Das Kreuz Christi, das Maß der Welt

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(Palmsonntag) 9. April 1841

Zahlreiche Menschen leben und sterben, ohne sich überhaupt Gedanken zu machen über die Lage, in der sie sich befinden. Sie nehmen die Dinge, wie sie kommen, und folgen ihren Neigungen, so­weit sich ihnen die Möglichkeit dazu bietet. Sie las­sen sich in der Hauptsache von Lust und Schmerz, nicht von Vernunft, Grundsatz und Gewissen leiten; sie versuchen nicht, diese Welt zu deuten, ihren Sinn klarzulegen oder aus dem, was sie sehen und emp­finden, sich eine Weltanschauung zu bilden. Wenn aber jemand bedächtigen Sinnes oder infolge geisti­ger Regsamkeit den sichtbaren Stand der Welt, in die er sich hineingeboren sieht, zu betrachten be­ginnt, dann erkennt er sie ohne weiteres als ein wir­res Durcheinander. Sie ist ein Rätsel, das man nicht lösen kann. Sie scheint voll des Widerspruchs und ohne ein Ziel zu sein. Warum sie ist und wohin sie geht, wie sie ist und was sie ist, auf welche Weise wir in sie hineingeraten und welches unsere Bestim­mung ist, das alles sind Geheimnisse.

Angesichts dieser Probleme haben die einen diese, die anderen jene Lebensphilosophie aufgestellt. Man hat geglaubt, den Schlüssel gefunden zu haben, mit dem man zu lesen vermag, was so dunkel ist. Tausenderlei Dinge, eines nach dem andern, begeg­nen uns im Verlauf des Lebens, und was sollen wir von ihnen halten? Auf welchen Ton sollen wir sie abstimmen? Sollen wir alles mit heiterer, fröhlicher Miene betrachten? Oder düster? Mutlos oder hoff­nungsvoll? Sollen wir das Leben einfach leicht neh­men oder die ganze Angelegenheit ernst behandeln? Sollen wir das Wichtigste als unbedeutend oder das Unwichtigste als bedeutungsvoll erachten? Sollen wir im Gedächtnis behalten, was vorbei und dahin ist, sollen wir der Zukunft entgegenschauen oder sollen wir im Gegenwärtigen aufgehen? Wie sollen wir die Dinge sehen? Das ist die Frage, die sich alle denkenden Menschen stellen und die jeder auf seine Weise beantwortet. Sie möchten nach Gesetzen den­ken, nach einem inneren Etwas, das in Einklang bringen und ordnen kann, was außerhalb ist. Dies ist das Bedürfnis, das der denkende Geist spürt. Fragen wir nun: welches ist der wirkliche Schlüssel, welches ist die christliche Deutung dieser Welt? Was bietet uns die Offenbarung, daß wir diese Welt danach werten und messen? Das Geschehnis dieser heiligen Zeit – die Kreuzigung des Gottessohnes.

Der Tod des ewigen, fleischgewordenen Wortes Gottes: das ist die große Lehre, wie wir von dieser Welt zu denken und zu reden haben. Sein Kreuz hat an alles, was wir sehen, die rechte Wertskala angelegt, an alle Reichtümer, alle Vorteile, alle Rangstufen, alle Würden, alle Freuden; an Flei­scheslust, Augenlust und Hoffart des Lebens. Es hat die Vergnügungssucht, den Wettkampf, die Hoffnungen, die Befürchtungen, die Begierden, die Anstrengungen und Triumphe des sterblichen Men­schen mit einem Preis belegt. Den verschiedenen Wechselfällen, den Prüfungen, Versuchungen und Leiden seines irdischen Daseins hat es einen Sinn gegeben. Allem, was widerspruchsvoll und ziellos schien, hat es Einheit und Zusammenklang ge­schenkt. Es hat uns gelehrt, wie wir leben, wie wir die Welt gebrauchen sollen, was zu erwarten, was zu wünschen und zu hoffen ist. Es ist der Grundton, auf den alle Klänge der Musik dieser Welt sich schließlich abstimmen müssen.

Schaut euch um und seht, was die Welt an Hohem und Niedrigem bietet. Geht an die Höfe der Für­sten. Betrachtet die Schätze und Kunstwerke aller Völker, die zusammengetragen werden, um ein Menschenkind zu ehren. Beobachtet den Fußfall der Vielen vor den Wenigen. Beseht euch die Etikette und das Zeremoniell, das Gepränge, die Parade, die Aufmachung und die eitle Ruhmsucht. Wollt ihr den Wert von all dem kennen? Schaut auf das Kreuz Christi.

