Christus vor der Welt verborgen

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Weihnachstpredigt, 25. Dezember 1837

„Das Licht leuchtete in der Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht begriffen“ (Jo 1, 5).

Von allen Gedanken, die uns im Geiste aufsteigen, wenn wir den Wandel unseres Herrn Jesus Chri­stus auf Erden betrachten, ist wohl keiner so ergrei­fend und zur Stille mahnend wie der Gedanke an die Verborgenheit, die Ihn begleitete. Ich meine nicht Verborgenheit im Sinne von niederer Her­kunft, sondern das Dunkel, in das Er Sich hüllte, und das Geheimnis, das Er hütete. Dieses Merkmal Seiner ersten Ankunft wird in der Schrift sehr häufig erwähnt, so in unserem Text: „Das Licht leuchtete in der Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht begriffen“, und steht im Gegensatz zur Vorhersage über Seine zweite Ankunft. Dann „werden Ihn sehen alle Augen“ (Offb 1, 7), was soviel bedeutet, daß alle Ihn erkennen werden. Als Er hingegen das erste Mal kam, erkannten Ihn in der Tat wenige, obwohl viele Ihn sahen. War doch vorausgesagt: „Wir sehen Ihn, und da ist keine Schönheit, daß wir Ihn ansehen möchten“ (Is 53, 2). Und noch am Ende Seines öffentlichen Lebens sagte Er zu einem Seiner zwölf auserwählten Freunde: „So lange Zeit bin Ich bei euch, und doch hast du Mich nicht er­kannt, Philippus?“ (Jo 14, 9) Ich will euch nun ein oder zwei Gedanken vorlegen, die sich aus diesem festlichen Anlaß ergeben und die euch mit Gottes Hilfe von Nutzen sein mögen.

1. Wir wollen zuerst einige Umstände besprechen, die für Seinen Wandel auf Erden charakteristisch sind. Seine Herablassung, da Er vom Himmel her­niederstieg, die Herrlichkeit des Vaters verließ und Fleisch annahm, übersteigt so sehr alle Fassungs­kraft von Worten und Gedanken, daß man es auf den ersten Blick für unwichtig halten könnte, ob Er als Fürst oder als Bettler kam. Und doch ist es zu guter Letzt noch viel erstaunlicher, daß Er in der Niedrigkeit kam, und zwar deshalb: man hätte zu­nächst denken können, daß Er trotz aller Herab­lassung, mit der Er auf die Erde kam, Sich doch nicht der Mißachtung und Verachtung hätte unter­werfen sollen, werden doch die Reichen von der Welt nicht verachtet, wohl aber die Armen. Wäre Er wie ein großer Fürst oder Vornehmer gekommen, dann hätte die Welt, freilich ohne auch nur ein Jota mehr um Seine Gottheit zu wissen, wenigstens zu Ihm aufgeschaut und Ihn als Fürsten geehrt. Da Er aber in der Niedrigkeit kam, nahm Er eine weitere Demütigung auf Sich, die Verachtung. – Er nahm es auf Sich, von Seinen eigenen Geschöpfen ver­achtet, verspottet, herzlos übergangen, gröblich ent­ehrt zu werden.

Welches waren nun die tatsächlichen Umstände Seines Kommens? Seine Mutter ist eine arme Frau; sie kommt nach Bethlehem, um sich aufschreiben zu lassen, befindet sich auf der Reise, wo sie doch am liebsten zu Hause geblieben wäre. Sie findet keinen Platz in der Herberge; sie ist genötigt, ihre Zuflucht zu einem Stall zu nehmen; sie gebiert ihren Erstge­borenen und legt Ihn in eine Krippe. Dieses kleine Kind, so geboren, so dort liegend, ist niemand an­ders als der Schöpfer Himmels und der Erde, der ewige Sohn Gottes.

Ja, Er wird von einer armen Frau geboren, wird in eine Krippe gelegt, wird in einem niedrigen Hand­werk ausgebildet, dem eines Zimmermanns; und als Er das Evangelium zu predigen begann, hatte Er nichts, wohin Er Sein Haupt legen konnte; zuletzt wurde Er getötet, starb eines ehrlosen und verach­teten Todes, des Todes, den Verbrecher damals er­litten.

