Bekenntnis ohne Tat

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10. Predigt vom 9. Oktober 1831

Unterdessen strömten Tausende von Menschen zusammen, so daß es ein gefährliches Gedränge gab. Jesus wandte sich zuerst an seine Jünger und sagte: Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer, das heißt vor der Heuchelei. (Lk 12,1).

Heuchelei ist ein ernst zu nehmendes Wort. Wir sehen gewöhnlich den Heuchler als einen verabscheuungs- und verachtungswürdigen Charakter an, zudem als einen ungewöhnlichen. Wie kommt es nun, daß unser Herr, umgeben von einer großen Volksschar, die Rede damit begann, Seine Jünger vor der Heuchelei zu warnen, als ob sie in beson­derer Gefahr wären, wie diese gemeinen Betrü­ger, die Pharisäer, zu werden? Damit wird uns ein lehrreicher Gegenstand zur Prüfung vorgelegt, dem wir nun nachgehen wollen.

Wir sehen gewöhnlich, meine ich, den Heuchler als einen Charakter von außerordentlicher Schlech­tigkeit an, dem wir sehr selten begegnen. Daß Heuchelei eine große Schlechtigkeit ist, steht außer Frage; daß sie aber eine ungewöhnliche Sünde ist, trifft nicht zu. Eine kurze Prüfung wird uns das zeigen. Was verstehen wir denn unter einem Heuchler? Wir sehen im Heuchler gern einen Menschen, der um geheimer Zwecke willen seine Religion bekennt, ohne daß er nach seinem Be­kenntnis handelt. Er ist böswillig, habsüchtig oder schamlos, indes er in seinen Worten und in sei­nem Benehmen eine äußere Heiligkeit zur Schau trägt. Auf diese Weise täuscht er mit Überlegung und ohne Gewissensbisse andere, wobei er selbst durchaus nicht der Betrogene ist. Ein solcher Mensch wäre wahrhaftig ein Scheusal, denn er scheint das Dasein eines Gottes, der die Herzen kennt, zu leugnen. Ich will nicht abstreiten, daß in manchen Zeiten, ja in allen Zeiten eine kleine Anzahl solcher Menschen gelebt hat. Dieses aber scheint unser Heiland nicht unter einem Heuchler verstanden zu haben, noch waren die Pharisäer von dieser Art.

Gewiß, die Pharisäer sagten so und handelten an­ders. Sie waren sich aber dabei des Widerspruches nicht bewußt. Sie täuschten sich selbst so gut wie andere. Es entspricht nämlich nicht der mensch­lichen Natur, andere auf längere Zeit zu täuschen, ohne in einem gewissen Maß sich selbst zu täu­schen. In den meisten Fällen bringen wir es fertig, uns selbst so sehr wie andere zu täuschen. Die Pharisäer prahlten damit, Kinder Abrahams zu sein, ohne überhaupt den Inhalt des Ausdrucks zu verstehen oder zu kennen. Sie waren in Wirklich­keit nicht in den Abraham gegebenen Segen ein­geschlossen, gleichwohl wollten sie es die Welt glauben machen. Aber so setzte sich auch in ihnen der Gedanke fest, daß sie es wären, oder zum wenigsten waren sie trotz einigem Bedenken im großen und ganzen davon überzeugt. Sie hatten sich selbst so gut wie die Welt getäuscht; und da­her stellt ihnen unser Herr die große und schlichte Wahrheit, die sie in ihrer Einfachheit vergessen hatten, vor Augen. „Wenn ihr Kinder Abrahams seid, so tut auch Abrahams Werke“ (Joh 8, 39).

