ihr, soweit ihr in der Welt seid (wir alle müssen in der Welt sein, jeder in seiner Weise), in der Mehrzahl von ihrem vorhandenen Irrtum teilweise angesteckt seid, von jener oberflächlichen Religion, welche das Ergebnis eines verblendeten Gewissens ist. Aus diesem Grund spreche ich in allem Ernst zu euch. Da ich an das Dasein einer allgemeinen Seuche im Land glaube, schließe ich daraus, daß ihr wahrscheinlich Anteil habt an den Leiden, an den selbstgewählten Leiden, die sie unter uns verbreitet. Die Furcht Gottes ist der Anfang der Weisheit; solange ihr nicht seht, daß Er ein ver­zehrendes Feuer ist, und als Sünder Ihm euch nicht mit Ehrfurcht und frommer Scheu naht, seid ihr nicht einmal in Sicht des schmalen Tores. Ich möchte nicht, daß ihr je auf einen Zeitpunkt hin­weisen könnt, da ihr der Welt entsagtet (wie man es nennt), und bekehrt wurdet; denn das ist eine Täuschung. Furcht und Liebe müssen Hand in Hand gehen: immer Furcht, immer Liebe bis zu unserem Sterbetag. Zweifellos; – immer müßt ihr wissen, was es heißt, in Tränen hier zu säen, wenn ihr hiernach in Freuden ernten wollt. Solange ihr nicht die Schwere eurer Sünde kennt, und das nicht nur in der bloßen Einbildung, sondern in praktischer Erfahrung, das will heißen, nicht sie bloß in einer formelhaften Phrase der Klage, sondern täglich und verborgen in eurem Herzen bekennen, könnt ihr das Angebot des Erbarmens nicht ergreifen, das uns im Evangelium durch den Tod Christi dargereicht wird. Solange ihr nicht wißt, was es bedeutet, mit den erschreckten See­leuten oder den Aposteln zu fürchten, könnt ihr nicht mit Christus schlafen zu Füßen eures himm­lischen Vaters. So beklagenswert der Aberglaube der dunklen Zeitalter war, so abstoßend die Selbstzerfleischungen sind, die jetzt unter den Heiden des Ostens Anwendung finden, so ist es besser, weit besser, den Körper alle Tage seines Lebens zu quälen und dieses Leben zu einer Hölle auf Erden zu machen, als hier in einer kurzen Ruhe zu verharren, bis die Grube unter uns sich schließlich auftut und uns aufweckt zu einem ewigen fruchtlosen Wachsein, zu ewig fruchtloser Reue. Denkt an Christi eigene Worte: „Was wird der Mensch als Lösegeld für seine Seele geben?“ (Mt 16,26). Und wiederum sagt Er: „Fürchtet Den, welcher, nachdem Er getötet hat, auch die Macht hat, in die Hölle zu werfen. Ja, ich sage euch, Diesen fürchtet!“ (Lk 12, 5). Wagt nicht zu denken, ihr seiet auf den Grund eures Herzens gekommen; ihr wißt nicht, wieviel Böses dort liegt. Wie lange und ernst müßt ihr beten, wie viele Jahre müßt ihr in gewissenhaftem Gehorsam ver­bringen, bevor ihr irgend ein Recht habt, die Reue beiseite zu tun und euch im Herrn zu erfreuen? In einem gewissen Sinn könnt ihr zwar von An­fang an Trost schöpfen; denn obgleich ihr nicht anzunehmen wagt, daß ihr unter der Zahl der wahren Auserwählten Christi seid, wißt ihr doch von Anfang an, daß Er eure Rettung will, für euch gestorben ist, eure Sünden durch die Taufe abgewaschen hat und immer euer Helfer sein will. Dieser Gedanke muß euch ermutigen, während ihr fortfahrt, euer Leben zu prüfen und zu überblicken und euch in Selbstverleugnung zu Gott hinzuwen­den. Zur gleichen Zeit könnt ihr aber nie eurer Rettung sicher sein, solange ihr hier seid. Daher müßt ihr immer fürchten, während ihr hofft. Die Erkenntnis eurer Sünden wächst mit eurem Ein­blick in Gottes Barmherzigkeit durch Christus. Das ist der wahre christliche Zustand und die größte Annäherung an Christi ruhigen, friedlichen Schlaf während des Sturmes; – nicht die voll­kommene Freude und Gewißheit im Himmel, son­dern eine tiefe Ergebung in Gottes Willen, die Auslieferung an Ihn mit Leib und Seele; daß wir hoffen, gerettet zu werden, aber unsere Augen mit größerem Ernst auf Ihn als auf uns richten; was da heißt, daß wir zu Seiner Ehre handeln, Ihm zu gefallen suchen; daß wir uns Ihm weihen in allem männlichen Gehorsam und eifrigen guten Werken, und daß wir, in unser Inneres schauend, uns mit Abscheu und Verachtung als Sünder er­kennen, unser Fleisch abtöten, unsere Begierden züchtigen und vertrauensvoll der Zeit harren, wo wir, sofern wir würdig sind, unseres jetzigen Selbst entkleidet und im Reiche Christi neu ge­schaffen werden.


[i] Michäas = Michäasgestalten. Der Prophet, der den Untergang des Nordreiches und seiner Hauptstadt Samaria mit angesehen hat, eifert im Namen des Herrn gegen die Vergewaltigung des Rechts durch die führenden Schichten im Reiche Juda und gegen die Ansicht des Volkes, es könne ihnen nichts geschehen, weil sie das Volk Gottes seien. – A. d. U