Die Liebe, das eine Notwendige

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„Die Liebe mit ihrem doppelten Gesicht als Liebe zu Gott und zu den Schwestern und Brüdern ist die Synthese des sittlichen Lebens des Glaubenden. Sie hat in Gott ihren Ursprung und ihre Vollendung“ (Tertio millennio adveniente Nr. 50). Die folgenden Ausführungen rufen in Kürze einige ausgewählte Gedanken aus Newmans Predigten zum Thema der Liebe in Erinnerung.

Glaube und Liebe

Newman spricht in seinen Predigten immer wieder davon, daß wir geschaffen sind, um zu lieben. „Wir lieben, weil es unsere Natur ist zu lieben; und es ist unsere Natur, weil Gott, der Heilige Geist, sie zu unserer Natur gemacht hat“ (DP[1] IV 345). Die Liebe gibt dem Leben Sinn und Erfüllung. „Unser wirkliches und wahres Glück besteht nicht im Wissen, Begehren oder Erstreben, sondern im Lieben, Hoffen, Sich_freuen, Bewundern, Verehren, Anbeten. Unser wirkliches und wahres Glück liegt im Besitz jener Dinge, in denen unser Herz Ruhe und Frieden finden kann“ (DP V 355).

Obwohl Newman um die Vorrangstellung der Liebe weiß, predigt er häufiger über den Glauben als über die Liebe. Er ist davon überzeugt, dass der Glaube der Weg hin zur reifen christlichen Liebe ist. Glaube und Hoffnung sind wie zwei Wanderstäbe, die uns helfen, den Pfad der Liebe zu finden und auf diesem Pfad voranzuschreiten. „Die erste Tugend ist der Glaube, die letzte die Liebe; zuerst kommt der Eifer, darnach kommt die Liebenswürdigkeit. Zuerst kommt die Verdemütigung, dann kommt der Friede; zuerst kommt die Bereitschaft, dann die Ergebung. Mögen wir alle Tugenden nach und nach in uns zur Reife bringen _ in Furcht und Zittern, wachend und büßend, weil Christus kommt; freudig, dankbar und unbekümmert um die Zukunft, weil er schon da ist“ (DP V 89).

Auf der anderen Seite ist die Liebe die edelste aller Gaben Gottes, denn sie hört niemals auf. In dieser Hinsicht überragt sie, wie Newman in der Predigt Glaube und Liebe (1838) aufzeigt, auch den Glauben und die Hoffnung. „Glaube und Hoffnung sind die Tugenden eines unvollkommenen Zustandes und hören mit ihm auf; die Liebe aber ist größer, weil sie Vollendung ist. Glaube und Hoffnung sind Tugenden, solange wir an diese Erde gebunden sind _ die vergänglich ist; die Liebe aber ist eine Tugend für uns als Geschöpfe Gottes, hienieden und überall, für uns als Teilhaber einer Erlösung, die ewig dauert. Glaube ist nicht mehr, wo Schau ist; noch Hoffnung, wo Besitz; aber die Liebe wird (wie wir glauben) in alle Ewigkeit wachsen“ (DP IV 344).

Die Liebe ist zudem jene Tugend, die gleichsam den inneren Motor und die treibende Kraft aller anderen Tugenden bildet. „Wir glauben an Gottes Wort, weil wir es lieben; wir erhoffen den Himmel, weil wir ihn lieben. Wir hätten weder Hoffnung darauf, noch Interesse daran, wenn wir ihn nicht liebten; wir würden auf den Gott des Himmels nicht vertrauen, noch uns auf ihn verlassen, wenn wir ihn nicht liebten“ (DP IV 344f.). Glaube und Hoffnung müssen also von der Liebe beseelt und durchdrungen sein, um vor Gott bestehen zu können. Das Leben aus dem Glauben ist im Alltag nicht immer leicht. Manchmal fordert es den Mut, gegen den Strom zu schwimmen. Immer fordert es Mühe und Anstrengung. Manche Christen jedoch verspüren eine Abneigung gegenüber allem, was mit Opfer, Selbstverleugnung und Pflicht verbunden ist. Auf die Frage, warum dies manchmal so ist, gibt Newman die einfache, aber klare Antwort: „Offensichtlich, weil es uns an Liebe gebricht“ (DP V 377).