Diese Wahrheit hatten sie, behaupte ich, ver­gessen; denn zweifellos wußten sie einmal davon. Sicher gab es eine Zeit, da sie bis zu einem be­stimmten Grad sich selbst und ihr Benehmen kannten. Als sie damit anfingen (einer nach dem andern), das Volk zu betrügen, fielen sie für den Augenblick nicht dem Selbstbetrug zum Opfer. Aber allmählich vergaßen sie – weil sie sich nicht darum bemühten, es in ihrer Erkenntnis festzu­halten -, daß, wer gesegnet sein will wie Abra­ham, auch heilig sein muß wie Abraham, daß äußere Zeremonien nichts frommen ohne innere Reinheit und daß ihre Gedanken und Beweggründe himmlisch sein müssen. Ein Teil ihrer Pflicht ver­schwand gänzlich aus ihrem Bewußtsein, den an­deren Teil mochten sie zwar noch wissen, aber sie werteten ihn nicht in vollem Maß. Sie gerieten in Unwissenheit über ihre eigene geistige Verfassung. Es kam ihnen nicht mehr zum vollen Bewußtsein, daß sie in höchstem Maß von weltlichen Dingen beeinflußt waren, daß Eifer für den Dienst Gottes nur ein untergeordneter Beweggrund ihres Han­delns war und daß sie das Lob der Menschen mehr liebten als das Lob von Seiten Gottes. Sie schwatzten nur noch von Religion, von Himmel und Hölle, von den Geretteten und Verworfenen, bis ihre Reden bloßes Gerede in ihrem Munde wurden, gesprochen ohne den wirklichen entspre­chenden Sinn. Sie lasen die Heilige Schrift über­haupt nicht oder sie lasen sie ohne die zum rich­tigen Verständnis erforderliche Ernsthaftigkeit und Achtsamkeit. Demgemäß waren sie ernstlich darum besorgt, den Zehnten zu bezahlen von ge­ringfügigsten Dingen wie Minze, Anis und Küm­mel, während sie das Wichtigere des Gesetzes, gerechtes Urteil, Barmherzigkeit und Glauben unterließen. Aus diesem Grund nennt sie daher unser Herr „blinde Führer“, – nicht kühne, ruch­lose Betrüger, die wußten, daß sie falsche Führer waren, sondern blinde (Mt 23, 24; Lk 11, 39-52). Blind waren sie auch in dem Gedanken, daß sie, hätten sie in ihrer Väter Tagen gelebt, die Pro­pheten nicht getötet hätten wie ihre Väter. Sie kannten sich selbst nicht; unbewußt hatten sie sich selbst und das Volk getäuscht. Die Unwissenheit um ihre eigene Unwissenheit war ihre Strafe und der klare Beweis ihrer Sünde. „Wenn ihr blind wäret“, sagt unser Heiland zu ihnen, wenn ihr einfach blind wäret, euch dessen bewußt und un­glücklich darüber, „so hättet ihr keine Sünde; aber nun sagt ihr, wir sehen“ – sie kannten nicht ein­mal ihre Blindheit -, „deshalb bleibt eure Sünde“ (Joh 9, 41. Siehe Jak 1, 22).