Geht in die politische Welt: seht die Eifersucht von Nation zu Nation, die Konkurrenz im Handel, Armeen und Flotten, wie sie sich gegenseitig mes­sen. Blickt hin auf die verschiedenen Gesellschafts­klassen, die Parteien und ihre Streitfragen, das Ringen der Ehrgeizigen, die Intrigen der Schlauen. Was ist das Ende des ganzen Tumults? Das Grab. Was ist das Maß? Das Kreuz. Wendet euch sodann zur Welt des Geistes und der Wissenschaft: betrachtet die wundervollen Erfin­dungen des Menschengeistes, die Mannigfaltigkeit des Gewerbes, dem seine Erfindungen Aufschwung geben, die an Wunder grenzenden Werke, in denen er seine Macht erweist; dazu beachtet, was die Folge davon ist, den Hochmut und das Selbstvertrauen des Verstandes und die völlige Inanspruchnahme des Denkens durch vergängliche Dinge. Möchtet ihr euch ein richtiges Urteil über all das bilden? Schaut auf das Kreuz Christi.

Ferner: Blickt an das Elend, die Armut und Verlas­senheit, die Unterdrückung und Sklaverei; gehet dahin, wo die Nahrung kärglich und die Wohnung ungesund ist. Betrachtet Schmerz und Leid, lang­wierige oder heftige Krankheiten, alles, was schreck­lich und empörend ist. Wollt ihr wissen, wie alles dies zu bewerten ist? Schaut auf das Kreuz. So begegnen sich im Kreuz und in Dem, der daran gehangen hat, alle Dinge; alle Dinge dienen ihm, alle Dinge bedürfen seiner. Es ist ihr Mittelpunkt und ihre Deutung. Denn Er wurde an ihm erhöht, damit Er alle Menschen und alle Dinge an Sich ziehe.

Man wird aber einwenden, daß die Sicht, wie das Kreuz Christi sie uns vom menschlichen Leben und von der Welt gewährt, keineswegs eine solche ist, wie wir sie gewinnen würden, wenn wir uns selbst überlassen wären; daß sie nicht offen zutage tritt; daß, wenn wir die Front der Dinge betrachten, diese weit glänzender und strahlender erscheinen, als sie in dem Lichte sind, das diese heilige Zeit auf sie wirft. Die Welt scheint zur Freude eben eines sol­chen Wesens geschaffen zu sein, wie der Mensch es ist, und der Mensch mitten in sie hineingesetzt. Er hat die Fähigkeit zum Genuß, und die Welt liefert ihm dazu den Stoff. Wie natürlich ist das, welch einfache und zugleich annehmliche Philosophie, doch wie ganz anders als die des Kreuzes! Die Lehre vom Kreuz, kann man sagen, reißt zwei Teile eines Systems auseinander, die füreinander gemacht zu sein scheinen; sie scheidet die Frucht vom Esser, den Genuß vom Genießer. Wie soll dies aber das Pro­blem lösen? Schafft sie nicht vielmehr selbst ein neues?