Die drei letzten Jahre Seines Lebens, sagte ich, pre­digte Er das Evangelium, wie wir es in der Schrift lesen; aber Er begann damit erst, als Er dreißig Jahre alt war. Die ersten dreißig Jahre Seines Le­bens scheint Er gelebt zu haben, gerade wie ein Armer auch heute noch lebt. Es vergingen Tag um Tag, Jahreszeit um Jahreszeit, Winter und Som­mer, Jahr um Jahr, wie es bei jedem von uns geht. Aus dem Säugling auf den Armen wurde ein Kind, dann ein Knabe, und so wuchs Er heran gleich „einem zarten Gewächs“ und nahm zu an Weisheit und Wuchs; dann scheint Er das Handwerk Josefs, Seines vermeintlichen Vaters, ausgeübt zu haben. So ging es weiter auf dem ganz gewöhnlichen Weg ohne besonderes Ereignis, bis Er dreißig Jahre alt war. Wie überaus seltsam ist dies alles! Daß Er hier so lange leben sollte, ohne etwas Großes zu tun; daß Er hier lebte, nur um gelebt zu haben, ohne zu pre­digen, ohne Schüler um Sich zu sammeln und ohne anscheinend, in irgendeiner Weise den Zweck zu fördern, der Ihn dazu bewogen hatte, den Himmel zu verlassen. Es waren zweifellos tiefe und weise Gründe im Ratschluß Gottes, warum Er so lange in der Verborgenheit blieb; wir allerdings kennen sie nicht.

Auch ist es bemerkenswert, daß Seine Umgebung Ihn als ihresgleichen behandelte. Seine Brüder, d. h. Seine nahen Verwandten, Seine Vettern, glaubten nicht an Ihn. Ferner ist sehr beachtenswert, was wir über Ihn erfahren, als Er erstmals als Prediger auf­trat und eine Menge um Sich sammelte: „Da die Seinigen dies hörten, gingen sie aus, um Ihn zu er­greifen; denn sie sagten: Er ist von Sinnen“ (Mk 3, 21). Sie behandelten Ihn, wie auch wir heute – und mit Recht – geneigt wären, den nächsten besten zu behandeln, der auf der Straße zu predigen anfinge. Ich sage „mit Recht“, denn solche Menschen predigen im allgemeinen ein neues Evangelium und müssen sich deshalb im Unrecht befinden. Auch pre­digen *sie ohne Sendung und gegen die Autorität: was alles ebenfalls unrecht ist. Infolgedessen sind wir oft zu der Äußerung versucht, solche Leute seien „von Sinnen“ oder irre und das nicht mit Unrecht. Es ist oft sogar Liebe, wenn wir es so nennen, denn es ist besser, von Sinnen zu sein als ungehorsam. Was wir also von solchen Leuten sagen würden, das sagten die Freunde unseres Herrn von Ihm. Sie hatten nun so lange mit Ihm gelebt und kannten Ihn doch nicht; erkannten nicht, wer Er war. Sie gewahrten nichts, das einen Unterschied zwischen Ihm und ihnen angezeigt hätte. Er kleidete Sich wie die anderen, Er aß und trank wie die anderen, Er kam und ging, redete und ging einher und schlief wie die andern. Er war in jeder Beziehung ein Mensch, nur daß Er nicht sündigte. Aber diesen großen Unterschied entdeckte die Menge nicht, denn keiner von uns versteht die, die weit besser sind als Sohn Gottes, in nächster Nähe von uns leben, ohne daß wir es entdeckten.