Unter Heuchelei versteht man also dieses: Ein Heuchler ist nicht einfach ein Mensch, der andere täuscht und die ganze Zeit sich dessen bewußt ist, daß er sie täuscht, sondern einer, der sich selbst und andere gleichzeitig täuscht, auf Grund eines religiösen Bekenntnisses nach ihrem Lob trachtet, ohne wahrzunehmen, daß er deren Lob mehr liebt als das Lob von Seiten Gottes und weit mehr (mit den Lippen) bekennt, als er in der Tat übt. Wenn dies nach der Schrift die wahre Bedeutung des Wortes ist, dann haben wir (ganz klar) einen Ein­blick in die Gründe, die unseren göttlichen Lehrer veranlaßten, Seine Jünger in solch betonter Form vor der Heuchelei zu warnen. Damals drängte sich eine unzählbare Schar an Ihn heran, und Seine Jünger waren um Ihn versammelt. Zwölf von ihnen waren dazu bestimmt worden, Ihm als Seine besonderen Freunde zu Diensten zu sein. Andere siebzig waren von Ihm ausgesandt worden, mit Wundergaben versehen, und bei ihrer Rückkehr hatten sie voll Siegesfreude von ihren eigenen Wundertaten erzählt. Von ihnen allen sprach Er als dem Salz der Erde, dem Licht der Welt, den Kindern Seines Reiches. Sie waren die Vermittler zwischen Ihm und dem gesamten Volk, da sie die Kranken und die Schwerbeladenen zu Ihm führ­ten. Und nun standen sie an Seiner Seite, teilten Seine Beliebtheit beim Volk, vielleicht rühmten sie sich ob ihrer Verbundenheit mit Christus und freuten sich, von der sich drängenden Menge an­gestaunt zu werden. Bei diesem Anlaß sprach Er, bevor Er sich an die Scharen wandte, zuallererst Seine Jünger an mit den Worten: „Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer, der die Heuche­lei ist“; gerade als ob Er gesagt hätte: „Welches ist die Hauptsünde meiner Feinde und Verfolger?“ Nicht die offene Gottesleugnung, sondern die Liebe zu einem religiösen Bekenntnis um des nachfolgenden Menschenlobes willen. Sie stellen sich selbst gern anderen Menschen gegenüber; sie schmeicheln sich, eine kleine Herde zu sein, der das Leben inmitten der Verworfenen zugesichert ist. Es gefällt ihnen, einfach dazustehen und sich bei ihren religiösen Schaustellungen bewundern zu lassen, und sie nehmen an, nicht durch ihre eigene persönliche Heiligkeit, sondern durch den Glauben ihres Vaters Abraham gerettet zu werden. Diese nämliche Täuschung kann auch über euch kommen, wenn ihr vergesset, daß ihr nach diesem Leben, jeder einzeln, gemäß euren Werken vor Gottes Richterstuhl gerichtet werdet. Jetzt aller­dings seid ihr ausgestattet mit Meiner Größe und besitzet das Vertrauen um Meiner Lehre und Hei­ligkeit willen: Aber „nichts ist verdeckt, was nicht offenbar werden wird, und nichts versteckt, das nicht bekannt sein wird am Jüngsten Tag“ (Mt 10, 26; Lk 12, 2).

Diese Warnung vor der Heuchelei wird noch not­wendiger und eindrucksvoller wegen der Größe der christlichen Vorrechte, verglichen mit den jü­dischen. Die Pharisäer prahlten damit, Kinder Abrahams zu sein; wir aber haben das unendlich höhere Vorrecht, welches die Gemeinschaft mit Christus verleiht. In unserer Kindheit sind wir alle mit dem überaus hehren und herrlichen Titel: Kinder Gottes, Glieder Christi und Erben des Himmelreiches beschenkt worden. Wir sind beehrt worden mit der Verleihung geistiger Kräfte, die uns überschatteten, auf uns ruhen blieben und da­durch unseren Leib zu einem Tempel Gottes ge­macht haben. Als wir in die Jahre der Unterschei­dung kamen, wurden wir zugelassen zu dem himmlischen Geheimnis, das uns am Leib und Blut Christi teilnehmen läßt. Was ist in Anbetracht unserer verderbten Natur wahrscheinlicher, als daß wir die Pflichten vergessen und doch die Vorzugs­stellung unseres christlichen Bekenntnisses bewah­ren wollen? Unser Herr hat kummervoll in Seinen Gleichnissen vorausgesagt, was sich in Seiner Kirche ereignen würde; so, als Er sie mit einem Netz verglich, das mit jeglicher Art von Fischen angefüllt ist, aber erst am Ende untersucht und dann seines unterschiedlichen Inhaltes entleert wird, sei er gut oder schlecht. Bis zum Tage der Heimsuchung wird die sichtbare Kirche immer voll von solchen Heuchlern sein, wie ich sie beschrieben habe. Sie leben in ihrem Schatten, erfreuen sich des christlichen Namens und bilden sich vergebens ein, an ihrer endgültigen Verherrlichung teilneh­men zu dürfen.