Ich entgegne erstens: Welche Überzeugungskraft dieser Einwand auch haben mag, hier kehrt sicher­lich nur das wieder, was im Paradies Eva empfun­den und Satan betrieben hat; denn sah das Weib nicht, daß der verbotene Baum „gut zum Essen“ und „ein begehrenswerter Baum“ war? [Gn3,6]. Nun denn, ist es verwunderlich, daß auch wir, die Nachkommen des ersten Paares, immer noch in einer Welt sind, wo es die verbotene Frucht gibt, und daß unsere Versuchungen darin bestehen, nach ihnen zu greifen, und unser Glück, auf sie zu ver­zichten? Die Welt scheint auf den ersten Blick zur Lust geschaffen zu sein, die Vision des Kreuzes Christi aber bietet einen erhabenen und schmerz­lichen Anblick, weil sie diesen Schein durchkreuzt. Sei dem so; warum jedoch sollte es nicht unsere Pflicht sein, uns immerhin des Genusses zu enthal­ten, wenn es eine Pflicht im Paradies war? Weiter noch; es ist eine recht oberflächliche Betrach­tungsweise der Dinge, zu behaupten, dieses Leben sei für Lust und Glück geschaffen. Denen, die unter die Oberfläche schauen, erzählt es eine andere Ge­schichte. Die Wahrheit vom Kreuz gibt, wenn auch unendlich tiefer, so doch nur dieselbe Lehre, die diese Welt denen gibt, die lange in ihr leben, die viel Erfahrung mit ihr haben, die sie kennen. Die Welt ist süß für die Lippen, bitter jedoch für den Gaumen. Sie gefällt zu Anfang, aber nicht am Ende. Sie erscheint heiter nach außen, aber Übel und Elend liegen in ihr verborgen. Hat einer eine ge­wisse Anzahl von Jahren in ihr verbracht, so ruft er mit dem Prediger aus: „Eitelkeit der Eitelkeiten und alles ist Eitelkeit“ [Prd 1, 2]. Ja, wenn die Re­ligion ihm nicht Leitstern ist, geht er in seiner Not noch weiter und sagt: „Alles ist Eitelkeit und Gei­stesplage“ [Prd 1,14]; alles ist Enttäuschung; alles ist Schmerz; alles ist Pein. Die schmerzlichen Ge­richte Gottes über die Sünde sind in ihr verborgen und beladen den Menschen mit Gram, ob er will oder nicht. Daher nimmt die Lehre vom Kreuz Christi uns unsere Erfahrung mit der Welt nur vorweg. Wahr ist, sie gebietet uns, inmitten all des Lächelns und des Flitters ringsum über unsere Sünden zu trauern; aber achten wir nicht darauf, dann wer­den wir schließlich genötigt, über sie zu trauern, darum daß wir uns ihrethalben schrecklicher Strafe unterziehen müssen. Wenn wir nicht erkennen wol­len, daß diese Welt durch die Sünde ins Elend ge­stürzt worden ist, werden wir angesichts Dessen, der mit unseren Sünden beladen wurde, infolge des Rückschlages dieser Sünden auf uns selbst erfahren, wie elend sie ist.

Man kann also zugeben, daß die Lehre vom Kreuz in der Welt nicht offen zutage tritt. Die Front der Dinge ist eitel Glanz, das Kreuz dagegen ist voll Trauer; dies ist eine geheimnisvolle Lehre; sie liegt unter einem Schleier; im ersten Augenblick er­schreckt sie uns, und wir sind versucht, uns gegen sie aufzulehnen. Mit Petrus rufen wir aus: „Das sei ferne von Dir, Herr; das soll Dir nicht widerfahren“ (Mt 16, 22). Und doch, es ist eine wahre Lehre; denn die Wahrheit liegt nicht obenauf, vielmehr in der Tiefe.

Und wie die Lehre vom Kreuz, mag sie auch die wahre Deutung dieser Welt sein, nicht in auffallen­der Weise in ihr sich kund tut, nicht an ihrer Oberfläche, sondern im Verborgenen liegt, so wohnt sie, wenn ein gläubiges Herz sie aufnimmt, als ein le­bendiges Prinzip in ihm, jedoch tief drinnen und den Blicken entzogen. Nach den Worten der Schrift leben religiöse Menschen „im Glauben an den Sohn Gottes, der sie geliebt und Sich Selbst für sie dahingegeben hat“ (Gal 2,20); aber sie reden nicht davon vor aller Welt; sie überlassen es anderen, es aus­findig zu machen, wenn es sie gelüstet. Das Gebot unseres Herrn an Seine Jünger lautete, sie sollten, wenn sie fasteten, „ihr Haupt salben und ihr An­gesicht waschen“ (Mt 6, 17). So sind sie gehalten, kein Aufhebens zu machen, vielmehr sich stets damit zu bescheiden, nach außen anders zu erscheinen als sie im Innern wirklich sind. Sie sollen heiteren Ant­litzes sein und ihre Empfindungen beherrschen und ordnen, damit diese Empfindungen, wenn sie nicht nach außen preisgegeben werden, sich tief ins Herz einsenken und dort leben können. Und so ist „Jesus Christus und dieser als der Gekreuzigte“, wie der Apostel uns sagt, „eine verborgene Weisheit“ [1 Kor 1,23; 2,7]; – verborgen für die Welt, die auf den ersten Blick eine ganz andere Lehre zu verkün­den scheint, – und verborgen in der gläubigen Seele, die, wenn nicht aus nächster Nähe oder nur von Augenzeugen beurteilt, ein gewöhnliches Leben zu führen scheint, im Verborgenen aber tatsächlich Gemeinschaft hält mit Dem, der „geoffenbart ward im Fleisch“, „gekreuzigt aus Schwachheit“, „gerecht­fertigt im Geist, geschaut von den Engeln und auf­genommen in Herrlichkeit“ ( Tim 3,16; 2 Kor 13, 4 ]..