2. Ich behaupte, Christus, der sündelose Sohn Got­tes, könnte heute in der Welt als unser allernächster Nachbar leben, und wir fänden es vielleicht nicht heraus. Dies ist ein Gedanke, bei dem man ver­weilen sollte. Ich möchte nicht sagen, daß es nicht auch eine Anzahl von Menschen gibt, die wir mit Sicherheit nicht als Christus ansehen könnten; Men­schen natürlich, die ein schlechtes, unreligiöses Le­ben führen. Aber es gibt eine ganze Anzahl solcher, die keineswegs unreligiös sind, noch zu ernstem Tadel Anlaß geben, die auf den ersten Blick ein­ander sehr ähneln, aber vor Gottes Augen sehr ver­schieden sind. Ich meine hier die große Masse der sogenannten achtbaren Menschen, die sich freilich sehr voneinander unterscheiden: Einige sind bloß anständige und nach außen hin korrekte Menschen, haben aber für Religion nicht viel übrig, kennen keine Selbstverleugnung, haben keine glühende Gottesliebe, lieben vielmehr die Welt. Und weil ihr Interesse dahingeht, ein geregeltes und geord­netes Leben zu führen, oder weil sie keine starke Leidenschaft haben oder sich schon früh daran ge­wöhnt haben, regelmäßig zu leben, und dement­sprechend ihre Gewohnheiten geformt haben, so sind sie, was sie sind: anständig und korrekt, aber sehr wenig mehr. Es gibt jedoch andere, die zwar in den Augen der Welt ganz den andern gleichen, in ihrem Herzen jedoch sehr verschieden von ihnen sind; sie machen kein Aufhebens von sich, sie gehen den gleichen und ruhigen Alltagsweg wie die an­deren, aber in Wirklichkeit strengen sie sich an, Heilige des Himmels zu sein. Sie lassen nichts unversucht, sich zu wandeln, Gott ähnlich zu werden, Gott zu gehorchen, sich in Zucht zu nehmen, der Welt zu entsagen; aber sie tun dies im Verborgenen, einmal, weil Gott sie so tun heißt, sodann, weil sie nicht auffallen möchten. Außerdem gibt es zwischen diesen zwei Arten eine Anzahl anderer, die mehr oder weniger von Weltlichkeit und mehr oder we­niger vom Glauben an sich tragen. Aber für das gewöhnliche Auge schauen sie alle gleich aus, denn wahre Frömmigkeit ist ein im Herzen verborgenes Leben; und obwohl sie nicht ohne Werke existieren kann, so sind diese doch meistenteils verborgen: verborgene Liebestaten, verborgenes Gebet, ver­borgene Selbstverleugnung, verborgenes Ringen, verborgene Siege.

Natürlich, je mehr man dem öffentlichen Leben preisgegeben ist, um so mehr wird man auch sicht­bar, kritisch beobachtet und (in einem gewissen Sinn) bekannt; aber ich spreche von der gewöhn­lichen Lage der Menschen im privaten Leben, wie es Christus dreißig Jahre lang führte; und solche sehen sich sehr ähnlich. Und es gibt deren so viele, daß wir, außer bei sehr naher Berührung, keine unterscheidenden Merkmale finden; wir haben da­für auch keine Handhabe, und es geht uns auch nichts an. Und dennoch ist es, obwohl uns das Recht zur Beurteilung anderer nicht zusteht, wir es vielmehr Gott überlassen müssen, ganz sicher, daß der wahr­haft heilige Mensch, der wahre Heilige, bei aller Ähnlichkeit mit den andern doch eine Art von ver­borgener Macht besitzt, die andere Gleichgesinnte zu ihm hinzieht und auf alle, die Ähnliches wie er in sich tragen, einen Einfluß ausübt. Und so wird der Umstand, daß sie Einfluß auf uns haben, oft zum Prüfstein, ob wir gleicher Gesinnung sind wie die Heiligen Gottes. Und obwohl uns selten die Möglichkeit geboten ist, jetzt zu wissen, welches die Heiligen Gottes sind, so haben wir sie doch, wenn alles vorbei ist. Und wenn wir dann auf das Ver­gangene zurückblicken, vielleicht erst, wenn sie tot und dahingegangen sind, und wenn wir uns fragen, welche Macht sie über uns gewonnen haben, falls wir sie kannten, ob sie uns angezogen, beeinflußt und demütig gemacht und ob sie unser Herz zum Glühen gebracht haben: ach, nur zu oft werden wir entdecken, daß wir lange in ihrer Nähe waren, daß wir die Möglichkeit gehabt hatten, sie kennenzulernen, und sie doch nicht kannten; und das ist für­wahr eine schwere Verurteilung für uns selbst. Das nun hat sich am Beispiel der Lebensgeschichte un­seres Heilandes auf einzigartige Weise gezeigt, um so mehr, als Er so überaus heilig war. Je heiliger einer ist, um so weniger wird er von den Welt­menschen verstanden. Alle, die noch einen Funken von lebendigem Glauben haben, werden ihn bis zu einem gewissen Grad verstehen, und je heiliger er ist, um so mehr fühlen sie sich allermeist angezogen. Die aber der Welt dienen, bleiben ihm gegenüber blind oder verlachen und mißachten ihn, je heiliger er ist. Das, will ich sagen, erlebte unser Herr. Er war der „Allerheiligste“, jedoch „das Licht leuch­tete in der Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht begriffen“. Seine nahen Verwandten glaubten nicht an Ihn. War dem aber wirklich so, und zwar aus  dem  angeführten  Grund,  dann  erhebt sich sicherlich die Frage, ob wir Ihn besser verstanden hätten als sie. Ob wir Ihn, auch wenn Er unser aller­nächster Nachbar oder einer aus unserer Familie gewesen wäre, von jedem anderen unterschieden hätten, der korrekt und gelassen in seinem Wesen ist; oder ob vielmehr nicht auch wir, obschon wir Ihn geachtet hätten (freilich, welch ein Wort! welche Sprache gegenüber dem allerhöchsten Gott), und wenn wir selbst so weit gegangen wären – ob nicht auch wir Ihn für sonderbar, exzentrisch, übertrieben und schwärmerisch gehalten hätten. Ganz davon zu schweigen, daß wir auch nur einen kleinen Funken von jener Herrlichkeit entdeckt hätten, die Er beim Vater schon vor Anbeginn der Welt hatte und die durch Seine irdische Hülle nur verborgen gehalten, aber nicht unterdrückt war. Das ist fürwahr ein überaus erschreckender Gedanke; denn wäre Er längere Zeit in unserer Nähe und entdeckten wir dann gar nichts Wunderbares an Ihm, dann müßten wir es als einen klaren Beweis dafür ansehen, daß wir nicht zu den Seinigen gehören, denn „Seine Schafe hören Seine Stimme und folgen Ihm“ (Jo 10,27), dann müßten wir es als klaren Beweis an­sehen, daß wir Ihn nicht kennen würden, noch Seine Größe bewunderten, Seine Herrlichkeit anbeteten, Sein würdevolles Wesen liebten, wären wir im Himmel in Seine Nähe zugelassen.