Vielleicht wird man zugeben, daß es eine große Anzahl von Christen auf der Welt gibt, die auf diese Weise am Glauben festhalten, ohne ihn ent­sprechend in die Tat umzusetzen, und doch leugnen, daß diese Einstellung genügt, einen zum Heuchler im Sinne des Schriftwortes zu stempeln; als ob jener ein Heuchler wäre, der sich für etwas aus­gibt, was er nicht ist, und zwar aus einem schlech­ten Beweggrund. Es kann nachdrücklich geltend gemacht werden, daß die Pharisäer in ihrem Tun eine Absicht hatten, die nachlässige und äußer­liche Christen nicht haben. Aber gebt für einen Augenblick darauf acht: welches war der Beweg­grund, der die Pharisäer zu ihrer Heuchelei drängte? Sicher, daß sie von den Menschen ge­sehen werden könnten und Ruhm bei den Men­schen hätten1. So schildert sie unser Herr. Wer will nun sagen, daß die Achtung der Welt, die Furcht vor ihrem Urteil und die Hoffnung auf weltlichen Vorteil gegenwärtig nicht übermächtig die Menschen im allgemeinen in ihrem christlichen Bekenntnis beeinflussen? So sehr ist das der Fall, daß es für Menschen des öffentlichen Lebens schwierig ist – als große und edle Tat gilt es -, auf ehrliche Weise zu tun, was sie für ihre Pflicht Gott gegenüber halten, ohne Rücksicht darauf, ob die betreffende öffentliche Meinung der ihrigen gerade zuwiderläuft. Es hat tatsächlich seit den Tagen der Apostel kaum eine Zeit gegeben, in der die Menschen mehr geneigt waren als in unserer Zeit, ihre guten Taten zu tun, um von den Menschen gesehen zu werden, ferner sich um Menschen­lob zu bemühen und daher ihr Handeln lieber nach den Grundsätzen der Welt zu richten als nach dem Willen Gottes. Jeder von uns sollte sehr mißtrauisch sein gegen die Echtheit seines Glau­bens und seiner Tugend. Achten wir darauf, ob wir genau so handelten wie jetzt, wären die Augen unserer Bekannten und Nachbarn von uns abge­wandt. Nicht daß die Rücksicht auf die Meinung anderer ein schlechter Beweggrund wäre; wenn es in Unterordnung unter die Furcht des göttlichen Urteils geschieht, ist es harmlos und erlaubt und in manchen Fällen Pflicht, dem stattzugeben. Die Gelegenheit, danach zu handeln, ist eine gütige Gabe Gottes, um uns auf dem rechten Weg voran­zuführen. Wenn wir aber dem untrüglichen Be­fehl Gottes menschliches, fehlbares Urteil vor­ziehen, dann sind wir im Unrecht, und zwar in zweifacher Weise: einmal, weil wir es vorziehen, zum anderen, weil es uns irreführen wird wegen seiner Fehlbarkeit. Die Frage, meine Brüder, zielt nicht darauf ab, ob ihr bloße menschliche Meinung berücksichtigt (was ihr tun sollt), sondern ob ihr sie dem Urteil Gottes voranstellt, was ihr sicher nicht tun sollt; – tätet ihr es, so wäret ihr Heuch­ler wie die Pharisäer, obwohl ihr vielleicht nicht soweit geht wie sie in ihrer hohlen Selbsttäuschung. 1. Daß sogar anständige Christen in beängstigend großer Zahl von der Beurteilung der öffentlichen Meinung sich leiten lassen, anstatt im Glauben an den unsichtbaren Gott zu leben, beweist mir fol­gender Umstand: In dem Maße wie ihre Stellung im Leben die Menschen unabhängig vom Urteil anderer macht, lassen sie ab von der Treue und Gewissenhaftigkeit ihres Bekenntnisses. Es gibt zwei Klassen von Menschen, die dem Urteil der Gemeinschaft entzogen sind; jene, die über ihr ste­hen, und jene, die unter ihr stehen; – die allerärmste Schicht, die nicht daran denkt, durch eigene Bemühungen sich zu erhalten, und die das Scham­gefühl verloren hat; und die sogenannte (um einen Ausdruck dieser Welt zu gebrauchen) tonangebende Gesellschaft, unter