Schließlich führt die Liebe zum Ziel unserer irdischen Pilgerschaft. Newman verkündet, „dass der Glaube uns gerade über die Welt erheben kann, die Liebe jedoch bis an den Thron Gottes hinführt; dass der Glaube uns nur hellsichtig, die Liebe jedoch glückselig machen kann“ (DP IV 353). Echte Liebe macht eins _ vollkommen im Himmel und anfanghaft schon hier auf Erden. „Es ist die Liebe, in der der Vater und der Sohn in der Einheit des Heiligen Geistes eins sind; durch die die Engel im Himmel eins sind, durch die alle Heiligen mit Gott eins sind, durch die die Kirche eins ist auf Erden“ (DP IV 355).

Liebe zum Nächsten

Kardinal Newman hatte eine Abneigung gegenüber einem Verständnis von Liebe, das im Theoretischen und Allgemeinen verbleibt und die Bedeutung der Stimmungen und Gefühle überbetont. In seiner Ansprache Verwandten_ und Freundesliebe (1831) wendet er sich gegen jene, die viel von Liebe reden, aber die alltäglichen Pflichten gegenüber dem Nächsten vernachlässigen. Er nennt es eine „Torheit“, wenn manche „in großsprecherischer Art ihre allumfassende Liebe zum ganzen Menschengeschlecht anpreisen und sich als Freunde der gesamten Menschheit und dergleichen ausgeben. Wo laufen solche prahlende Bekenntnisse hinaus? Dass solche Menschen gewisse wohlwollende Gefühle gegen die Welt hegen _Gefühle und nichts mehr _; nichts mehr als unbeständige Gefühle, die bloße Ausgeburt einer ungezügelten Einbildung, die nur vorhanden sind, wenn das Gemüt beeindruckt ist, in der Stunde der Not aber sicher ausbleiben. Das heißt nicht, die Menschen lieben, sondern nur in Worten sich über Liebe ergehen“ (DP II 66).

Echte Liebe zu den Menschen zeichnet sich dadurch aus, dass sie konkrete Taten setzt und beim Nächsten beginnt, bei dem, dessen Stärken und Schwachen, dessen Vorzüge und Eigenheiten nur zu gut bekannt sind. „Die wirkliche Menschenliebe muss aus der praktischen Übung erwachsen und muss daher mit dem Werke an unseren nächsten Freunden beginnen, sonst hat sie keinen Bestand. Das Bestreben, unsere Verwandten und Freunde zu lieben, die Geneigtheit gegenüber ihren Wünschen, auch wenn sie den unsrigen widerstreben, die Geduld mit ihren Schwächen, die Überwindung ihres gelegentlichen Wankelmutes durch freundliches Wesen, die Freude an ihren Vorzügen und der Versuch, sie nachzuahmen, das sind die Dinge, mit denen wir die Liebe gleich einer Wurzel in unsere Herzen einsenken, die, zwar klein am Anfang, doch zuletzt wie das Senfkorn sogar die Erde überschatten kann“ (DP II 66f.).

Newman ist der Überzeugung, dass „die Pflege der häuslichen Liebe“, also der Liebe zu Angehörigen, Freunden und Verwandten, „die Quelle der ausgedehnteren christlichen Liebe“ (DP II 69) ist. Sie ist nämlich eine Schule der Selbstverleugnung. Die Einordnung in eine konkrete Gemeinschaft und das Zusammenleben mit anderen Menschen fordert konkrete Akte der Selbstverleugnung. Solche Akte machen die Liebe stark und beständig.

Als Beispiel gereifter Nächstenliebe verweist Newman auf den Apostel Johannes, der wie kein anderer die Liebe zum Mittelpunkt seines Lebens und Wirkens gemacht hat. „Begann er nun unter ungeheurer Mühe in großem Maßstab zu lieben? Nein, sondern er hatte das unaussprechliche Vorrecht, der Freund Christi zu sein. Dies war seine Schule der Nächstenliebe; zuerst sammelte sich seine Liebe in einem Brennpunkt, dann sandte sie ihre Strahlen aus. Zunächst hatte er die hohe und trostreiche Aufgabe, nach dem Hingang unseres Herrn für seine Mutter, die allerseligste Jungfrau, zu sorgen. Entdecken wir nicht hier die geheimen Quellen seiner besonderen Bruderliebe? Konnte er, dem der Heiland zuerst seine Liebe zugewandt und dem er dann die Stellung eines Sohnes zu seiner Mutter anvertraut hatte, etwas anderes sein als das lebendige Denkmal und das Musterbild (soweit ein Mensch es sein kann) einer tiefen, beschaulichen, stillruhenden und grenzenlosen Liebe?“ (DP II 67f.).