3. Und hier stoßen wir auf einen anderen, höchst ernsten Gedanken, den ich berühren will. Wir wünschten sehr gern, in den Tagen Christi auf die Welt gekommen zu sein, und auf diese Art ent­schuldigen wir unser schlechtes Verhalten, wenn uns das Gewissen schlägt. Wir behaupten, daß wir stär­kere Beweggründe, stärkere Hemmungen gegen­über der Sünde gehabt hätten, hätten wir den Vor­teil gehabt, mit Christus aufzuwachsen. Ich ant­worte, statt daß unsere sündigen Gewohnheiten durch Christi Gegenwart bei weitem nicht gebessert worden wären, hätte es viel eher sein können, daß diese gleichen Gewohnheiten uns daran gehindert hätten, Ihn zu erkennen. Wir hätten Seine Gegen­wart nicht erkannt; und hätte Er uns gar gesagt, wer Er sei, so hätten wir Ihm nicht geglaubt. Ja, hätten wir Seine Wunder gesehen, so unglaublich das scheinen möchte, dann hätten nicht einmal sie einen bleibenden Eindruck auf uns gemacht. Über­legt euch nur, ohne daß wir dieses Thema weiter verfolgen, die Möglichkeit, Christus hätte in unserer Mitte gelebt, ohne dabei Wunder zu wirken: wir hätten es nicht wahrgenommen – ich glaube, dies hätte buchstäblich auf die meisten zugetroffen. Doch genug von dieser Frage. Der Punkt, zu dem ich komme, ist der: ich möchte, daß ihr gewahr werdet, welch schreckliches Licht dies auf unsere Erwartung in der anderen Welt wirft. Wir denken, der Himmel‘ müsse für uns ein Ort der Seligkeit sein, wenn wir nur dorthin gelangten; aber es ist, wenn wir nach den Vorgängen hier unten urteilen können, sehr wahrscheinlich, daß ein schlechter Mensch, käme er in den Himmel, gar nicht wüßte, daß er sich im Himmel befände; ich will die weitere Frage nicht anschneiden, ob anderseits die Tatsache, daß er mit aller auf ihm lastenden Unheiligkeit sich im Him­mel befindet, ihm nicht vielmehr buchstäblich zur Qual würde und ein Höllenfeuer in ihm entzündete; das wäre in der Tat eine ganz furchtbare Art zu erkennen, wo er sich befindet. Aber setzen wir den leichteren Fall: angenommen, er könnte ohne Fluch im Himmel verbleiben, so wüßte er offenbar zum wenigsten nicht einmal, daß er dort ist. Er würde darin nichts Wunderbares entdecken. Konnten die Menschen Gott näher kommen als da, wo sie Ihn ergriffen, schlugen, bespien, hin und her zerrten, der Kleider beraubten, Seine Glieder am Kreuz aus­streckten, Ihn annagelten, das Kreuz emporrichteten, Ihn anstarrten, verhöhnten, Ihm Essig- reich­ten, untersuchten, ob Er tot sei, und Ihn dann mit einer Lanze durchbohrten? Welch furchtbarer Ge­danke, daß die größte Nähe, die der Mensch zu Gott auf Erden hatte, eine Gottesschändung ge­wesen ist! Wer von den beiden Gruppen kam Ihm näher: St. Thomas, der seine Hand ausstrecken und Seine Wunden berühren durfte, und Johannes, der an Seiner Brust ruhte, oder die grausamen Soldaten, die an Ihm Glied für Glied entehrten und Ihn Nerv um Nerv marterten? Fürwahr, Seine gebenedeite Mutter kam Ihm noch näher. Und wir kommen Ihm noch näher, wenn wir wahre Gläubige sind, da wir Ihn wirklich, wenn auch geistig, in uns haben; frei­lich ist dies eine andere, eine innere Art der An­näherung. Von denen, die Ihm äußerlich nahe­kamen, näherten sich die Ihm am meisten, die nichts von Ihm wußten. Das gleiche gilt für die Sünder: sie würden sich bis in die Nähe des Thrones Gottes begeben, würden ihn blöde begaffen, ihn berühren, mit den heiligsten Dingen spielen, sie würden sich weiter eindrängen und umherspähen, ohne etwas Unrechtes dabei zu meinen, eher mit einer Art von ungeschlachter Neugierde, bis der rächende Blitz­strahl sie vernichten würde – dieses alles, weil sie kein Organ haben, das sie hierin leiten könnte. Unsere leiblichen Sinne melden uns, wenn auf Er­den etwas Angenehmes oder Arges auf uns zu­kommt; durch Schall, Geruch und Gefühl merken wir, was uns begegnet. Wir haben davon Kenntnis, was geschieht, wenn wir uns dem Unwetter aus­setzen oder wenn wir uns überanstrengen. Wir er­halten Warnungen und spüren, daß wir sie nicht übergehen dürfen. Sünder dagegen haben keine geistigen Organe; sie können nichts vorausahnen; sie wissen nicht, was ihnen im nächsten Augenblick passieren wird; deshalb schreiten sie furchtlos zwi­schen Abgründen weiter und weiter, bis sie plötzlich abstürzen oder getroffen sind und zugrunde gehen. Armselige Wesen! Und das wirkt die Sünde an den unsterblichen Seelen; daß sie dem Vieh gleichen, das im Schlachthaus getötet wird, dabei aber die nämlichen Werkzeuge berührt und beschnuppert, die es umbringen werden.