der ich nicht notwendigerweise die Reichen verstehe, sondern jene unter den Reichen und Vornehmen, welche sich selbst aus den Schranken der Gesellschaft ausschließen, welche die Bande, die sie an andere knüpfen, ob nach oben oder nach unten, zerreißen und dann für sich und unter sich leben, ohne daß ihr ge­wöhnliches Leben der großen Welt sichtbar ist. So kommt es, daß diese beiden Schichten, die wir die Selbstverbannten der öffentlichen Meinung nennen können, (allgemein gesprochen) ganz offen und dreist eine schamlose Lebensführung zeigen. Wie sehr kann man dann schließen auf den Ein­fluß einer bloßen Liebe zum guten Ruf, die uns alle auf dem rechten Weg hält! Es ist eine offen­kundige Tatsache, daß die große Masse der Men­schen durch die Gesellschaftsformen vor gröberen Sünden bewahrt wird. Die herkömmlichen Ge­setze von Schicklichkeit und Anstand, die Befürch­tung, den guten Ruf zu verlieren, stehen Wache und schlagen Alarm, lange bevor die christlichen Grundsätze wirksam werden. Unter der ärmsten und ungebildetsten Schicht sind im Gegensatz dazu solche künstliche Sicherungen gegen Verbrechen unbekannt; und (beachtet meine Worte) bei ihnen und jener anderen erwähnten Schicht sind das Laster und das Verbrechen am häufigsten. Sind wir also besser als sie? Kaum. Ihre Versuchungen sind ohne Zweifel größer, eine Tatsache, die uns allein schon verbietet, uns über sie zu erheben; gewinnen wir aber außerdem vom Anblick ihrer anstößigeren Sünden nicht eine gewichtige Lehre und eine dringliche Warnung für uns, einen Anruf zu aufrichtiger Selbstprüfung? Sind wir doch der­selben Natur und teilen mit ihnen die gleichen Leidenschaften. Wir sind vielleicht besser als sie* aber der bloße Anschein ist noch kein Beweis da­für, daß wir es sind. Die Frage ist, ob wir trotz unserer größeren, scheinbaren Tugend nicht fallen würden wie sie, wenn die gesellschaftlichen Schran­ken entfernt wären; d. h. ob wir nicht im wesent­lichen Heuchler sind wie die Pharisäer; geben wir doch vor, Gott zu ehren, während wir Ihn nur in­soweit ehren, als die Menschen es von uns erwarten. 2. Ein anderer Beweis für Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit mit den Pharisäern verdient Erwäh­nung. Unser Herr warnt uns vor der Heuchelei in drei Dingen, – im Almosengeben, im Beten und im Fasten. „Wenn du Almosen gibst, so sollst du nicht mit der Posaune vor dir her blasen, wie die Heuchler in den Synagogen und auf der Gasse tun, damit sie von den Menschen gepriesen wer­den … Wenn ihr betet, so sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von den Menschen gesehen werden … Wenn ihr aber fastet, so sollt ihr nicht traurigen Antlitzes sein wie die Heuchler; denn sie entstellen ihr Ange­sicht, damit die Menschen sehen, daß sie fasten“ (Mt 6, 216). Hier wollen wir uns selbst fragen, zuerst was unser Almosen angeht, ob wir nicht den Pharisäern gleichen. Zweifellos muß etwas von unserer Liebestätigkeit öffentlich sein, denn die Tatsache der Erwähnung unseres Namens er­mutigt andere, unserem Beispiel zu folgen. Jedoch, ich frage, vollzieht sich nun ein großer Teil un­serer Liebestätigkeit in der Stille? Ist die geheime gerade so groß wie die öffentliche? Ich will nicht die Frage stellen, ob mehr getan wird im geheimen als vor den Menschen, obwohl das womöglich so sein sollte. Wofern wir aber mindestens in erster Linie an unsere öffentliche Liebestätigkeit denken und erst danach an die Pflicht des geheimen Al­mosengebens, sind wir da nicht offensichtlich wie die heuchlerischen Pharisäer?