Somit kann man die große und erschreckende Lehre vom Kreuz Christi, dessen Gedächtnis wir jetzt be­gehen, bildlich gesprochen, durchaus das Herz der Religion nennen. Man kann das Herz als den Sitz des Lebens bezeichnen; es ist die Quelle von Bewe­gung, Wärme und Tätigkeit; von ihm aus kreist das Blut bis hin zu den äußersten Körperteilen. Es erhält den Menschen in seinen Kräften und Fähigkeiten; es verleiht dem Gehirn die Denkkraft; und wird es krank, dann stirbt der Mensch. In gleicher Weise ist die heilige Lehre vom Sühnopfer Christi das Le­bensprinzip, aus dem der Christ lebt, und ohne das es kein Christentum gibt. Ein Verzicht auf diese Lehre macht auch das Festhalten an einer anderen nutzlos; an die Gottheit Christi glauben, an Seine Menschheit, an die heilige Dreifaltigkeit, an das künftige Gericht oder an die Auferstehung des Flei­sches glauben, ist unechter Glaube, ist kein christ­licher Glaube, wenn wir die Lehre von Christi Opfer nicht annehmen. Anderseits bedingt ihre An­nahme auch noch die Annahme weiterer hoher Wahrheiten des Evangeliums; sie schließt ein den Glauben an Christi wahre Gottheit, an Seine wahre Menschwerdung und an den naturhaft sündigen Zu­stand des Menschen; und sie bereitet den Weg zum Glauben an das heilige, eucharistische Mahl, in dem Der, der einst gekreuzigt worden ist, für immer unserer Seele und unserem Leib geschenkt wird, wahrhaft und wirklich, in Seinem Fleisch und in Seinem Blut. Aber weiter; das Herz ist dem Blick verborgen; es ist sorgsam und sicher geschützt: es ist nicht wie das Auge, das an der Stirne sitzt, alles beherrscht und von allen gesehen wird. So in glei­cher Weise ist die heilige Lehre vom Sühnopfer nicht so sehr eine solche, von der man spricht, son­dern eine, nach der man lebt; nicht eine, die man ehrfurchtslos verkündet, sondern eine, die in der Stille angebetet werden soll; nicht eine, die nötig wäre als Mittel zur Bekehrung der Gottlosen oder um die Weisen dieser Welt zufrieden zustellen, son­dern eine, die den Willfährigen und Gehorsamen geoffenbart werden soll; den Kleinen, die die Welt nicht verdorben hat; den Trauernden, die des Tro­stes bedürfen; den Aufrichtigen und Ernsten, die eine Lebensregel brauchen; den Unschuldigen, die der Warnung bedürfen; und den Gefestigten, die sich bereits Kenntnis davon erworben haben. Mit einem weiteren Hinweis will ich zum Schluß kommen. Wenn nun die Lehre vom Kreuz uns trau­rig stimmt, darf man doch nicht annehmen, daß das Evangelium darum eine Religion der Trauer ist. Der Psalmist sagt: „Die in Tränen säen, werden in Freude ernten“ [Ps 125, 5]; und unser Herr sagt: „Die trauern, werden getröstet werden“ [Mt 5, 5]. Keiner soll heimgehen mit dem Eindruck, daß das Evangelium uns eine düstere Anschauung von Welt und Leben aufdrängte. Zwar hindert es uns daran, die Dinge, die wir sehen, oberflächlich zu beurteilen und an ihnen eine eitle, vergängliche Freude zu fin­den; aber es verbietet uns den Genuß hier und jetzt nur, um uns hernach einen wahren und vollen Ge­nuß zu gewähren. Es verbietet uns nur, die Freude an den Anfang zu stellen. Es sagt nur, wenn ihr die Freude an den Anfang stellt, werdet ihr im Schmerz enden. Es heißt uns mit dem Kreuz Christi begin­nen; in diesem Kreuz werden wir zwar zuerst Schmerz finden, aber bald wird Freude und Trost aus diesem Schmerz erstehen. Dieses Kreuz wird uns zu Trauer, Reue, Verdemütigung, Gebet und Fasten führen; wir werden trauern um unserer Sün­den willen, wir werden leiden mit Christi Leiden; aber das Ende all dieses Schmerzes, nein, der Grund, warum wir ihn aushalten, wird uns zum Glück aus schlagen, das weit größer ist als die Freude, wie die Welt sie bietet, – mag sein, daß Leichtfertige, welt­lich Gesinnte das nicht glauben wollen, die Vorstel­lung eines solchen Glückes verlachen, weil sie es nie gekostet haben und es bloß als eine