4. Ihr möget aber fragen: was geht das uns an? Christus ist nicht hier; wir können Seine Majestät auf diese oder auf irgendeine geringere Art gar nicht verhöhnen. Sind wir dessen so sicher? Gewiß, wir können keine offene Gotteslästerung begehen; aber es ist die Frage, ob wir nicht eine gleich große begehen können. Denn oft sind Sünden, die weniger Aufsehen erregen, größer, Beleidigungen, die nicht so lärmen, bitterer und Übel, die versteckt sind, tiefer. Kommt uns da nicht eine sehr furchtbare Stelle in den Sinn? „Und wer ein Wort wider den Menschensohn redet, dem wird vergeben werden; wer aber wider den Heiligen Geist redet, dem wird nicht vergeben“ (Mt 12,32). Ich entscheide jetzt nicht, ob dieses Urteil auf den heutigen Christen zutrifft oder nicht, obwohl dies eine sehr ernste Frage ist, wenn wir bedenken, daß wir jetzt unter der Wirksamkeit eben dieses Geistes stehen, von dem unser Heiland spricht. Ich führe die Stelle aber an, um zu beweisen, daß es Sünden geben kann, die größer sind als eine Beleidigung und ein Unrecht an der Person Christi, obwohl wir etwas Derartiges für unmöglich halten und obwohl jene nicht so frech und offen sein können. Mit diesem Gedanken vor Augen, laßt uns bedenken: –