Die Art unserer Gebete wird uns einen noch klare­ren Beweis in die Hand geben. Wir sind hier zum Gottesdienst versammelt. Das ist ganz gut. Aber haben wir wirklich so gebetet, wie wir zu beten schienen? Haben wir in unserem Innern wirksam uns mit dem Versuch abgegeben, in uns die schwer erreichbare Tugend des Gebetes heranzubilden? Sind wir ferner ebenso treu im Gebet zu unserem Vater, der im Verborgenen wohnt, in unserem Kämmerlein wie in der Öffentlichkeit2? Fühlen wir große Gewissensbisse, wenn wir unser Morgen- und Abendgebet unterlassen oder es hastig und ehrfurchtslos verrichten? Und doch, würden wir nicht die äußerste Pein und Scham empfinden, und mit Recht, bei dem Gedanken, irgend eine offene Ungehörigkeit in der Kirche begangen zu haben? Wären wir zum Beispiel während des Gottes­dienstes zum Lachen verleitet worden oder zu an­derem leichtfertigen Benehmen, würden wir uns dann nicht brennend schämen und denken, daß wir uns selbst entehrt haben, trotzdem wir ge­wöhnlich im nächsten Augenblick jegliche sündhafte Nachlässigkeit beim Gebet im Kämmerlein gänzlich vergessen? Heißt das nicht so sein wie die Pharisäer?

Kommen wir endlich auf die Frage des Fastens. Ach, ich fürchte, die meisten von uns denken über­haupt nicht an das Fasten. Wir gewähren ihm nicht einmal Einlaß in unsere Gedanken, noch überlegen wir, ob es nicht notwendig oder ange­bracht für uns ist, zu fasten oder auf irgend eine Weise unser Fleisch abzutöten. Gut, das ist eine Vernachlässigung von Christi Worten. Aber wir entstellen wenigstens nicht unser Äußeres, um uns den Anschein des Fastens zu geben wie die Phari­säer. Hierin scheinen wir von den Pharisäern ver­schieden zu sein. Doch in Wirklichkeit ist dieser ganz scheinbare Unterschied eine einzigartige Be­stätigung für unsere tatsächliche Ähnlichkeit mit ihnen. Äußere Strenge verschaffte ihnen Ansehen; uns würde sie keines bringen. Sie würde uns kaum mehr als Spott von Seiten der Welt eintragen. Die Zeiten haben sich geändert. In den Tagen Christi ließ die Gebärde des Fastens die Menschen in den Augen der Menge als Heilige erscheinen. Seht also, was wir tun. Wir halten an der Schaustellung des Almosengebens und der öffentlichen Gottes­verehrung fest, – Verpflichtungen, welche die Welt zufällig anerkennt. Wir haben die Schau­stellung des Fastens, welches die Welt heutigen Tages (zufällig) verlacht, aufgegeben. Sind wir ganz sicher, daß wir nicht begännen, das Fasten zu beobachten wie die Pharisäer, wenn es in Ehren stünde? In dieser Weise suchen wir das Lob der Menschen. Wie aber folgen wir in allen diesen Dingen wenigstens einigermaßen Gottes Führun­gen und Verheißungen?