Form des Aus­druckes ansehen, die zu gebrauchen fromme Leute für anständig und schicklich halten, an das sie selbst zu glauben suchen und an das zu glauben sie andere bewegen, das aber keiner wirklich empfindet. Das ist es, was sie denken; aber unser Heiland sagte zu Seinen Jüngern: „Auch ihr habt jetzt zwar Trauer, aber Ich werde euch wiedersehen, und euer Herz wird sich freuen und eure Freude wird niemand von euch nehmen“ (Jo 16, 22). „Den Frieden hinterlasse Ich euch, Meinen Frieden gebe Ich euch; nicht wie die Welt gibt, gebe Ich euch“ (Jo 14, 27). Und Pau­lus sagt: „Der natürliche Mensch faßt nicht, was des Geistes Gottes ist; denn es ist ihm Torheit, und er kann es nicht verstehen, weil es geistlich beurteilt werden muß“ (1 Kor 2,14). „Was kein Auge gese­hen, kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gedrungen ist, hat Gott denen bereitet, die Ihn lieben“ (1 Kor 2, 9). Und auf diese Weise verwun­det uns das Kreuz Christi wirklich, da es uns sowohl von unserer Erlösung wie auch von Seinen Leiden kündet, aber indem es verwundet, heilt es auch. Und so ist auch alles das, was an der Oberfläche die­ser Welt glänzt und schön ist, obwohl es keinen Be­stand hat und mit Recht um seiner selbst willen nicht genossen werden darf, demnach Abbild und Ver­heißung jener wahren Freude, die die Frucht der Versöhnung ist. Es ist einstweiliges Versprechen dessen, was sein wird: es ist Schatten, der uns hoffen läßt, daß die Wirklichkeit folgen wird, der aber nicht an Stelle der Wirklichkeit selbst vorweggenommen werden darf. Und es ist Gottes Weise im Umgang mit uns Menschen, daß Er in Seiner Huld der Wirklichkeit den Schatten vorausschickt, damit wir aus dem Zukünftigen Trost schöpfen können, ehe es kommt. Daher ist unser Herr vor Seinem Lei­den im Triumph in Jerusalem eingeritten, begleitet von den Scharen, die Hosanna riefen und Seinen Weg mit Palmzweigen und Kleidern bestreuten. Das war nur ein eitler und leerer Aufzug, und unser Herr hatte keinen Gefallen daran. Es war ein Schat­ten, der nicht standhielt, sondern verflog. Es konnte nicht mehr als ein Schatten sein, denn Er hatte Sich noch nicht dem Leiden unterzogen, das erst Seinen wahren Triumph bewirkte. Er konnte nicht in Seine Herrlichkeit eingehen, bevor Er nicht gelitten hatte. Er konnte kein Gefallen haben an diesem Schein­triumph; Er wußte, daß er hohl war. Doch war die­ser erste schattenhafte Triumph das Vorzeichen und die Verheißung des wahren, künftigen Triumphes, wenn Er einmal die Bitterkeit des Todes überwun­den hätte. Und wir gedenken dieses vorbildhaften Triumphes am letzten Sonntag in der Fastenzeit, um darin eine Aufmunterung für die folgende, Trauerwoche zu finden und uns jene wahre Freude in Erinnerung zu rufen, die mit dem Ostertag kommt.

Und so steht es auch mit all den Genüssen dieser Welt, die doch enttäuschen. Trauen wir ihr nicht; schenken, wir ihr nicht unser Herz; beginnen wir nicht mit ihr. Beginnen wir mit dem Glauben; beginnen wir mit Christus; beginnen wir mit Seinem Kreuz und der Verdemütigung, zu der es führt. Zuerst laßt uns emporgezogen werden zu Ihm, der erhöht wurde, damit Er so mit Sich Selbst uns auch alles andere schenken könne. „Suchen wir zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit“, dann werden alle die Dinge dieser Welt „uns hinzugegeben werden“ [Mt 6, 33]. Nur jene können wahrhaft diese Welt genie­ßen, die mit der unsichtbaren Welt beginnen. Nur jene genießen sie, die zuerst auf sie verzichtet haben. Nur jene können wahrhaft Feste feiern, die zuerst gefastet haben; nur jene können die Welt gebrau­chen, die gelernt haben, sie nicht zu mißbrauchen; nur jene erben sie, die sie als einen Schatten der kommenden Welt betrachten und um jener kom­menden Welt willen verlassen.

aus: John Henry Newman, Deutsche Predigten, Band VI, 7, Schwaben-Verlag Stuttgart 1954, pp. 94-105.