Einmal, daß Christus immer noch auf Erden ist. Er sagte ausdrücklich, Er werde wiederkommen. Die Herabkunft des Heiligen Geistes ist so wirklich Seine Ankunft, daß wir ebensogut sagen könnten, Er sei in den Tagen Seines Fleisches nicht hienieden gewesen, als Er sichtbar in der Welt war, wie leug­nen, daß Er jetzt hienieden weilt, wo Er doch durch Seinen göttlichen Geist anwesend ist. Das ist freilich ein Geheimnis, wie Gott der Sohn und Gott der Heilige Geist, diese zwei Personen, eins sein kön­nen, wie Er im Geist und der Geist in Ihm sein kann; aber es ist so.

Sodann, wenn Er noch auf Erden weilt, jedoch un­sichtbar (was nicht abzuleugnen ist), bewahrt Er offenbar immer noch den gleichen Zustand, den Er in den Tagen Seines Erdenlebens im Fleische ge­wählt hat. Ich meine so: Er ist ein verborgener Heiland, so daß man sich Ihm (wenn man nicht acht gibt) ohne die gebührende Ehrerbietung und Furcht nähern kann. Ich behaupte, wo immer Er ist (das ist eine weitere Frage), Er ist da und ist zugleich verborgen; und was immer die Zeichen Seiner Ge­genwart sein mögen, sie müssen stets noch derart sein, daß man daran zweifeln kann, wo diese ist. Und wenn die Menschen mit Beweisen kommen und scharfsinnig und spitzfindig sein wollen, dann mö­gen sie sich und andere durcheinander bringen, wie es die Juden in den Tagen Seines Fleisches taten, bis Er ihnen irgendwo auf Erden mehr gegenwärtig zu sein scheint. Und wenn sie nun beginnen, sich Ihn in weiter Entfernung zu denken, dann freilich spüren sie, daß es unmöglich ist, Ihn zu verspotten, wie die Juden es einst taten; ist Er aber trotzdem hier, dann werden sie sich Ihm vielleicht nähern und Ihn verspotten, ohne das Unmögliche solchen Tuns zu empfinden. In dieser Lage waren die Juden, denn auch sie wußten nicht, was sie taten. So ist es also wahrscheinlich, daß wir heute eine wenigstens ebenso große Gotteslästerung gegen Ihn begehen können, wie es die Juden zuerst taten, denn wir sind unter der Heilsordnung jenes Heiligen Geistes, ge­gen den selbst noch gehässigere Sünden begangen werden können; schon deshalb, weil Seine Gegen­wart sich so wenig bezeugt oder auf die Menge einen so geringen Eindruck macht wie Seine körperliche Anwesenheit damals.