Wir sehen also, wie zeitgemäß die Warnung un­seres Herrn an uns, Seine Jünger, ist, uns zualler­erst vor dem Sauerteig der Pharisäer zu hüten, der Heuchelei ist: d. h. vor dem Bekenntnis ohne Tat. Er warnt uns davor wie vor einem Sauerteig, einem feinen sich einschleichenden Übel, das ins­geheim über den ganzen Charakter sich ausbreitet, wenn wir es dulden. Er warnt uns, Seine Jünger, mit liebevoller Aufmerksamkeit gegen uns, daß wir uns nicht der weltlich gesinnten Menge zum Gegenstand der Verachtung und des Gelächters machen sollen, die sich herandrängt, um neugierig oder böswillig oder eigennützig Seine Taten an­zustaunen. Sie suchen Ihn, nicht um Ihn Seiner Wunder wegen anzubeten, sondern um nach Mög­lichkeit irgend etwas von Ihm erhalten oder ihre natürlichen Neigungen befriedigen zu können, während sie vorgeben, Ihn zu ehren; zur Zeit der Prüfung lassen sie Ihn im Stich. Sie machen aus der Frömmigkeit ein Geschäft oder eine Mode. Deshalb spricht Er nicht zu diesen, sondern zu uns, Seiner kleinen Herde, Seiner Kirche. Dem Vater aber hat es gefallen, dieser Sein Reich zu geben. Er fordert uns auf, acht zu geben, daß wir nicht fallen wie die Pharisäer vor uns und daß wir nicht gleich ihnen unserer Belohnung verlustig gehen. Er gibt uns zu bedenken, daß der Vorwand, reli­giös zu sein, nur für eine kurze Zeit täuscht, daß früher oder später, „was immer wir in der Dunkel­heit gesprochen haben, im Licht gehört wird und daß alles, was wir in der Kammer ins Ohr ge­sprochen haben, auf den Dächern ausgerufen wird“ (Lk 12, 3). Oft kommt die Enthüllung schon in dieser Welt. Ein Mensch fällt in diese oder jene Versuchung, und wenn er keine Wurzeln in sich hat, fällt er ab und gibt den Feinden des Herrn Anlaß zur Lästerung. Ja, dies wird ihm zustoßen, ohne daß er sich dessen bewußt ist; denn, obwohl ein Mensch zuerst andere täuscht, bevor er sich selbst täuscht, täuscht er sie doch nicht so lange, wie er sich selbst täuscht. Ihre Augen werden schließlich ihm gegenüber geöffnet, während die seinen sich selbst gegenüber geschlossen bleiben. Die Welt sieht durch ihn hindurch, entdeckt und entdeckt mit Triumph seine niederen Beweg­gründe, seine weltlichen Pläne und Schliche, wäh­rend er selbst nur ein sehr schwaches Empfinden, geschweige denn einen Begriff davon hat, daß andere sie deutlich sehen. So wird er in dem Be­kenntnis der erhabensten Grundsätze und Gefühle verharren, während schlechte Menschen ihn ver­spotten und in seiner Person die wahre Religion verhöhnen.