Newman wandte sich häufig gegen religiöse Strömungen, die den Gefühlen eine zu große Rolle beimaßen. Das bedeutet aber nicht, dass er eine gefühllose Liebe pflegte und verkündete. Im Gegenteil, in seiner Predigt Mitgefühl, die Gabe des heiligen Paulus (1857) legt er dar, wie der Völkerapostel von einer herzlichen und mitfühlenden Liebe zu den Menschen erfüllt war und gerade dadurch ihre Herzen erobern konnte. Durch die Gnade wurde in ihm das menschliche Element nicht verdrängt, sondern geheiligt, veredelt und vollendet.

Paulus ist Vorbild in der Verwirklichung der Nächstenliebe, die zugleich göttlich und menschlich ist. Er, der innig mit Christus verbunden lebte, war auch von einer tiefen menschlichen Liebe zu seinen Freunden und Mitarbeitern erfüllt. Er sehnte sich danach, sie zu sehen, er litt mit ihnen, er empfand Schmerz über die Untreue mancher von ihnen. Er besaß ein feines Einfühlungsvermögen und zeichnete sich durch Herzlichkeit im Umgang aus. „Mit einem Wort: er, der besondere Künder der göttlichen Gnade, ist auch der besondere Freund und Vertraute der menschlichen Natur. Er, der uns das Geheimnis der höchsten göttlichen Ratschlüsse enthüllt, bekundet zu gleicher Zeit das zarteste Interesse an der Seele des einzelnen Menschen“ (DP X 140).

In einem Brief an seinen anglikanischen Freund John Keble schreibt Newman: „Die erste Pflicht der Nächstenliebe besteht darin, zu versuchen, in den Geist und die Gefühle der anderen einzutreten“[2]. Dies ist freilich nur möglich, wenn Ehrfurcht und Achtung den Umgang mit den anderen beseelen. „Niemand liebt wirklich einen anderen, der nicht eine gewisse Ehrfurcht vor ihm fühlt. Wenn Freunde diese Beherrschtheit ihrer Zuneigung überschreiten, können sie zwar fortfahren, eine Zeitlang Kameraden zu sein, aber sie haben das einigende Band zerrissen. Es ist die gegenseitige Achtung, welche die Freundschaft dauerhaft macht“ (DP I 340).

Liebe und Wahrheit

Newman deckte in seinen Predigten auch die Entstellung des Begriffs der Liebe durch den religiösen Liberalismus auf. Kennzeichnend dafür ist zum Beispiel seine Predigt Toleranz gegen religiösen Irrtum (1834). Darin geht er von der allgemeinen Feststellung aus, dass wir, wenn wir nicht Gott, sondern uns selbst in den Mittelpunkt stellen, leicht zu einseitigen Haltungen neigen. „Mögen wir noch so himmlisch gesinnt sein, noch so liebevoll, noch so heilig, noch so eifrig, noch so tatkräftig, noch so friedlich, wenn wir jedoch für einen Augenblick von ihm weg und auf uns selbst schauen, dann verfallen alsbald diese hervorragenden Eigenschaften in irgendein Zuviel oder Zuwenig. Liebe wird zu übergroßer Nachgiebigkeit, Frömmigkeit wird mit geistigem Stolz befleckt, Eifer artet in Ungestüm aus, Aktivitat verschlingt den Gebetsgeist, Hoffnung versteigt sich zur Vermessenheit“ (DP II 308).

Newman ist der Auffassung, dass es verhältnismäßig leicht ist, einzelne Tugenden zu pflegen, vor allem dann, wenn sie im Trend der Zeit liegen. Eine solche leicht zu übende Tugend ist etwa die Freigebigkeit. Viele halten diese an sich edle Tugend hoch. Sie vernachlässigen aber manchmal die damit komplementäre Tugend, die Festigkeit in den Prinzipien und die Treue zur Wahrheit. So neigen sie dazu, nicht nur den Irrenden, sondern auch den Irrtum zu tolerieren. Im Apostel Johannes sind Liebe zu den Menschen und Eifer für die Wahrheit in beispielhafter Weise miteinander verbunden. Darum stellt ihn Newman den Christen als Vorbild vor Augen. „So wenig widersprechen seine Liebesglut und Liebesfülle seinem Eifer für Gott, dass er …, je mehr er die Menschen liebte, um so mehr ihnen die großen, unveränderlichen Wahrheiten kundzumachen wünschte, denen sie sich unterwerfen müssen, wenn sie das Leben sehen möchten, und vor denen eine schwache Nachgiebigkeit sie ihre Augen schließen lässt. Er liebte die Brüder, aber er ‚liebte sie in der Wahrheit‘ (3 Joh 1). Er liebte sie um der lebendigen Wahrheit willen, die sie erlöst hatte, um der Wahrheit willen, die in ihnen war, um der Wahrheit willen, die das Maß für ihre übernatürliche Belohnung war. Er liebte die Kirche so aufrichtig, dass er gegen jene streng war, die sie beunruhigten. Er liebte die Welt so weise, dass er die Wahrheit in ihr verkündigte. Wenn jedoch die Menschen sie verwarfen, dann liebte er sie nicht so ungeordnet, dass er den Vorrang der Wahrheit als des Wortes dessen, der über allem ist, vergaß“ (DP II 315f.).

