Gedanken von Kardinal Ratzinger (Papst Benedikt XVI.) über John Henry Newman

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Als eine wichtige Fügung erwies es sich, dass uns als Präfekt für unseren Studiersaal ein soeben aus englischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrter Theologe zugeteilt wurde: Alfred Läpple, der später als Religionspädagoge in Salzburg wirken und als einer der fruchtbarsten religiösen Schriftsteller unserer Zeitberühmt werden sollte. Er hatte schon vor dem Krieg bei dem Münchener Moraltheologen Theodor Steinbüchel die Arbeit an einer theologischen Dissertation über den Begriff des Gewissens bei Kardinal Newman begonnen und wurde mit seinen weit gespannten Kenntnissen in der Geschichte der Philosophie wie mit seiner Lust am Disput zu einem großen Anreger (Aus meinem Leben, 48).

Im richtigen Sinn verstanden ist ein Mensch, der auf das Gewissen hört und für den dann das Erkannte, Gute über der Billigung und der Akzeptanz steht, für mich wirklich ein Ideal und eine Aufgabe. Und Gestalten wie Thomas Morus, Kardinal Newman und andere große Zeugen – wir haben die großen Verfolgten des Naziregimes, zum Beispiel Dietrich Bonhoeffer – sind für mich große Vorbilder (Salz der Erde, 72).

Ich bestreite nicht, dass es in meinem Leben Entwicklung und Wandel gibt, aber ich halte fest, dass es Entwicklung und Wandel in einer grundlegenden Identität ist und dass ich, gerade mich wandelnd, dem, worum es mir immer gegangen ist, treu zu bleiben versucht habe. Da stimme ich Kardinal Newman zu, der sagt, zu leben heißt sich wandeln, und der hat viel gelebt, der auch fähig war, sich zu wandeln (Salz der Erde, 124).

Newman hat in der Idee der Entwicklung die eigene Erfahrung einer nie abgeschlossenen Bekehrung ausgelegt und uns darin nicht nur den Weg der christlichen Doktrin, sondern den des christlichen Lebens interpretiert. Das Kennzeichen des großen Lehrers in der Kirche scheint mir zu sein, dass er nicht nur durch sein Denken und Reden lehrt, sondern mit seinem Leben, weil Denken und Leben sich in ihm gegenseitig durchdringen und bestimmen. Wenn es so ist, dann gehört Newman zu den großen Lehrern der Kirche, weil er zugleich unser Herz berührt und unser Denken erleuchtet. (L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 3. Juni 2005, 9; der vollständige Vortrag: „Newman gehört zu den großen Lehrern der Kirche“

Ich stehe nicht an zu sagen, dass Wahrheit der zentrale Gedanke von Newmans geistigem Ringen ist; das Gewissen ist bei ihm deshalb zentral, weil die Wahrheit in der Mitte steht. Anders gesagt: Die Zentralität des Gewissensbegriffs bei Newman ist gebunden an die vorgängige Zentralität des Wahrheitsbegriffs und nur von dieser her zu verstehen. Die Dominanz der Idee des Gewissens bedeutet bei Newman nicht, dass er nun, im 19. Jahrhundert und im Gegenüber zur „objektivistischen“ Neuscholastik, sozusagen eine Philosophie oder Theologie der Subjektivität vertritt. Gewiss, das Subjekt findet bei Newman eine Aufmerksamkeit, wie es sie in katholischer Theologie vielleicht seit Augustin nicht mehr erfahren hatte. Aber es ist eine Aufmerksamkeit auf der Linie Augustins und nicht auf derjenigen der subjektivistischen Philosophie der Neuzeit. Bei seiner Kardinalserhebung hat Newman bekannt, dass sein ganzes Leben ein Kampf gegen den Liberalismus gewesen sei. Wir könnten hinzufügen: auch gegen den christlichen Subjektivismus, wie er ihn in der evangelikalen Bewegung seiner Zeit vorfand, die ihm freilich die erste Stufe seines lebenslangen Bekehrungsweges geschenkt hatte (Wahrheit, Werte, Macht, 42-43).

Gewissen bedeutet für Newman nicht die Maßstäblichkeit des Subjektsgegenüber den Ansprüchen der Autorität in einer wahrheitslosen Welt, die vom Kompromiss zwischen Ansprüchen des Subjekts und Ansprüchen der sozialen Ordnung lebt. Es bedeutet vielmehr die vernehmliche und gebieterische Anwesenheit der Stimme der Wahrheit im Subjekt selbst; Gewissen ist die Aufhebung der bloßen Subjektivität in der Berührung zwischen der Innerlichkeit des Menschen und der Wahrheit von Gott her. Bezeichnend ist der Vers, den Newman 1833 in Sizilien niederschrieb: „Ich liebte eigenen Weg. Jetzt bitte ich: Leucht mir voran!“ Die Konversion zum Katholizismus war für Newman nicht Sache des persönlichen Geschmacks, des subjektiven seelischen Bedürfnisses. Dazu äußerte er noch 1844, sozusagen an der Schwelle seiner Konversion: „Niemand kann vom derzeitigen Zustand der römischen Katholiken eine ungünstigere Meinung haben als ich…“. Es ging Newman vielmehr darum, erkannter Wahrheit mehr gehorchen zu müssen als eigenem Geschmack, also auch gegen das eigene Empfinden und gegen Bindungen der Freundschaft wie des gemeinsamen Weges. Es scheint mir bezeichnend, dass Newman in der Reihenfolge der Tugenden den Vorrang der Wahrheit vor der Gütebetonte oder, für uns verständlicher ausgedrückt: ihren Vorrang vor dem Konsens, vor der Gruppenverträglichkeit (Wahrheit, Werte, Macht, 43-44).