Wir erkennen einen weiteren Grund für diese ernste Ansicht, wenn wir überlegen, welches die Zeichen Seiner Gegenwart heute sind; denn wir entdecken an ihnen eine Beschaffenheit, die die Menschen leicht zur Ehrfurchtslosigkeit verleitet, außer sie sind demütig und auf ihrer Hut. Die Kirche wird z. B. „Sein Leib“ genannt: was Sein stofflicher Leib war, als Er sichtbar auf Erden weilte, das ist die Kirche jetzt. Sie ist das Werkzeug Seiner göttlichen Macht; sie ist es, zu der wir hintreten müssen, wollen wir Seine Güter gewinnen; sie ist es, um derentwillen wir Seinen Zorn herausfordern, wenn wir sie lä­stern. Was aber ist die Kirche anderes als sozusagen ein Leib der Erniedrigung, der Spott und Entwei­hung geradezu herausfordert, wenn man nicht im Glauben lebt? Ein irdenes Gefäß, und das noch weit mehr als Sein Leib aus Fleisch, denn dieser war wenigstens sündenrein, während die Kirche in allen ihren Gliedern befleckt ist. Wir wissen, daß ihre Diener bestenfalls nur unvollkommen und irrtums­fähig und mit den gleichen Leidenschaften behaftet sind wir ihre Brüder; und doch hat Er von ihnen gesagt, als Er nicht nur die Apostel, sondern auch alle siebzig Jünger anredete (auf deren Stufe die christlichen Diener in ihren Ämtern sicher stehen): „Wer euch hört, der hört Mich, und wer euch, ver­achtet, der verachtet Mich; wer aber Mich verachtet, verachtet Den, der Mich gesandt hat“ (Lk 10,16). Wiederum: Er machte die Armen, Schwachen und Gebeugten zu Zeichen und Werkzeugen Seiner Gegenwart; und auch hier begegnen wir offensicht­lich derselben Versuchung, sie zu verachten oder zu entehren. Was Er war, das sind Seine erwählten Nachfolger in dieser Weltbund wie Sein verbor­gener und hilfloser Zustand die Menschen zu Spott und Mißhandlung veranlaßte, so führen dieselben Eigenschaften, die den Zeichen Seiner Gegenwart anhaften, dazu, Ihn heute zu verspotten. Daß dies Seine Zeichen sind, erhellt aus vielen Stellen der Schrift. So sagt Er zum Beispiel von den Kindern: „Wer ein solches Kind in Meinem Namen auf­nimmt, der nimmt Mich auf“ (Mt 18, 5). Wiederum sagte Er zu Saulus, der Seine Jünger verfolgte: „Warum verfolgst du Mich?“ (Apg 9, 4) Und Er gibt uns zu erkennen, daß Er am Jüngsten Tage zu denen auf der Rechten sagen wird: „Ich war hung­rig, und ihr habt Mich gespeist; Ich war durstig, und ihr habt Mich getränkt; ich war fremd, und ihr habt Mich aufgenommen; Ich war nackt, und ihr habt Mich bekleidet; Ich war krank, und ihr habt Mich besucht; Ich war gefangen, und ihr seid zu mir ge­kommen“. Dann fügt Er hinzu: „Was ihr einem Meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr Mir getan“ (Mt 25,35-40). Und denselben Zusam­menhang zwischen Sich und Seinen Jüngern behält Er bei bezüglich der Bösen. Was aber diese Stelle um so erschreckender und bezeichnender macht, ist die Bemerkung, die früher einmal ausgesprochen wurde, daß weder die Guten noch die Bösen wußten, was sie getan hatten. Selbst von den Gerechten heißt es ja, sie wußten nicht, daß sie sich Christus genähert hatten. Sie antworten: „Herr, wann ha­ben wir Dich hungrig gesehen und Dich gespeist? oder durstig und Dich getränkt?“ In jeglichem Zeit­alter also ist Christus in der Welt, nur weniger offenbar als in den Tagen seines Fleisches. Und eine ähnliche Beobachtung gilt für Seine Sakra­mente, die höchst einfach und zugleich aufs innigste mit Ihm verbunden sind. Der heilige Paulus zeigt im ersten Korintherbrief, wie leicht es ist und wie erschreckend zugleich, das Herrenmahl zu ent­weihen, wenn er die Größe der Verfehlung der Korinther darlegt und zugleich bemerkt, daß es die Unfähigkeit war, „den Leib des Herrn zu unter­scheiden“. Als Er in die Welt kam, erkannte Ihn die Welt nicht. Sie legten Ihn in eine Krippe, mitten unter die Tiere, aber „es beteten Ihn an alle Seine Engel“ (Ps 96,7). Heute wiederum liegt Er da auf einem Tisch, schlicht der Gestalt nach, in entehren­den Umständen; der Glaube betet an, aber die Welt geht vorbei.

Lasset uns also zu Ihm beten, Er möge uns das Auge unserer Erkenntnis erhellen, daß wir zu der himm­lischen Heerschar gehören mögen, nicht zu dieser Welt. Und während die fleischlich Gesinnten Ihn nicht einmal im Himmel wahrnehmen können, darf, wer geistlich ist im Herzen, schon auf Erden sich Ihm nahen, Ihn besitzen, Ihn schauen.

Sel. John Henry Newman, in: Deutsche Predigten, IV, 16 (pp 269-283)