Realistisch sah Newman, dass es zu seiner Zeit viele gab, die Johannes in seiner Güte und Freundlichkeit folgten, aber nur wenige, die seinen Glaubenseifer in sich trugen. Er klagte, dass diese Christen Gott nur als einen „Gott der Liebe“, nicht aber zugleich als ein „verzehrendes Feuer“ (Hebr 12,29) anerkennen. Darum ist es nicht außergewöhnlich, „dass sie ihre Lenden entgürten und verweichlicht werden. Kein Wunder, dass ihre ideale Vorstellung von einer vollkommenen Kirche eine Kirche ist, die jeden seinen Weg gehen lässt und auf jedes Recht verzichtet, eine Ansicht zu äußern, erst recht einen Urteilsspruch über religiösen Irrtum zu verhängen“ (DP II 319).

Diese vom religiösen Liberalismus geprägte Auffassung der Liebe, die nicht nur zur Zeit Newmans, sondern auch heute verbreitet ist, kann nach Newman nicht mit der Heilsgeschichte vereinbart werden. Sie widerspricht der Liebe, mit der Gott die Menschen liebt; sie widerspricht der Liebe, mit der die Menschen auf Gottes Liebe zu antworten berufen sind. Newman ruft seine Zuhörer auf: „Hier nun liegt unsere Not heutzutage, darum müssen wir beten, dass eine Erneuerung kommen möge in dem Geist und in der Kraft des Elias. Wir müssen Gott bitten, Er möge so ’sein Werk im Lauf der Jahre erneuern‘ (Hab 3,2); uns eine strenge Zucht senden, die Losung des heiligen Paulus und des heiligen Johannes, nämlich ‚die Wahrheit in Liebe zu künden‘ (Eph 4,15) und ‚zu lieben in der Wahrheit‘ (2 Joh 1; 3 Joh 1)… Dann nur sind die Christen erfolgreich im Kampf, wenn sie … inmitten von Festigkeit, Strenge und Heiligkeit Liebe üben“ (DP II 319f.).

Liebe und Gnade

Alles oberflächliche und einseitige Reden von der Liebe war Newman zuwider. Er verwies oft darauf, dass nur jene in die echte Gottes_ und Nächstenliebe hineinreifen, die konkrete Tugendakte setzen und die große Gabe der Liebe in Demut von Gott erflehen. Denn nur die Gnade, die in der Taufe bereits anfanghaft geschenkt ist, macht fähig zur Liebe.

Darum betet Newman: „Mein Gott, du weißt unendlich besser als ich, wie klein meine Liebe ist. Ich kann dich überhaupt nicht lieben, außer mit deiner Gnade. Deine Gnade hat die Augen meines Geistes aufgetan und sie befähigt, deine Herrlichkeit zu schauen. Deine Gnade hat mein Herz berührt und es für die Einwirkung dessen, was so wunderbar schön und erhaben ist, bereitet. Wie könnte ich dich nicht lieben, o mein Gott, es sei denn, dass eine schreckliche Verkehrtheit mich hindert, dich zu sehen? Was ist mir so nahe wie du, mein Gott? Und doch stören die Dinge und Freuden dieser Erde deinen Anblick, wenn deine Gnade nicht hilft. Behüte du meine Augen und Ohren und mein Herz vor dieser unwürdigen Tyrannei! Löse die Bande, wecke auf mein Herz! Halte mein ganzes Sein fest in dir! Lass mich dein Angesicht nie aus den Augen verlieren! Und während mein Blick in dir ruht, lass meine Liebe zu dir wachsen, täglich mehr!“[3].


[1] Pfarr- und Volkspredigten (= DP I-VIII), Predigten zu verschiedenen Anlässen (= DP X), Stuttgart 1948-1964.

[2] Vgl. The Letters and Diaries of John Henry Newman, herausgegeben von Charles Stephen Dessain u.a., Band 22, London 1972, 69.

[3] John Henry Newman. Gott – das Licht des Lebens. Gebete und Meditationen, herausgegeben von Günter Biemer und James Derek Holmes, Mainz 1987, 136f.