Glaubet nicht, ich meine den einen oder den an­dern, wenn ich von dem Ärgernis spreche, das die zwiespältige Haltung eines Christen über seine Sache bringt. Was ist die sogenannte christliche Welt tatsächlich anderes als ein Zeuge für Satan, weit mehr als ein Zeuge für Christus? Recht ver­standen, ohne Zweifel ist der tatsächliche Unge­horsam der Christen ein Zeugnis für Ihn, der die Oberhand haben wird, so oft man Ihn richtet. Gibt es aber von vornherein ein größeres Vorurteil gegen die Religion als jenes, das durch das Leben ihrer Bekenner hervorgerufen wird? Stets wollen wir uns ins Gedächtnis rufen, daß alle, die Gott mit nur halbem Herzen folgen, die Hand der Feinde stärken, lasterhaften Menschen Anlaß zum Jubel geben, Sucher nach der Wahrheit verwirren und Vorwürfe auf den Namen ihres Erlösers brin­gen. Es ist eine bekannte Tatsache, daß Ungläu­bige triumphierend behaupten, der größere Teil des englischen Volkes sei auf ihrer Seite, der Un­gehorsam der bekennenden Christen sei ein Be­weis dafür, daß sie doch in ihrem Herzen (trotz ihrer Worte) gleichfalls Ungläubige seien. Solche Worte haben wir vielleicht selbst gehört; Worte, nicht gesprochen in der Hitze einer Auseinander­setzung oder in witzigem Spott, sondern in nüch­ternem Ernst, aus der wirklichen und vollen Über­zeugung ihrer Wahrheit. Mit anderen Worten: Menschen, die ihren Erlöser aufgegeben haben, trösten sich mit dem Gedanken, daß ihre Nach­barn, obwohl sie zu furchtsam oder zu träge sind, offen so zu handeln, doch im geheimen oder we­nigstens in ihrer eigentlichen Haltung das gleiche tun. Als Zeugen dieser allgemeinen Zwiespältig­keit verachten sie jene als unmännlich, feige und sklavisch und hassen die Religion als den Ur­sprung dieser geistigen Erniedrigung. „Die Leute, die sich in diesem Lande christlich nennen“, sagt einer von diesen, „sind mit wenigen Ausnahmen keine Gläubigen. Jeder verständige Mensch, den seine Frömmelei nicht geblendet hat, muß ein­sehen, daß die, welche offensichtlich weltlichen Ge­winn oder weltlichen Eitelkeiten oder genußsüch­tigen Freuden – wenn sie auch noch einen kleinen Anstand bewahren – ergeben sind, während sie vorgeben, an die unendlich folgenschweren Lehren des Christentums zu glauben, Spieler in einem elenden Schwank sind, der unter aller Verachtung ist“. Das sind die Worte eines erklärten Feindes Christi; als ob er fühlte, er dürfe seinen Unglau­ben bekennen und die erbärmliche Heuchelei seiner Umgebung verachten. Seine Beweisführung wird allerdings den Spruch des Gerichtes Gottes am Jüngsten Tag nicht aushalten, denn keiner ist un­gläubig, es sei denn aus eigener Schuld. Obwohl sie keine Entschuldigung für ihn ist, bedeutet sie doch Verdammung der Heuchler. Welche Vertei­digungsgründe werden sie in Wirklichkeit am Throne Gottes vorbringen, wenn bei der Offen­barung aller verborgenen Taten dieser Schmäher der Religion seinen Unglauben bis zu einem ge­wissen Grad dem Anblick ihres zwiespältigen Wandels zuschreibt? Wenn er diese Tat oder jene Unterhaltung, dieses gewalttätige oder weltliche Benehmen, jenes habsüchtige oder ungerechte Ge­schäft, oder jenes genußsüchtige Leben als den teilweisen Anlaß zu seinem Abfall erwähnt? „Wehe der Welt (steht geschrieben) um der Ärger­nisse willen; denn es müssen zwar Ärgernisse kommen; wehe aber dem Menschen, durch welchen Ärgernis kommt!“ (Mt 18, 7). Wehe dem, der an­dere und sich betrügt! „Seine Hoffnung schwindet; seine Hoffnung wird abgeschnitten; sein Vertrauen ist wie ein Spinngewebe: Er lehnt sich gegen sein Haus, aber es hält nicht stand; er hält sich daran fest, aber es wird nicht stehen bleiben“ (Ijob 8, 13-15). Gott gebe uns die Gnade, diesem Wehe zu entfliehen, solange wir Zeit haben! Prüfen wir uns selbst, um zu sehen, ob irgend ein verderb­licher Hang in uns ist; streben wir danach, eine tröstliche Sicherheit zu erlangen, daß wir auf dem schmalen Wege sind, der zum Leben führt. Bitten wir Gott, Er möge uns erleuchten, führen und uns geben das Wollen und das Vollbringen, Ihm zu gefallen.

John Henry Newman, Deutsche Predigten (vol 1, 10), Schwabenverlag Stuttgart 1948, pp. 140-155.